Hutchinson und Heyworth zu Properz

Hutchinson, Gregory (Hrsg.): Propertius, Elegies. Book IV. . Cambridge u.a. 2006 : Cambridge University Press, ISBN 0-521-52561-6 XII, 258 S. £ 19,99

: Cynthia. A Companion to the Text of Propertius. Oxford u.a. 2007 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-922870-6 XVI, 647 S. £ 100,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Im Kraftfeld ausgesuchter antiker Autoren gedeiht eine eigene Spezies philologischer Literatur – die von locus difficilis zu locus desperatus, von crux zu crux mäandernde Diskussion textkritischer Probleme in Buchlänge. Sie setzt Texte eines gewissen Umfangs voraus, bei denen sprachliche Raffinesse Hand in Hand mit einer heiklen Überlieferungsgeschichte geht (was vor allem für Tragödie und Dichtung gilt). Im lateinischen Sprachraum ist aus nachvollziehbaren Gründen Properz ihr Favorit, der Alexandriner unter den augusteischen Dichtern. Ihm gelten etwa zwei jüngere Klassiker des Genres, Hans-Christian Günthers Quaestiones Propertianae (Leiden u.a. 1997) und David R. Shackleton Baileys legendäre Propertiana (Cambridge 1956), mit denen der frühere Tibetologe seinen Ruf als latinistische Koryphäe begründete. Beide Bände entstanden unabhängig von Editionsprojekten. Öfter jedoch erscheinen solche Arbeiten im Kielwasser neuer Ausgaben. Auch Heyworths Cynthia bezieht in erster Linie Stellung zu den ungezählten textkritischen Hürden, die der Autor für seinen neuen Oxford Classical Text des Properz meistern musste 1, und begründet in extenso die getroffenen philologischen Entscheidungen. Wie heikel Textkritik gerade bei dem Dichter aus Asisium ist, belegt exemplarisch ein Philologe wie Paolo Fedeli, dessen Text des zweiten Elegienbuchs in seinem neuen Kommentar 2 an gut 150 Stellen von seiner zwei Jahrzehnte älteren Teubneriana von 1984 abweicht. Dies diem docet. Zudem toben gerade bei Properz wahre Grabenkämpfe zwischen ‚Konservativen‘ und ‚Konjekturalkritikern‘.3

Hutchinsons kurz zuvor erschienene Arbeit gehört zum klassischen Genos des Kommentars.4 In einer knappen Einleitung charakterisiert er die besondere Natur von Properzens letztem Buch („a spectacular, and bewildering, creation, unlike anything else in Augustan poetry“, S. 1) und geht konzise auf historische wie poetische Hintergründe ein (mit besonderem Augenmerk auf griechisch-hellenistischen Vorbildern). Zudem konstituiert er einen eigenen Text (teilweise sogar auf der Basis neuer Kollationen) und begründet ihn im Folgenden ausführlich, wobei sein Kommentar (anders als Heyworth’ ‚reine‘ Textkritik in der Cynthia) auch Realien jeder Couleur erörtert und reichlich Hinweise zum Verständnis des Textes liefert; dies gilt besonders für den Essay, der jede Elegie einleitet und maßgebliche inhaltliche Punkte abhandelt.

Der eminent philologische Kern beider Publikationen, die man beide an erster Stelle als kritischen Beitrag zur Diskussion von Properzens Sprache, Stil, Poetik begreifen darf, lädt förmlich zu einem Vergleich der beiden Projekte ein. Ein exemplarischer Blick auf die Elegie 4,7 mag dies verdeutlichen.

Vers 2: luridaque euictos effugit umbra rogos: So die Properz-Vulgata (u.a. noch Goold), gegen die Heyworth (S. 464) einleuchtend den Missklang zwischen ‚Flucht‘ (effugit) und ‚Sieg‘ (euictos) geltend macht. Mit Prop. 2,13,34 (quae tegat exstincti funeris umbra locum) und einem möglichen Echo bei Ovid (trist. 4,10,85–86: si tamen exstinctis aliquid nisi nomina restat, / et gracilis structos effugit umbra rogos) plädiert er für Passerats exstinctos. Hutchinson (S. 172) lehnt diese Konjektur ab, die den Zeitpunkt der Flucht – nach dem Erlöschen des Scheiterhaufens – auf merkwürdige Weise eingrenze, und wählt, gleichfalls mit Blick auf Ovids Distichon (structos … rogos), die jüngere Lesart exstructos (gegen die Heyworth wiederum ins Feld führt, exstruere gehöre nicht zu Properzens Vokabular). Wer hat nun recht? Logisch besehen gilt keine der insgesamt sechs von Heyworth zitierten Lesarten und Konjekturen, denn nach antiker Vorstellung flieht die Seele im Augenblick des Todes. Lag der Leichnam auf dem Scheiterhaufen, war sie längst aus ihrer sterblichen Hülle gewichen (erst der orientalisch inspirierte Brauch, bei der Bestattung römischer Kaiser als Symbol für die Himmelfahrt der Seele bzw. des vergöttlichten Imperators am Scheiterhaufen einen Adler fliegen zu lassen, bringt beides zur Deckung).5 Doch Properz geht es kaum um religionshistorische Präzision. Er will signalisieren, dass auch nach der völligen Auslöschung des Leibes die Seele weiter existiert: wie ein Phönix entsteigt sie der Asche des Scheiterhaufens. Passerats (und Heyworth’) exstinctos trifft ins Schwarze.

