R. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs

Titel
Böttiger und der archäologische Diskurs. Mit einem Anhang der Schriften "Goethe's Tod" und "Nach Goethe's Tod" von Karl August Böttiger


Autor(en)
Sternke, René
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
598 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frieder Sondermann, Tohoku Gakuin Universitaet

Innerhalb weniger Jahre sind verschiedene Publikationen zu Carl August Böttiger erschienen, die alle dazu beitragen können, das Interesse an diesem sicher hochgebildeten und einflussreichen Gelehrten und Journalisten anzufachen. Zu verweisen ist – nach der zu einem Verkaufsschlager gewordenen Neuausgabe von Böttigers Weimar-Aufzeichnungen durch Gerlach und Sternke vor 10 Jahren – auf die Ausgaben des Briefwechsel von Böttiger mit Duvau1 und mit Millin2, sowie die Biographie über den "Weltmann und Gelehrten" Böttiger3 und in diesem Jahr nun das zu besprechende Werk von Sternke über den Altertumsforscher Böttiger.

Schon der Titel gibt an, dass es sich um eine Spezialstudie handelt, erwachsen aus Sternkes Dissertation (2006), die aber nicht bei der Sekundärliteratur angegeben wird. Wer beim Stichwort Archäologie an Ausgräber unter sengender Sonne auf der Suche nach Palästen und Schätzen denkt, wird schnell eines Besseren belehrt. Böttiger war ein Stubengelehrter, sein Werkzeug war die Schreibfeder, nicht der Spaten. Und diese gebrauchte er schneller und geschickter als viele seiner Zeitgenossen. Sternke zeigt in seiner fast 600seitigen Studie, wie Böttiger seine Präsenz als Experte auf diesem Gebiet zwar stetig ausbaute, aber bereits vor seinem Tod erkennen musste, dass man ihm eine Position als Leitfigur nicht zuerkennen wollte. Als sein Schüler Karl Julius Sillig in den Jahren 1837/1838 "C.A. Böttiger's kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts" in drei Bänden gesammelt veröffentlichte, hatte der universell gebildete Verfasser als Vertreter einer älteren Schule bereits jüngeren Fachgelehrten Platz machen müssen. Seine lebenslang sorgfältig archivierte Korrespondenz mit prominenten Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik ist als Zeitkapsel das wohl gewichtigere Erbe an spätere Generationen geworden.

Frau Schmidt-Funke hat dem Aspekt "Archäologie zwischen Popularisierung und Akademisierung" das vierte Kapitel ihres Buches gewidmet und auf fast 40 Seiten wesentliche Punkte zusammengestellt. Schon ihre Zwischenüberschriften zeigen, dass die Antikenrezeption, zwischen kritikloser Nostalgie und distanzierter Analyse angesiedelt, auch in ihrer kommerziellen Vermarktung und Politisierung (Philhellenismus) beispielhaft an Böttiger studiert werden kann.

Als Leser ist man daher gespannt zu erfahren, worin der Mehrwert von Sternkes Arbeit besteht. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, dass mit Michel Foucaults "Diskurs"-Analyse ein spezielles Instrumentarium zur Erfassung der Stoffmenge gewählt wird, das sich dem Nichtfachmann nicht leicht erschließt. Denn dass die chronologische Beschreibung der Entwicklung Böttigers vom Griechisch- und Lateinlehrer zum Multitalent der Vermittlung antiken Wissens an eine breite Öffentlichkeit bereits an der Masse des zu bearbeitenden Materials scheitern oder sich in bloßer Beschreibung erschöpfen kann, ist leicht einsehbar. Also geht Sternke anders vor. Zunächst stellt er in seinem ersten Abschnitt klar, was damals überhaupt als Objekt einer sich erst langsam entwickelnden Fachdisziplin "Altertumswissenschaft/Kunstgeschichte" angesehen wurde, und welche Teilbereiche sie umfasste. Für die Veranschaulichung seiner Methode stützt er sich im Wesentlichen auf die Korrespondenz zwischen dem altgedienten Böttiger und dem 30 Jahre jüngeren französischen Wissenschaftler Désiré Raoul-Rochette, die er vollständig erfasst und weitgehend eingearbeitet hat. Dass es durchaus andere Kandidaten für die Untersuchung dieses Diskurses gäbe, zeigt die lange Namensliste weiterer archäologisch versierter Briefpartner Böttigers (S. 343f., 355).
Auf S. 105 beginnt der zweite Abschnitt, in dem es um die Entwicklung Böttigers zum Fachmann geht. Den Schwerpunkt der hierfür ausgewerteten Quellen bildet – neben flankierenden zeitgenössischen Zeugnissen – die Korrespondenz Böttigers mit dem Meister der deutschen Altphilologie, Christian Gottlob Heyne in Göttingen. In diesem Fall ist Böttiger der gelehrige Schüler und spielt diese sentimentale Rolle geschickt. Hier ist die Nähe zu Schmidt-Funkes Vorgehensweise noch erkennbar, was die Auswahl der Teilthemen, nicht jedoch die Auseinandersetzung damit betrifft.

