Cover
Titel
Bulgaria.


Autor(en)
Crampton, Richard J.
Reihe
Oxford History of Modern Europe
Erschienen
Anzahl Seiten
XXI, 507 S.
Preis
$ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulf Brunnbauer, Universität Regensburg

Nach "A Short History of Modern Bulgaria" (1987) und "A Concise History of Bulgaria" (1987) hat der Oxforder Historiker Richard Crampton, einer der besten Kenner der Geschichte Bulgariens, erneut eine Nationalgeschichte Bulgariens vorgelegt. Gemäß der Konzeption der Reihe „Oxford History of Modern Europe“, in der das Buch erschienen ist, konzentriert sich Crampton auf die Geschichte des modernen Bulgariens, das heißt den 1878 etablierten Nationalstaat sowie seine unmittelbare Vorgeschichte. Die Darstellung reicht bis an den Vorabend des EU-Beitrittes Bulgariens im Jahr 2007. Die Motivation seines Buches erklärt Crampton mit der Tatsache, dass „in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bulgarien in Großbritannien das wahrscheinlich am wenigsten bekannte osteuropäische Land gewesen ist“ (S. 2). Das Buch richtet sich also vornehmlich an den (britischen) Leser, der von Bulgariens Geschichte wenig bis gar keine Ahnung hat; da aber ähnliches für das Publikum in anderen westeuropäischen Staaten behauptet werden kann, stellt Cramptons „Bulgaria“ eine willkommene Ergänzung des nach wie vor geringen historischen Schrifttums über Bulgarien in westlichen Sprachen dar.

Das Hauptaugenmerk Cramptons gilt der politischen Geschichte, was sich in der chronologischen Struktur des Bandes widerspiegelt. Nach dem bei Nationalgeschichten offensichtlich unvermeidlichen Parforce-Ritt durch die „Wurzeln“ (S. 6-22), in dem kurz über die mittelalterlichen bulgarischen Staaten und die osmanische Herrschaft informiert wird, folgen zwei ausführliche Kapitel über die „bulgarische nationale Renaissance“ (S. 23-95). Daran schließt die detailreiche Darstellung der politischen Entwicklungen nach der „Befreiung“ 1878 an, die den Großteil des Buches ausmacht. Crampton orientiert sich dabei an den herkömmlichen Zäsuren zur Gliederung der Geschichte des bulgarischen Nationalstaates: Balkankriege und Erster Weltkrieg (1912-1918), kommunistische Machtergreifung (1944) sowie Ende des Realsozialismus (1989), wobei er insbesondere 1944 als Zeitenwende ansieht, während er die ersten sieben Jahre nach 1989 als „politische Entwicklung ohne effektiven strukturellen Wandel“ klassifiziert (S. 389). Die Behandlung der gesellschaftlichen und ökonomischen Geschichte fristet ein Schattendasein und erfolgt in einem separaten Kapitel für die Zeit von 1878 bis 1944 (S. 282-307) sowie in kurzen Unterkapiteln bei der Darstellung der Epoche des Realsozialismus. Die Minderheiten erfahren ebenfalls eine vom Hauptstrang der Erzählung abgesondert Behandlung (S. 422-442). Ein nützlicher Appendix über die bulgarische Parteienlandschaft 1878–1934, ein kommentiertes Literaturverzeichnis, organisiert nach Themen und Perioden, sowie der Index schließen den Band ab.

Die Fokussierung auf die politische Ereignisgeschichte, so spannend zu lesen und faktenreich diese ist, stellt eine der Schwächen des Buches dar. Warum sollte nicht die soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung Bulgariens seit dem 19. Jahrhundert auch für den Nichtspezialisten von Interesse sein? Bulgarien kann beispielhaft für die Transformation der südosteuropäischen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert stehen, weist aber auch Besonderheiten auf. Ohne diese ausführlicher zu thematisieren, wird dem Leser/der Leserin weder die gegenwärtige Situation des Landes deutlich noch erschließt sich dessen politische Geschichte. Durch die Marginalisierung sozial- und wirtschaftshistorischer Fragestellungen beraubt sich Crampton auch der Möglichkeit, eine Interpretation der turbulenten Geschichte des neuzeitlichen Bulgariens und damit einen roten Faden anzubieten. Modernisierung – im Sinne eines politischen Programms und der Widerstände dagegen – würde sich hier aufdrängen und dient auch in neueren bulgarischen Gesamtdarstellungen als Paradigma.1

Der Mangel an über die Schilderung der Ereignisse hinausgehenden
Fragestellungen ist im politisch-historischen Teil evident. So gibt es keine Diskussion der Systemqualität der kommunistischen Herrschaft. Crampton stellt die bisweilen verworrenen innenpolitischen Kabalen in Bulgarien natürlich sehr kenntnisreich dar, führt aber nur kurz aus, welche Strukturen für die politische Instabilität vor 1944 und auch nach 1989 verantwortlich waren. Eine systematische Darstellung dieser durch häufige Regierungswechsel, Korruption und Klientelismus (siehe S. 146-149), Kompromisslosigkeit, Wahlfälschungen und wiederholten Rückgriff auf autoritäre Regierungsformen – von 1947 bis 1989 in Permanenz – geprägten politischen Kultur hätte die Einordnung der Ereignisse erleichtert.

