M. Deutz-Schroeder u.a.: Soziales Paradies oder Stasi-Staat?

Cover
Titel
Soziales Paradies oder Stasi-Staat?. Das DDR-Bild von Schülern - ein Ost-West-Vergleich


Autor(en)
Deutz-Schroeder, Monika; Schroeder, Klaus
Reihe
Berlin & München. Studien zu Politik und Geschichte 6
Erschienen
Stamsried 2008: Verlag Ernst Vögel
Anzahl Seiten
759 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Pampel, Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden

Zwischen Herbst 2005 und Frühjahr 2007 haben Monika Deutz-Schroeder und Klaus Schroeder in Bayern, Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen 5.219 Schüler per Fragebogen sowie in Einzel- und Gruppengesprächen über die DDR befragt. In ihrem Buch dokumentieren sie die Ergebnisse der vom Forschungsverbund SED-Staat sowie den Landeszentralen für politische Bildung in Bayern und Nordrhein-Westfalen finanzierten Studie. Hatte schon die sukzessive Veröffentlichung der Länderstudien seit November 2007 Beachtung gefunden, so erregte die im Juli 2008 vorgelegte umfangreiche Publikation erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit.

Das Forschungsprojekt zielte auf Erkenntnisse über die politische Bewertung der DDR durch Schüler einerseits und über ihr Faktenwissen zur DDR andererseits. Hat sich das Geschichtsbild bei Jugendlichen in Ost und West inzwischen angeglichen? Von welchen Faktoren wird es beeinflusst? Inwieweit hat insbesondere der Wissensstand Auswirkungen auf die Bewertung der DDR? Die Untersuchungsergebnisse sollten zugleich in die allgemeinen Auseinandersetzungen um das Bild der DDR in Wissenschaft, Politik und Medien eingeordnet werden, um zu ermitteln, worauf sich das Urteil der Schüler gründet und welche Bedeutung dem Schulunterricht zukommt. Dabei geht die Studie von der (allerdings nicht explizierten) These aus, dass die SED-Diktatur „weichzeichnende“ Diskurse im Elternhaus und in der Wissenschaft, DDR-nostalgische ostdeutsche Lehrer sowie verharmlosende Darstellungen in den Medien, Schulbüchern und Lehrplänen für ein unkritisches DDR-Bild der Jugendlichen verantwortlich seien.

Vor der Präsentation der eigentlichen Befragungsergebnisse werden daher zunächst auf etwa 100 Seiten das gesellschaftliche Meinungsklima zur DDR, die wissenschaftliche Diskussion um die DDR-Geschichte und der schulische Kontext beleuchtet. Die vorgestellten Meinungsumfragen zum DDR-Bild in der deutschen Bevölkerung zeigen, dass viele Ostdeutsche die DDR zunehmend verklären. Nicht zuletzt hätten wissenschaftliche Debatten um „Bindungskräfte“ der SED-Diktatur und Bestrebungen, die Alltagsforschung stärker in den Vordergrund zu rücken, dieser Entwicklung Vorschub geleistet, meinen die Autoren. Im Anschluss an frühere Untersuchungen zur Behandlung der DDR in Lehrplänen und Schulbüchern1 sowie anhand weniger Einzelbeispiele weisen Monika Deutz-Schroeder und Klaus Schroeder auf Defizite in der schulischen Behandlung der Thematik hin, zum Beispiel auf eine unzureichende Charakterisierung des SED-Staates als Diktatur.

Anschließend werden die Ergebnisse der empirischen Studie vorgestellt – geordnet sowohl nach einzelnen Themenkomplexen als auch nach den einzelnen Ländern. Die Befragung wurde direkt in den Schulen mittels eines (im Anhang des Buchs abgedruckten) Fragebogens durchgeführt, der neben persönlichen Angaben aus drei Teilen bestand: einer vergleichenden Beurteilung von DDR und Bundesrepublik (vor 1989), einer Bewertung verschiedener Aspekte der DDR (Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Repression etc.) sowie der Abfrage von Kenntnissen über die DDR. Fast die Hälfte der befragten Schüler stammte aus Berlin; insgesamt zwei Drittel waren auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik geboren. 70 Prozent von ihnen besuchten ein Gymnasium und etwa 27 Prozent eine Gesamt- oder Realschule, und zwar in der 10. oder 11. Klasse. Es handelte sich nicht um eine statistisch repräsentative Stichprobe.