Spätestens wenn dann im dritten Abschnitt "Diskursstrategien am Beispiel der Produktion und Distribution ausgewählter archäologischer Werke von Böttiger und Raoul-Rochette" mittels Begriffe wie "Rarifizierung des Objekts des archäologischen Diskurses" oder "Rarifizierung des Signifikats durch Proliferation des Signifikanten" und "Rarifizierung des Subjekts" anhand von drei Publikationen der Briefpartner vorgestellt werden, ist klar, dass dies Buch nicht für die Hände eines normalen Museumsbesucher gedacht ist (Sternke selbst spricht einmal von "Spinnfüßelei", S. 74).

Sternkes Ausführungen zum sich entwickelten Heroenkult um Goethe (S. 490-514), dessen Haus und Nachlass als Museum und Tempel - nicht zuletzt durch Böttigers aktive Mitarbeit - Quelle der nationalen Identifikation für das klassische Deutschland wurden, sind neben der sorgfältigen und ausgewogenen Interpretation von Ludwig Tiecks Novelle "Die Vogelscheuche" (S. 447-490), in der Böttigers antiquarisches Wirken verspottet wurde, die Glanzlichter seiner Arbeit.

Der abschließende, kaum vierseitige "Rückblick und Ausblick" ist keine Zusammenfassung des Vorherigen in Hinsicht auf Böttigers Werdegang und Bedeutung, sondern Sternkes kämpferische Elegie für eine aufklärerische (Geistes-) Wissenschaft in stets bedrängten Zeiten.

Die als Anhang gebotenen Nachdrucke von Böttigers Nekrologen anlässlich Goethes Tod aus der "Allgemeinen Zeitung" vom Jahr 1832 lassen sich dann als Beispiele für die diskursanalytische Sehweise Sternkes in neuem Licht lesen.

'Nur' sechs Institutionen werden aufgelistet, deren Manuskriptbestände Sternke ausgewertet hat. Doch dem Kenner ist sofort bewusst, welch enorme Leistung hinter ihrer Erschließung steckt, auch wenn die Liste von 84 in den Jahren 1824 bis 1835 zwischen Böttiger und Raoul-Rochette gewechselten Briefen das nicht so deutlich zum Ausdruck bringt. Sowohl das 24-seitige Verzeichnis der Primärliteratur wie auch die knapp 10-seitige Liste der zitierten Sekundärliteratur (bei Schmidt-Funke ist das Verhältnis etwa umgekehrt) attestieren ebenso Sternkes Quellennähe wie die Anzahl von weit über 2500 Fußnoten.

Soweit, so gut. Doch gibt es auch einige Monita.
1. Bei der Vielzahl von zitierten Handschriften sollte es selbstverständlich sein, auch die elementaren Editionsprinzipien anzugeben. Was in den Briefen (zum Teil nachträglich!) unterstrichen, abgekürzt oder als Eigenname bzw. fremdsprachiges Zitat in lateinischen (also nicht deutschen) Buchstaben geschrieben ist, wird bei Sternke folgerichtig jeweils anders wiedergegeben. Doch auch der Blick in die Duvau-Edition (2004) hilft bei der Suche nach den Transkriptionsregeln nicht weiter. Beim Vergleich mit den handschriftlichen Vorlagen zeigt sich zudem, dass nicht immer konsequent verfahren wird (Beispiel: S. 120 "vulgo sic appellant" ist mit lateinischen Buchstaben geschrieben). Den eckigen Klammern für die Markierung seiner Texteingriffe und -ergänzungen ist Sternke abhold. Bei Orthographiefehlern in Zitaten - zumal bei französischen Akzenten, die stillschweigend hätten standardisiert werden können - ist man nicht sicher, ob der Briefschreiber oder der Editor dafür verantwortlich ist (S. 7, 38 "Man", S. 30, 199 "thétis" und "célébre"; S. 58, 352 "ie"; S. 241, 690 "zulesen"; S. 326, 290 "Stilschweigen", direkt darunter "geduckten" und 3 Zeilen tiefer "Daß"; S. 365, 447 "heftiste"; S. 370, 468 [Akzente] und S. 470 "elle se soutiennent"; S. 380, 516 "wengisten"; S. 387, 546 "through wich"; S. 393, 579 Vater alle[r]“; S. 514, 375 "Famlie". Auch lassen sich einige Eigenheiten im Ausdruck finden: S. 6 "1829!"; S. 8, 34 "Mondanität"; S. 39 "obgleich ... wissen lassen hatte"; S. 68 "Sammlungen ... konstituieren"; S. 73 "fokalisiert"; S. 75 "Versuchsperson"?; S. 338 abzielen [auf] den Verkauf; S. 390 "Epigraph" ist wohl "Epigraphiker"; S. 393 "neuherausgegeben"; S. 403 "eineindeutig". Eindeutige Druckfehler sind etwa die Auslassung "[in] zwanzig Briefen" (S. 376, 500) oder unterbliebene Streichung von "mit" in "die mit Ausdehnung" (S. 389).