Dennoch wird aus Cramptons Darstellung das wiederholte Scheitern der politischen Elite, die ökonomischen und politischen Herausforderungen mit demokratischen Mitteln zu bewältigen, deutlich. Nur wenige Regierungen vor 1989 konnten von sich behaupten, über ein populäres Mandat zu verfügen – eine dieser Ausnahmen war die Regierung der bulgarischen Agrarunion unter Aleksandăr Stambolijski (1919-1923), deren radikales, an den Interessen der bäuerlichen Mehrheit des Landes ausgerichtetes Reformprogramm aber alsbald auf massiven Widerstand der alten Elite und der makedonischen Nationalisten stieß, die Stambolijski seinen Verzicht auf eine expansionistische Außenpolitik anlasteten. Der blutige Putsch gegen die Regierung Stambolijski, bei dem der Ministerpräsident gefoltert und ermordet wurde, sollte nicht der letzte gewaltsame Regierungswechsel bleiben.

Erst im kurzen Epilog (S. 445-448) bietet Crampton einen Interpretationsversuch der Geschichte des modernen Bulgarien an: „Bulgarien zwischen Ost und West“. Diese Frage hätte sich als ein roter Faden angeboten, angesichts des seit 1878 engen Nexus von außenpolitischer Orientierung und Innenpolitik. Vor 1918 markierte die Haltung zu Russland und seiner Rolle in Bulgarien eine der zentralen Scheidelinien zwischen den programmatisch wenig ausdifferenzierten politischen Kräften des Landes; auch in der Zwischenkriegszeit, während der beiden Weltkriege, im Kalten Krieg und nach 1989 bestimmte die außenpolitische Orientierung die inneren Verhältnisse wesentlich mit. Ein anderes wiederkehrendes Thema ist die Bedeutung von Nationalismus für die Ausgestaltung der Politik. So endete das Streben der meisten bulgarischen Regierungen vor 1944, die Staatsgrenzen auf die imaginierten Grenzen der Nation auszudehnen, wobei es vor allem um den Anschluss Makedoniens ging, in den beiden „nationalen Katastrophen“ des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Wie Crampton deutlich macht, vergiftete die makedonische Frage auch deshalb lange Zeit das politische Klima, weil makedonische Nationalisten im Lande Regierungen durch Gewalt auf ihren Kurs einschwören wollten (am augenfälligsten wurde dies durch die Ermordung Stambolijskis illustriert).

Der meines Erachtens interessanteste Teil des Buches ist die Darstellung der „bulgarischen Wiedergeburt“, das heißt der Nationalbewegung im 19. Jahrhundert. Crampton betont, dass das Entstehen einer Nationalbewegung in den bulgarischen Gebieten, die sich anfänglich gegen die Dominanz der Griechen in der Kirche und der Hochkultur richtete, eng mit den sozioökonomischen Transformationen im Osmanischen Reich, ausgelöst durch die Tanzimat-Reformen, verbunden war. So verdankte sich der Aufstieg vieler bulgarischer Kleinstädte, die „nationale Apostel“ hervorbringen sollten, der Wirtschaftspolitik des Sultans und insbesondere den Aufträgen seitens der osmanischen Armee, die Tuch in großen Mengen in den bulgarischen Gebieten orderte. Crampton zeigt, wie die bulgarische Nationalbewegung nach und nach die kulturellen Grundfesten der zukünftigen Nation legte: Standardsprache, bulgarischsprachige Presse und Literatur, Aufbau eines bulgarischen Bildungswesens und einer eigenen Kirchenorganisation (1870), der als erster nationaler Institution eine zentrale integrative Funktion zukommen sollte. Er betont aber auch jene unter anderem ökonomische Faktoren, die eine politische Mobilisierung der Massen für die Idee der Nation verzögerten, weshalb sich die bäuerlichen Bevölkerung – entgegen der landläufigen Meinung bulgarischer Nationalmythologie – kaum an dem „nationalrevolutionären“ Kampf gegen die osmanische Herrschaft in den 1870er-Jahren beteiligte.

Leider erfolgt bei den anderen Zeitabschnitten keine so geglückte Darstellung des kulturellen und sozioökonomischen Hintergrunds der politischen Entwicklungen. Wenn die „soziale Modernisierung“ unter den Kommunisten auf einer knappen Seite resümiert wird (S. 371), fehlt die Diskussion von Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die mindestens so relevant waren wie die ohnehin eher ereignisarme politische Geschichte des bulgarischen Realsozialismus. Es stellt sich die Frage, ob der anvisierte Adressat des Buches nicht eher von der raschen Abfolge politischer Ereignisse und Regierungswechsel verwirrt zurückbleibt. Daher ist das Buch doch eher etwas für jene, die sich gezielt über bestimmte Daten der politischen Geschichte Bulgariens informieren wollen und da auf die unbestrittene Expertise Cramptons vertrauen können.

Anmerkung:
1 Kalinova, Evgenija; Baeva, Iskra, Bulgarskite prehodi 1939-2002 (Bulgarische Transformationen), Sofia 2002.

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