Die zentralen Ergebnisse und Thesen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens: Obgleich die DDR insgesamt von einer absoluten Mehrheit der befragten Schüler negativ bewertet wird, unterscheidet sich das DDR-Bild bei ost- und westdeutschen Schülern teilweise erheblich. Ostdeutsche Schüler bewerten die Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR positiver; gleichzeitig neigt etwa ein Viertel von ihnen zur Ausblendung repressiver Aspekte und zu einer Nivellierung der Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur. Zweitens: Das Faktenwissen über die DDR ist gering. So konnte nur jeder zweite Befragte das Jahr des Mauerbaus richtig benennen. Politiker aus beiden deutschen Staaten konnten nur von einer relativen Mehrheit korrekt eingeordnet werden. Drittens: Die Bewertung der DDR ist abhängig vom Kenntnisstand – wer viel weiß, sieht die DDR kritischer; wer wenig weiß, neigt zur Verklärung.

Neben Defiziten in Lehrplänen und Schulbüchern sowie die SED-Diktatur angeblich verharmlosenden wissenschaftlichen Diskursen werden vor allem Widerstände auf Seiten der ostdeutschen Lehrer für diese Ergebnisse verantwortlich gemacht. Auch Eltern und Großeltern, die den Kindern ihre nostalgische Sicht „aufzwingen“, würden sachliche Informationsversuche der Schule blockieren. Die Autoren empfehlen, der DDR-Geschichte einen größeren Stellenwert in den Lehrplänen einzuräumen und die DDR deutlicher als Diktatur zu charakterisieren. Außerdem schlagen sie vor, Gedenkstättenbesuche verbindlich zu machen und Opfer der SED-Diktatur oder Oppositionelle in die Schulen einzuladen. Die bevorstehenden 20. Jahrestage der friedlichen Revolution und der staatlichen Vereinigung sollten zur Aufklärung genutzt werden.

An der Interpretation und Einordnung der empirischen Ergebnisse sowie den Schlussfolgerungen gibt es einiges auszusetzen. So fehlt dem Buch jegliche Verbindung zum geschichtsdidaktischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs über Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur. Auch wird auf die in den letzten 60 Jahren zahlreich durchgeführten Untersuchungen zu Kenntnissen und Bewertungen des Nationalsozialismus bei Schülern und auf die entsprechende Unterrichtsforschung nicht Bezug genommen.2 Von einer 2005 durchgeführten Studie, die auf denselben Gegenstand zielte und im Wesentlichen bereits ähnliche Ergebnisse erbrachte, versuchen sich die Verfasser geradezu künstlich abzugrenzen.3

Aus methodischer Sicht erscheinen, wie bei derartigen Untersuchungen meistens, einzelne Item-Formulierungen unglücklich, was die Interpretation des Antwortverhaltens erschwert. Das Setting, die Methodik und die Auswahl der Teilnehmer an den ergänzend durchgeführten Einzel- und Gruppengesprächen bleiben weitgehend im Dunkeln. Hinsichtlich der Fragen zum Wissensstand erscheint zweifelhaft, ob tatsächlich vorhandene Kenntnisse gemessen worden sind. Die Schülerantworten dürften vielmehr oftmals emotionale Reaktionen darstellen und auf Vermutungen beruhen. Der ermittelte Wissensvorsprung der westdeutschen Schüler könnte dann auch darin begründet liegen, dass es ihnen aufgrund der Fragen, ihres geringeren Betroffen-Seins und des Kontextes der Untersuchung leichter fiel, das richtige Ergebnis zu erraten. Die ostdeutschen Schüler dagegen lagen, wenn sie wie die westdeutschen Schüler ihre Herkunftsregion favorisierten, einfach falsch.

Nicht zuletzt wegen dieser kaum möglichen Trennung von Wertung und Wissen ist auch die zentrale These, dass das Urteil von den Kenntnissen geprägt werde, mit Fragezeichen zu versehen. Wie die Autoren selbst einräumen, ist das Urteil der befragten Schüler oftmals „assoziativ“, das heißt nicht kognitiv bestimmt. Insofern scheint die teilweise positivere Bewertung der DDR durch die ostdeutschen Schüler weniger durch ihr vermeintlich geringeres Wissen begründet zu sein, sondern könnte auch mit Identitätskonflikten aufgrund ihrer ostdeutschen Herkunft erklärt werden. Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass es auch sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen ost- und westdeutschen Schülern gibt – zum Beispiel in der Ablehnung der Unterordnung als Individuum unter ein Kollektiv, in der Bewertung des Schießbefehls als Verbrechen oder in dem Bewusstsein mangelnder Meinungsfreiheit in der DDR.