In der Bibliographie ist bei Georg Reichard der Mitwirkende Joachim Krause zu "Kraus" (S. 582) verkürzt, die Trennung "Architekturs-tudien" (S. 584 bei Westfehling 1894) gilt selbst nach der Reform noch nicht. Bei Winkelmann 1870 (S. 574) wäre ein Hinweis auf die Erstausgabe hilfreich.

2. Die Zitierweise zum Briefwechsel Böttiger-Raoul-Rochette hätte differenziert werden können, damit gleich aus der Fußnote klar wird, wer der jeweilige Schreiber ist (z.B. S. 7, 29), ohne erst im Briefverzeichnis hinten nachsuchen zu müssen. Ein Verzeichnis aller zwischen Böttiger und Heyne gewechselter Briefe wäre aufschlussreich gewesen, zumal es auf wenigen Seiten Platz gefunden hätte.

3. Was Böttiger bei Raoul-Rochette anmahnte (S. 372f.), nämlich ein inhaltsbezogenes Verzeichnis zur leichteren Handhabung, kann auch von Sternke gefordert werden: zu den ohnehin biographisch faktenarmen Personenhinweisen (etwa zu Peiresc und Bellermann) hätte ein Sachregister gute Dienste geleistet. Vorab laufen Verweise (wie S. 37, 235, 236) nur über das Personenregister zur mühsamen Auffindung weiterer Belegstellen in der Korrespondenz. Auch dem "mehr als 80-seitigen Personen- und Werkregister" (S. XIV) werden in einer vollständigen Edition dieses Gelehrtenbriefwechsels Ergänzungen anzufügen sein. Auf die Auseinandersetzung Böttigers mit Millins Auffassungen "soll an anderer Stelle eingegangen werden" (S. 29): Wo bitte?

4. Dem ansonsten solide ausgestatteten Buch hätte es gut zu Gesichte gestanden, wenn wenigstens ein paar zentrale Briefe vollständig – und vielleicht sogar mit Abbildung des Originals – wiedergegeben worden wären. Die Fragmentierung der Zitate (Vivisektion) lässt den auch für die rhetorische Analyse des Briefstils der Schreiber wichtigen Argumentationszusammenhang kaum ahnen. Wo es um die Bewertung der Homosexualität Johannes von Müllers geht, zitiert Sternke z.B. einen Brief Böttigers in folgenden Teilen:
2. Kapitel ab S. 185: S. 413, 423, 433, 417, 424, ohne den Mittelteil, dann S. 415. Auch der "Journalcaucasus", an den er geschmiedet sei (so Böttiger im Brief Nr. 57 an Heyne, vgl. S. 110, 119) hätte zitiert werden können, um Böttigers Verzicht auf eine eigene Martial-Ausgabe verständlicher zu machen, impliziert dieser Vergleich doch eine Selbsteinschätzung als feuerbringenden Prometheus. Nur in wenigen Briefen Böttigers an Heyne habe ich Lesefehler (oder abweichende Lesarten) Sternkes finden können.

