Titel
Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung


Autor(en)
Schmitt, Hanno
Erschienen
Bad Heibrunn 2007: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Esther Berner, Allgemeine Pädagogik, Universität Zürich

Der Philanthropismus gehört mitunter zu denjenigen pädagogischen Strömungen, die in der Geschichtsschreibung lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt worden sind; das niethammersche Verdikt (1808)1, jener huldige einem platten Utilitarismus, sollte zumindest im 19. Jahrhundert seine Wirksamkeit erweisen. Als sich dann ab den 1880er-Jahren das bildungshistorische Interesse an diesem Gegenstand, getragen von Namen wie Albert Pinloche, Hugo Görings und Theodor Fritzsch, neu regte, erfolgte dies mit starker Konzentration auf die Bedeutung Bernhard Basedows: als „genialischer Vordenker“ und Begründer der philanthropischen Pädagogik.2 Zu einer historiographischen Neubestimmung des Forschungsgegenstandes sollte es in der deutschen Bundesrepublik erst in den 1970er-Jahren kommen, vorangetrieben von einer Generation von Bildungsforschern, zu der der Autor der vorliegenden Publikation, Hanno Schmitt, massgeblich zählt. Betrachtet man die Anlage des Sammelbandes, darf man auf der anderen Seite durchaus von einem Stück Lebenswerk des Autors sprechen. Der lebenswerkliche Aspekt wird durch den Anlass der Publikation, den 80. Geburtstag Wolfgang Klafkis, unterstrichen. Schmitt verweist einleitend auf dessen anhaltend prägenden Einfluss bezüglich des eigenen wissenschaftlichen Schaffens, und es ist denn auch Klafkis programmatischer Aufsatz von 1971 ‚Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik’, der für das seither verfolgte Erkenntnisinteresse steht und den hier versammelten Beiträgen unter diesem Vorzeichen einen übergreifenden Rahmen gibt.3

Inhaltlich versammelt der Band rund zwanzig Studien, welche im Nachhinein drei Themenbereichen zugeordnet worden sind: Nach einem Einführungskapitel in das „Zeitalter der Aufklärung als pädagogisches Jahrhundert“ (Teil I) machen unter dem Titel „Lebensgeschichtliche Zugänge“ sieben vorwiegend biographische Texte den Anfang (Teil II); der nächste Thementeil widmet sich der philanthropischen Theorie und Erziehungspraxis (Teil III), worauf, drittens, Studien folgen, die den Einfluss von „Politik und Zeitgeschehen“ auf den Philanthropismus aufzeigen (Teil IV). Mit „Zeitgeschehen“ ist in diesem letzten Abschnitt in erster Linie die Französische Revolution und deren Verarbeitung durch einzelne Protagonisten gemeint. Personell im Vordergrund stehen im gesamten Buch die klassischen Vertreter des Philanthropismus, also Friedrich Eberhard von Rochow, Johann Bernhard Basedow, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann bzw. die von ihnen gegründeten Musterschulen; zusätzlich Berücksichtigung finden daneben der Publizist Christoph Friedrich Nicolai als Sympathisant der neuen pädagogischen Ideen, der Illustrator Daniel Nikolaus Chodowiecki sowie weniger bekannte Namen aus der ‚zweiten Reihe’ wie Johann Stuve, Friedrich Gedike oder der in der deutschsprachigen Literatur bis anhin kaum gewürdigte Strassburger Johann Friedrich Simon. Anschaulich und mit Bildern ansprechend illustriert wenden sich die Aufsätze im zweiten Thementeil methodischen Aspekten wie der Pädagogisierung des Raumes – hier am Beispiel der geographischen und topographischen Situierung der Schule Schnepfenthal – oder der didaktischen Umsetzung des Prinzips anschauender Erkenntnis im Naturalienkabinett oder dem so genannten Denklehrzimmer zu; eine weitere Fragestellung setzt sich mit dem Stellenwert philanthropischer Körpererziehung für die Anfänge des Schulsports auseinander. Über diese Einzelfragestellungen hinweg und am lebensgeschichtlichen Beispiel Friedrich Gedikes von Schmitt eingehender dargestellt, kommt insbesondere ein Aspekt der philanthropischen Reformbestrebungen im vorliegenden Buch eindrücklich zur Geltung: die ausgesprochene Vernetzung des Personals. Diese wurde durch persönliche, oftmals freundschaftliche Kontakte, gemeinsame Erfahrungen über die Tätigkeit an denselben Musterschulen und gegenseitige Schulbesuche, durch die Existenz von Publikations- und Rezensionsforen, wie sie Nicolai als Verleger und Publizist bereitstellen konnte, medial massgeblich unterstützt. Es ist dieses Faktum, das dem Philanthropismus trotz der zahlenmässigen Begrenztheit der Protagonisten oder des eigentlich geringen direkten Einflusses auf die Reformierung der territorialstaatlichen Schuleinrichtungen durchaus den Namen einer ‚Bewegung’ zukommen lässt.

