J. Bähr u.a.: Der Flick-Konzern im Dritten Reich

Cover
Titel
Der Flick-Konzern im Dritten Reich. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz


Autor(en)
Bähr, Johannes; Drecoll, Axel; Gotto, Bernhard; Priemel, Kim Christian; Wixforth, Harald
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
1018 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Geschichtswissenschaft, Abt. VSWG, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Der Flick-Konzern, zweitgrößter Stahlproduzent der NS-Zeit, und sein Namensgeber stehen zur Zeit im Fokus der Forschung: Im letzten Jahr erschien mit der Dissertation von Kim Priemel, auch Mitautor der vorliegenden Studie, die erste wissenschaftlich fundierte Konzerngeschichte1, und in nicht allzu ferner Zukunft werden die Ergebnisse des Jenaer Flick-Projekts2 erwartet. Die nun vorliegende Analyse des Instituts für Zeitgeschichte konzentriert sich auf die Geschichte des Konzerns im „Dritten Reich“ und reiht sich in die Vielzahl neuerer, qualitativ hochwertiger Publikationen zur nationalsozialistischen Wirtschafts- bzw. Unternehmensgeschichte ein.3

Die fünf Autoren wählen eine multidimensionale Herangehensweise, die sich an den neueren Erkenntnissen der Zeit- und der Unternehmensgeschichte orientiert. Die Konzeption ist fraglos gelungen: Die Autoren ziehen beispielsweise neuere unternehmenshistorische Zugriffe heran, um ihren Untersuchungsgegenstand einzugrenzen und erkenntnisfördernde Fragen an Konzernaufbau und Unternehmensstrategie zu stellen. So werden – theoretisch knapp, aber präzise – etwa Corporate Governance, Netzwerkhandeln, Verfügungsrechte und Organisationslernen in den Blick genommen, um die Politik des Konzerns zu erklären. Gleichzeitig werden aber auch die Rahmensetzungen des Staates dargestellt, die sich besonders im Begriff der „Volksgemeinschaft“ sprachlich verdichteten.

Johannes Bähr verantwortet in erster Linie die (Teil-)Kapitel zu Unternehmensstrategie und betriebswirtschaftlicher Entwicklung (Kap. II, V und VI), Harald Wixforth die zur Expansion in den Osten (vor allem Kap. V). Bernhard Gotto fragt nach internen und externen Kommunikationssträngen (Kap. III und IV), Axel Decroll untersucht die Zwangsarbeit und analysiert den Prozess gegen leitende Manager des Konzerns 1947 (Kap. VI und VII) und Kim Priemel betrachtet Flicks „Geschichtspolitik“ nach 1945 (Kap. VIII). Der Band wird durch eine etwa zweihundertseitige Dokumentation exemplarischer Quellen zur Konzerngeschichte abgerundet. In Kapitel I zeichnen Bähr, Wixforth und Priemel die Entwicklung der Flick’schen Unternehmen bis 1933 nach und arbeiten insbesondere jene Handlungsmuster heraus, die auch die Konzernpolitik nach 1933 bestimmten.

Der Flick-Konzern war ein ebenso dynamisches wie atypisches Gebilde in der Montanindustrie, das in erster Linie durch Holdinggesellschaften – zunächst die Charlottenhütte AG, von 1933 bis 1937 die Siegener Eisenindustrie AG und seitdem die Friedrich Flick KG – ein verschachteltes Gefüge von Unternehmen steuerte, die vor allem in Mittel- und Süddeutschland ihren Sitz hatten und die Bereiche Kohle, Eisen, Stahl und Weiterverarbeitung abdeckten. Mit dem Wechsel der Rechtsform von der AG zur KG strebte Friedrich Flick den Aufbau eines Familienunternehmens an: Zum einen wollte er auf diese Weise seiner Familie dauerhaft die Verfügungsrechte am Konzern sichern, zum anderen brachte ihm dies Steuervorteile und darüber hinaus stilisierte er sich mit dem Wechsel zum Eigentümer-Unternehmer, dem präferierten Typus der Nationalsozialisten.