Eine weitere Relativierung erfahren die öffentlich dramatisierten Ergebnisse, wenn man sie mit früheren und aktuellen Studien zum Schülerwissen über den Nationalsozialismus vergleicht.4 Selbst nach 60 Jahren öffentlicher Aufklärung werden ein simplifizierendes Verständnis vom Nationalsozialismus, erhebliche Wissenslücken (vor allem bei Jahreszahlen) und ein weit verbreitetes Gerede von den „guten und schlechten Seiten“ kritisiert. In diesen Studien ist wiederholt der begrenzte Einfluss des Geschichtsunterrichts auf Geschichtswissen und vor allem auf Geschichtsbilder von Schülern deutlich geworden, die bereits fest gefügte Prägungen aus dem Elternhaus und den Medien besitzen, bevor das Thema Nationalsozialismus in der Schule behandelt wird. Insofern ist die harsche Kritik der Autoren am Geschichtsunterricht zurückzuweisen. Überhaupt stellen die Verfasser Nuancierungen des Öfteren vorschnell unter Bagatellisierungsverdacht und pflegen eine Schwarz-Weiß-Sicht, wo Differenzierung angesagt wäre. Schon im Titel des Buches klingt dies an. Viele der genannten Defizite sind wahrscheinlich auch keine Probleme des Geschichtsunterrichts zur DDR, sondern des Geschichtsunterrichts und seiner oft schwierigen Rahmenbedingungen generell (zum Beispiel durch Kürzung von Stundenkontingenten).

Obgleich Monika Deutz-Schroeder und Klaus Schroeder an einer Stelle darauf hinweisen, dass Nostalgie in Gegenwartserfahrungen begründet liegt, wird diese Dimension als Ursache für die Defizite in der kritischen Bewertung der DDR nahezu vollkommen ausgeblendet. Die im Elternhaus tradierten oder selbst erlebten Erfahrungen sozialer Deklassierung und Demütigung nach 1989/90, die Wahrnehmung der „Mauer in den Köpfen“ und die eigenen Probleme in der Gegenwart (fehlende Ausbildungsperspektiven) werden nicht genügend berücksichtigt.

Die Ergebnisse des Buches können nur denjenigen überraschen, der sich vorher noch nicht mit Studien zur Tradierung von Geschichtsbewusstsein beschäftigt hat.5 Das ändert nichts an den festgestellten und teilweise zu Recht kritisierten Defiziten, die in Angriff genommen werden müssen. Mit kurzfristigen Erfolgen kann dabei freilich, so die ernüchternden Erfahrungen in der schulischen Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur, nicht gerechnet werden. Und auch die Erforschung der Determinanten jugendlichen Geschichtsbewusstseins bleibt eine herausfordernde Aufgabe.

Anmerkungen:
1 Vgl. besonders Arnswald, Ulrich, Zum Stellenwert der DDR-Geschichte in schulischen Lehrplänen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 54 (2004) H. 41-42, S. 28-35, sowie ders., Analyse von Geschichtsbüchern für allgemeinbildende Schulen zum Thema „DDR-Geschichte“, in: ders.; Bongertmann, Ulrich; Mählert, Ulrich (Hrsg.), DDR-Geschichte im Unterricht. Schulbuchanalyse – Schülerbefragung – Modellcurriculum, Berlin 2006, S. 15-103.
2 Vgl. Zülsdorf-Kersting, Meik, Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation, Münster 2007; Meseth, Wolfgang; Proske, Matthias; Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main 2004.
3 Vgl. Arnswald, Ulrich, Schülerbefragung 2005 zur DDR-Geschichte, in: ders.; Bongertmann; Mählert, DDR-Geschichte im Unterricht, S. 107-176.
4 Siehe zusammenfassend Zülsdorf-Kersting, Sechzig Jahre danach.
5 Siehe vor allem die Arbeiten der Projektgruppe um Harald Welzer.

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