Die Entstehung der Texte über eine längere Zeitspanne hinweg bringt einige Redundanzen mit sich, die vor allem dort störend wirken, wo abschnittweise wortwörtliche Wiederholungen vorhanden sind. Ausserdem hätte dem Band dort ein etwas sorgfältigeres Lektorat gut getan, wo der berühmte Zürcher Literat Johann Jakob Bodmer unter dem Namen Johann Jakob Bodener erscheint und die Bezeichnung seines ebenfalls bekannten Zürcher bzw. Winterthurer Briefpartners Johann Georg Sulzer als „Berliner“ im selben Zusammenhang zumindest etwas missverständlich erscheint (S. 31). Dies stellt aber nicht in Frage, dass es sich bei den Beiträgen insgesamt um quellenfundierte Studien handelt. Ausgewertet wurde neben explizit pädagogischen Werktexten insbesondere auch ungedrucktes und damit schwerer zugängliches Material, Briefe, Tagebücher, eher vereinzelt auch Gäste- und Besucherbücher sowie staatliche und kirchliche Archivquellen. Die methodischen Überlegungen bezüglich Auswahl und Umgang mit historischen Quellen beschränken sich dann allerdings auf ein ‚pragmatisches‘ Verständnis, wonach unter Methode alle Verfahren verstanden werden, welche „’professionalisierte Historiker verwenden, um aus den empirischen Überbleibseln menschlicher Vergangenheit gesichertes historisches Wissen zu gewinnen’“ (S. 15).4 Eine darüber hinausgehende methoden- und disziplintheoretische Verortung ergibt sich in der Bezugnahme auf den erwähnten Aufsatz von Klafki, der im Jahr 1971 in der ‚Zeitschrift für Pädagogik’ erschienen und wiederum Heinrich Roth zum 65. Geburtstag gewidmet war. In der Auseinandersetzung zwischen geisteswissenschaftlicher und empirischer Pädagogik erteilte Klafki damals ersterer und ihrem systematisch-problemgeschichtlichen Zugang keine grundsätzliche Absage, sah jedoch vor, die „geschichtlichen Zusammenhänge“ bzw. die „historische Erziehungswirklichkeit“5 nicht auf Geistes- und Theoriegeschichte zu reduzieren, sondern diese unter Einbezug der kritisch-emanzipatorischen Perspektive sozialgeschichtlich anzureichern. Empirie bedeutete ihm in erster Linie ein Korrektiv zu den Ideen, das heisst ein auf realen sozialen, wirtschaftlichen und erzieherischen Fakten basierender kritischer Bezugspunkt von Theorien.

Wenn Schmitt ausgehend von Klafkis Position seinen Studien in der Einleitung das Ziel beilegt, „einen möglichst quellennahen Beitrag zur Rekonstruktion einer Realgeschichte von Erziehung und Bildung im Zeitalter der Aufklärung“ (S. 14) zu leisten, übernimmt er Klafkis positivistischen Wirklichkeitsbegriff. Nun bilden Quellen, insbesondere die von Schmitt in erster Linie untersuchten literarischen und pädagogischen (Programm-)Schriften und Egodokumente, an sich nicht Wirklichkeit ab, wie umgekehrt Theorien und Ideen Wirklichkeitswert nicht abgesprochen werden kann. Hier wäre, so die Meinung der Rezensentin, ein Empirieverständnis hilfreich, das beides mit einbezieht und Kontext nicht als Korrektiv oder Bezugsrahmen betrachtet, sondern als (ideen- wie sozialgeschichtlich quellengesättigtes) Interpretament historischer Äusserungen. Die wegen der spezifischen Voraussetzungen des Textes von Klafki zu Beginn der 1970er-Jahre etwas anachronistische Zitation mag im Übrigen der Ehrung des Jubilars geschuldet sein und hier auch ihren Platz haben; zugleich ist es aber doch erstaunlich, wie unbefangen Schmitt in seiner wissenschaftlichen Verortung auf Begriffe wie ‚Erziehungswirklichkeit’ rekurriert. Dabei darf man sicher gerade diesen voraussetzungsreichen Begriff vor dem Hintergrund in der Zwischenzeit auch in der Erziehungswissenschaft angekommener Debatten methodologischer und epistemologischer Art als klärungsbedürftig bezeichnen.6 Fraglich bleibt auf diese Weise nicht nur Schmitts Verständnis von Kontext als Analyse- und Interpretationskategorie, sondern in jener Rede von „Erziehungsrealität“ oder „Realgeschichte“ auch sein Empirie- bzw. Wirklichkeitsbegriff.