Die dezentrale Konzernstruktur führte zu einer vergleichsweise geringen Bindung der Einzelunternehmen an den Konzern, jedenfalls auf den ersten Blick. Flick fiel es relativ leicht, sich von Beteiligungen zu trennen, wenn er darin Vorteile erblickte. Gleichwohl wird das lange kolportierte Bild vom „Effektenhändler“ Flick revidiert, denn seine Transaktionen zielten schon zur Weimarer Zeit darauf, einen rohstofforientierten Montankonzern zu errichten, was ihm aber erst 1934 mit der Eingliederung des Steinkohleproduzenten Harpener Bergbau AG gelang. Die breite Rohstoffbasis im Inland (Erz, Stein- und Braunkohle) machte den Flick-Konzern im „Dritten Reich“ unabhängig von Importen, so dass er nachgerade ideal den Autarkiebestrebungen des NS-Staates zuarbeiten konnte. Ferner produzierte der Konzernverbund mehr Steinkohle als er selbst verbrauchte. Daraus ergab sich gegenüber den privatwirtschaftlichen Konkurrenten, vor allem an der Ruhr, ein Wettbewerbsvorteil; Flick, der schon häufig mit staatlichen Stellen kooperiert hatte (z.B. in der „Gelsenberg-Affäre“)4, wurde zum wichtigen Ansprechpartner für die neuen Machthaber. Umgekehrt eignete sich auch Flick die Vorstellungen des NS-Regimes an, wie insbesondere die zwei großen „Arisierungs“-Fälle des Hochofenwerks Lübeck und des Petschek-Konzerns (S. 307–378) verdeutlichen. Mitunter ließ Flick sich von Göring mit einer Verhandlungsvollmacht ausstatten, um diese Unternehmen zumindest zum Teil unter seine Verfügungsgewalt zu bringen. Exakt dieser vermeintliche staatliche "Auftrag" bewahrte Flick nach 1945 vor umfassenden Restitutionsansprüchen der ehemaligen Eigner, obwohl er eher Akteur denn Auftragnehmer dieser „Arisierung“ gewesen war.

Die Staatsnähe des Konzerns bedeutete indes nicht, dass er vollkommen autonom agieren konnte. Mit der Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten „Hermann Göring“ erwuchs der Privatwirtschaft seit 1937 ein Konkurrent, der als Staatsunternehmen die Handlungsfähigkeit des Flick-Konzerns erheblich einschränkte, wie besonders bei der Ostexpansion deutlich wird: Die profitabelsten Unternehmen wurden den Reichswerken zugeschlagen, während sich für dessen private Konkurrenten die Einbindung in die Annexionspolitik des NS-Regimes nicht unmittelbar rentierte. Dennoch ließen sich alle Eisen- und Stahlproduzenten – so auch Flick – auf ein Engagement in den besetzten Ost-Gebieten ein, um sich mit dem NS-Staat gut zu stellen und weiterhin Rüstungsaufträge zu erhalten. Im Ergebnis wird man jedoch sagen müssen, dass der Flick-Konzern von seiner Staatsnähe und der Adaption nationalsozialistischer Denk- und Handlungsmuster deutlich mehr profitierte als andere private Unternehmen. So verwundert es im Grunde kaum, dass die Beurteilung des Flick-Konzerns sowohl in der „Arisierungs“- als auch in der Zwangsarbeiter-Politik noch negativer ausfällt als bei anderen Unternehmen. Daher überrascht auch die Anklage führender Konzernmanager im Fall 5 der Nürnberger Nachfolgeprozesse 1947 nicht. Zwar waren die meisten Anklagepunkte nicht haltbar, jedoch reichten sie aus, Friedrich Flick zu sieben Jahren Haft zu verurteilen; 1950 wurde er per Gnadenakt jedoch vorzeitig entlassen.

Die symbolische Bedeutung Flicks resultierte zu einem Gutteil auch daher, dass es ihm gelungen war, einen riesigen Konzern aufzubauen und zu steuern, der bis zu 130.000 Arbeitskräfte (1943/44) beschäftigte. Im Grunde war die Konzernpolitik ausschließlich auf die Person Flick zugeschnitten, dem lediglich ein enger Mitarbeiterstab aus Kaufleuten zuarbeitete, deren Karriereverlauf demjenigen Flicks ähnelte. Nicht Funktionen, sondern persönliche Beziehungen, Loyalität und Vertrauen bestimmten die Leitungsstruktur des Konzerns, der mittels eines ausführlichen Berichtswesens den internen Informationsfluss sicherstellte.