5. Die Buchbindung der Originale erlaubt nur bei Autopsie die korrekte Lesung (oder Ergänzung) der inneren Briefränder – ein Manko, das nicht nur Herrn Maurach frustrierte. Seit Jahren zirkulierten seine Abschriften von Böttigers Briefen an Heyne in deutschen Germanistenkreisen, in der Hoffnung auf eine einsichtige Edition durch junge Wissenschaftler vor Ort. Dass die lobenswerte Reihe der "Ausgewählten Briefwechsel aus dem Nachlass von Karl August Böttiger" in absehbarer Zukunft durch den sorgfältiger kommentierten Abdruck dieser beiden Korrespondenzen Abhilfe schafft, wird S. 3 und S. 6 nur vage in Aussicht gestellt. Dann könnte man vielleicht auch erfahren, wie und wann Böttigers Briefe an Heyne wieder in den Besitz des Schreibers kamen, der nachträglich (z.B. bei der Datierung seines Briefes Nr. 120) manches geändert haben kann.

6. Ein frommer Wunsch bleibt wohl die Hoffnung auf eine Digitalisierung des Auktionskatalogs von Böttigers Büchern nach seinem Tod. Seine Sammelwut bezog sich nicht nur auf Bücher, sondern auch auf antike Artefakte. Es wäre interessant zu erfahren, was er im Laufe seines Lebens alles erworben hat. Denn wenn man bedenkt, dass er nie an die transalpinen Originalschauplätze der hochgeschätzten Klassik fahren, ja selbst Kunstsammlungen in London, Paris oder St. Petersburg nie in Augenschein nehmen konnte, wird seine Skepsis gegenüber den sehr subjektiven Abbildungen durch Künstler wie Tischbein noch verständlicher. Am Beispiel der Münzpasten Mionnets ließe sich zeigen, dass Böttiger auch eine Ent-Rarifizierung der Kunstobjekte fördern wollte, worauf Walter Benjamins Artikel "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935-36) unter kunstsoziologischem Aspekt einging.

7. Sternke enthält uns den aktuellen Erkenntnisstand zu damals umstrittenen archäologischen Fragen vor (Tafelbilder, Ursprung der etrurischen Kunst, etc.), was bei einem Nicht-Kunsthistoriker zwar verständlich, aber doch von allgemeinbildendem Interesse ist (S. 403f., 444). Im Zusammenhang mit der Restaurierung der herkulanensischen Papyrusrollen (Schnittstelle Text-/Kunstobjekt) könnte man auch Böttigers Kontakte mit Friedrich Sickler einbeziehen, wie es Gerhard Steiner in seiner Studie über diese "Sphinx zu Hildburghausen" getan hat.4

8. Die Mytheninterpretation ist im 20. Jahrhundert durch die Psychoanalyse wesentlich erweitert worden. Böttiger hatte als aufgeklärter Protestant im katholischen Dresden sicher Probleme, seine Ansichten zu propagieren. Dass der Christianer Böttiger sich mit seinen rational argumentierenden Kunsterläuterungen (z.B. Vergleich des Isis- mit dem Marienkult) auch in Konkurrenz zu romantisch-naturphilosphischen Wissenschaftsvertretern eines Mystizismus sah, hätte vielleicht durch vollständigere Briefzitate (etwa S. 221, 594) noch deutlicher gemacht werden können. Die Spekulation, dass Böttiger auch aus freimaurerischem Interesse sich mit antiken und nahöstlichen Kulten beschäftigte (dazu gehört auch der Mithraskult), wäre vielleicht nicht so abwegig.

9. Böttigers eigene griechisch-lateinische Dichtungen im Geiste der antiken Klassik, die er z.B. Heyne stets zukommen ließ, hätte Sternke auch einbeziehen können.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sternke zu Recht die eminente Bedeutung Böttigers für die Herausbildung einer verwissenschaftlichten Archäologie herausgestrichen hat. Gerade Sternkes umfangreiche Dokumentation mit brieflichen Zeugnissen aus dem Nachlass Böttigers erhellt aufs Neue, wie viel wir aus dessen sorgfältiger Edition noch an Erkenntnissen gewinnen können. Harren wir also geduldig der Publikation weiterer Briefwechsel, die da kommen sollen.

Anmerkungen:
1 Gerlach, Klaus; Sternke, René (Hrsg.), Karl August Böttigers Briefwechsel mit Auguste Duvau, Berlin 2004.
2 Savoy, Bénédicte; Espagne, Geneviève (Hrsg.), Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Magasin encyclopédique, lettres à Karl August Böttiger, Hildesheim 2005.
3 Schmidt-Funke,Julia A., Karl August Böttiger (1760-1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006.
4 Steiner, Gerhard, Die Sphinx zu Hildburghausen, Friedrich Sickler. Ein schöpferischer Geist der Goethezeit, Weimar 1985.

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