Unklarheiten das historiographische Selbstverständnis betreffend werden dort virulent, wo die Leserin bzw. der Leser den Eindruck gewinnt, der Autor der Studien trete als ‚Advokat’ der philanthropischen Ideen und manchmal auch einzelner Vertreter des Philanthropismus (z.B. Ernst Christian Trapps) auf. Konkret ist dies der Fall, wenn Schmitt das Anliegen vertritt, die philanthropischen Erziehungsvorstellungen gegenüber dem Utilitarismus-Vorwurf zu rechtfertigen, oder dieser Kritik zumindest die Schärfe zu nehmen. Mit Bezug auf die Schulanstalt Schnepfenthal liest man etwa, man müsse die dort im Sinne der Pädagogisierung des Raumes praktizierte Verbindung zwischen (religiöser) Naturbetrachtung und vernünftiger, produktiver Erkenntnis immer gleichberechtigt neben der pragmatisch-utilitaristischen Seite philanthropischer Pädagogik berücksichtigen, „wenn man den Bildungsbegriff des Philanthropismus angemessen beurteilen will“ (S. 206). Auf diese Weise berichtigt, gewinnt die Umsetzung des aufklärungspädagogischen Prinzips anschauender Erkenntnis in Schnepfenthal sogar mit Bezug auf die Gegenwart praktische Relevanz, und die damals dort genutzten Lernarrangements können „nicht nur für Einsteiger in den Lehrberuf“ als nachahmenswert „für den heutigen Unterricht“ empfohlen werden (S. 206).

Eine weitere interpretatorische Problematik ist schließlich zu erwähnen. Die Ursache für diese mag mit dem in der Einführung dargelegten Aufklärungsbegriff in Zusammenhang stehen. Leider erscheint ‚Aufklärung’ dort – wie so oft – als normativ über- und zugleich empirisch unterbestimmter Epochenbegriff. Auf diese Weise wird aber den nachfolgenden Einzelstudien ein Deutungsrahmen vorausgeschickt, der in seiner Fundiertheit und Differenziertheit hinter der Quellennähe des untersuchten pädagogischen Gegenstandes zurücksteht und dennoch verschiedentlich als Folie dient, vor deren Hintergrund sich die philanthropischen Ideen bezüglich ihrer ‚Aufgeklärtheit’ zu messen haben. Das Resultat sind Fragestellungen, welche zuweilen von Widersprüchen ausgehen, die so für die Akteure vielleicht gar nicht vorhanden waren. Dies ist beispielsweise mit Bezug auf Salzmann der Fall, wenn die Frage nach der Vereinbarkeit seiner antirevolutionären Haltung mit der progressiven Erziehungspraxis in Schnepfenthal gestellt und der „scheinbare Widerspruch“ mit Verweis auf den „biographischen Kontext“„aufgelöst“ wird (S. 359). Auf die Herstellung von Stimmigkeit (und zugleich die Vermittlung eines positiven Bildes des betreffenden Philanthropismus-Vertreters) hin angelegt, ist die Argumentation, um ein anderes Beispiel zu nennen, auch an der Stelle, wo das Verhalten Campes gegenüber der Zensur zur Debatte steht: Vorausgesetzt wird immer ein liberaler Aufklärungsbegriff, an dessen Idee sich Verhalten und Einstellungen der Protagonisten messen müssen und auftretende Widersprüche mittels Interpretation von bislang nicht oder zu wenig berücksichtigten Quellen aufzulösen sind. Die ‚richtige’ Interpretation würde verschiedentlich das meist Unmögliche voraussetzen, nämlich ausgehend vom Äußerungskontext entscheiden zu können, ob es sich bei der Aussage um eine taktische oder ‚authentische’ handelt.

Zum Schluss sei nochmals auf die eingangs erwähnte Rezeptionslage verwiesen, die idealistische Abfertigung der Aufklärungspädagogik: Sie sei einem antihumanistischen Nützlichkeitsdenken verhaftet. Dieses steht zumindest in Teilen im Hintergrund des kritisierten Interpretationszugangs. Es gehört nun aber gleichzeitig gerade zum Verdienst Hanno Schmitts, das durch ahistorische Abwertungen entstandene Bild mittels quellenreicher Forschungsbeiträge zurückgedrängt zu haben, so dass Gegenbeweise im Sinne der Rechtfertigungen der Innovationskraft jener Ideen inzwischen obsolet sein dürften.

Anmerkungen:
1 Niethammer, Friedrich Immanuel, Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit. Jena: Frommann 1808.
2 Vgl. Overhoff, Jürgen, Die Frühgeschichte des Philanthropismus (1715-1771). Konstitutionsbedingungen, Praxisfelder und Wirkung eines pädagogischen Reformprogramms im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen: Niemeyer 2004, hier S. 4.
3 Klafki, Wolfgang, Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik. In: Zeitschrift für Pädagogik 17(1971), S. 351-385.
4 Zitiert nach Böhme, Günther; Tenorth, Heinz-Elmar, Einführung in die Historische Pädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, hier S. 205.
5 Vgl. Anm. 2, Klafki 1971, S. 361.
6 Vgl. in diesem Problemfeld und insbesondere zur Frage der ‚Darstellung‘ den Beitrag von Bellmann, Johannes; Ehrenspeck, Yvonne, Historisch/systematisch – Anmerkungen zur Methodendiskussion in der pädagogischen Historiographie. In: Zeitschrift für Pädagogik 52(2006), S. 245-264.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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