Information ist der Schlüsselbegriff, um Flicks Erfolg zu erklären. Häufig war er Konkurrenten und Partnern einen Schritt voraus, weil er aufgrund eines ausgeklügelten, im „Dritten Reich“ immer stärker staatslastigen Netzwerks mehr oder bessere Informationen erhielt als seine Kontrahenten. Flick und seine Führungsgruppe um Konrad Kaletsch, Otto Steinbrinck, Odilo Burkardt und Bernhard Weiss beobachteten den Markt, hielten Kontakt mit wichtigen Stellen – dies schloss auch Korruption ein – und synthetisierten die Informationen so, dass sie daraus Handlungsstrategien für den Konzern ableiten konnten: Gerade weil sie früh über Vorhaben des NS-Regimes Bescheid wussten, konnten sie die Unternehmenspolitik darauf abstellen und wurden so gleichermaßen zum Antreiber wie zum Instrument der NS-Wirtschaftspolitik.

Die geschickte Nutzung von Netzwerkressourcen war jedoch kein Spezifikum der Konzernpolitik im „Dritten Reich“, sondern schon in den Jahren zuvor charakteristisch für Flick. Vor allem die Zusammenarbeit mit den Banken, deren Beitrag zur Industriefinanzierung im Nationalsozialismus zurückging, hatte Flicks Expansion ermöglicht. Gleichwohl scheint die Darstellung der Aufsichtsratsverflechtung der Konzernunternehmen mit den Banken ein wenig überzeichnet, wenn etwa die Zusammensetzung des Kontrollgremiums der Harpener Bergbau AG als Indiz für Flicks gezielte Zusammenarbeit mit einzelnen Instituten gesehen wird; jedenfalls erweckt die Darstellung (S. 128 ff.) den Eindruck, die Bankenvertreter seien auf Veranlassung Flicks beteiligt worden. Dabei waren sowohl die Deutsche Bank als auch die Berliner Handels-Gesellschaft alte Hausbanken des Unternehmens und hatten unter anderem dessen Rationalisierung finanziert, so dass ihnen nach den üblichen Spielregeln – Flick kontrollierte nur wenig mehr als 50 Prozent des Unternehmens – die Aufsichtsratsmandate zustanden. Dies spricht wohl eher für Flicks Fähigkeit, solche Konstellationen für eigene Zwecke zu nutzen, als für eine gezielte „Besetzungspolitik“. Doch dies ist eher eine einschränkende Anmerkung als substantielle Kritik.

Denn die – bis auf einige Redundanzen – sprachlich, methodisch und empirisch überzeugende Studie zeigt instruktiv die vielfältigen Verflechtungsebenen zwischen NS-Staat und Privatwirtschaft und erklärt die gegenseitige Indienstnahme. Der Flick-Konzern investierte, wenn ein Geschäft günstig schien, begleitete Verhandlungen mit einer gezielten (Des-)Informationspolitik und schreckte auch vor fragwürdigen Methoden nicht zurück. Dass die Rechtslage gerade bei den „Arisierungen“ einen weiten Spielraum bis hin zur faktischen Ausschaltung von Grundrechten ließ, war zwar nicht Flick anzulasten; dass er diesen Spielraum ausnutzte, hingegen schon: Moralische oder ethische Überlegungen wurden stets zugunsten ökonomischer Ratio ausgeblendet.

Der Flick-Konzern war nicht Instrument oder gar Opfer nationalsozialistischer Herrschaft, wie die Konzernkommunikation nach dem Zweiten Weltkrieg glauben machen wollte, sondern zentraler Akteur, auf jeden Fall aber Profiteur. Sein Handeln unterschied sich aber nicht signifikant von dem vor 1933 und nach 1945. Es ist fraglos eines der vielen Verdienste dieser wegweisenden Studie, das Handeln des Flick-Konzerns plausibel gemacht und historisch verortet zu haben, ohne dabei nur im Geringsten Gefahr gelaufen zu sein, den Untersuchungsgegenstand zu exkulpieren.

Anmerkungen:
1 Priemel, Kim Christian, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2007.
2 <http://www.nng.uni-jena.de/Flick_im_20__Jahrhundert.html>, (Stand 2.7.2008).
3 Vgl. exemplarisch: Tooze, Adam, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006 (dt.: Die Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007); Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.), Die Dresdner Bank im Dritten Reich, 4 Bände, München 2006.
4 Vgl. den programmatisch betitelten Aufsatz von Reckendrees, Alfred; Priemel, Kim Christian, Politik als produktive Kraft? Die „Gelsenberg-Affäre“ und die Krise des Flick-Konzerns (1931/32), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006, S. 63–93.

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