Vers 19–20: saepe Venus triuio est commissa, et pectore mixto / fecerunt tepidas pallia nostra uias: Hutchinson (S. 175) hält an der Überlieferung fest, die den Kontrast zwischen dem weichen Lager verwöhnter Liebender und dem harten Pflaster am Kreuzweg herausstreiche. Heyworth, der nach triuio ein est ergänzt, verweist auf den militärischen Unterton in committere und miscēre und lässt die kriegerische Metaphorik in der (anonym überlieferten) Konjektur proelia gipfeln (statt pallia; S. 465f.). Das Argument ist stark – und scheint zugleich den Bogen zu überspannen: mit Venus, pectore mixto und proelia kommen gleich drei Begriffe ins Spiel, die sich allesamt mit „Sex“ (bzw. pectore mixto „beim Sex“) paraphrasieren lassen. Die Überlieferung bietet nicht nur die lectio difficilior; indem sie jene evidenten ‚Kämpfe‘ dezent umschreibt, wirkt sie zugleich diskret und raffiniert. Wohl kaum zufällig werden wir an das Schlussbild von 4,8 erinnert: atque ita mutato per singula pallia lecto / res pacta (Heyworth mit Müller) et toto soluimus arma toro.6

Dass uns mit Vers 57–59 die entstellten Reste einer längeren Passage vorlägen, so ein ratloser Hutchinson (S. 182), will ungeachtet aller textkritischen Probleme nicht recht einleuchten. Heyworths Analyse des Passus (S. 468–470) ist ein Muster philologischer Präzision, das Sprachgefühl mit Scharfsinn und common sense vereint. Seine aus etlichen älteren und neueren Konjekturvorschlägen kombinierte Lösung dürfte dem Originaltext recht nahe kommen und überzeugt auf alle Fälle mehr als Hutchinsons flächendeckend mit cruces markiertes Notstandsgebiet: cumba Clytaemestram stuprumue in Tartara Cressae / portat mentitae lignea monstra bouem. / ecce coronato pars altera uecta phaselo

In Vers 63 übernimmt Heyworth zurecht Heinsius’ Singular, sine fraude marita (statt maritae; S. 470): die pointiert herausgestrichene ‚Arglosigkeit‘ verträgt sich bestens mit Hypermestra, kaum jedoch mit Andromeda. Größere Schwierigkeiten bereitet Vers 64, der freilich mit Marklands Konjektur narrant historias, pectora nota, suas durchaus Sinn ergibt. Anders sieht es aus mit Heinsius’ Eingriff, den Heyworth gleichfalls adoptiert: foedera statt pectora. Den Argumentationsfluss stört er kaum, wie Hutchinson (S. 184) behauptet, wenn man den Begriff als ‚abstractum pro concreto‘ versteht: „die berühmten Verlobten“, „die berühmten Gattinnen“. Dann bietet er aber von der Idee her kaum mehr als die Überlieferung (sinngemäß „die hehren Heroinen“). Konkret verstanden hingegen – „(sie) erzählen ihre Geschichte, ihre berühmten Hochzeiten“ – beißt er sich mit dem Distichon Vers 65–66, das Andromedas Fron auf dem Fels umschreibt. Womöglich ist der Vers ärger verdorben als angenommen.

Das vielleicht spannendste textkritische Problem der siebten Elegie rankt sich um den Efeu auf Cynthias Grab (Vers 79–80). Soll Properz ihn jäten, wie Cynthia es der Überlieferung zufolge verlangt: pelle hederam tumulo (so Hutchinson, vgl. S. 186, der weiter schreibt mihi ne [ne Kenney: quae Hss.] praegnante corymbo / mollia contortis alliget ossa comis)? Oder soll er im Gegenteil mit Sandbachs kongenialer Konjektur dort Efeu pflanzen – jenes Gewächs, das traditionell die letzte Ruhestätte der Musenlieblinge ziert, der Sänger und Dichter: pone hederam (so Heyworth, vgl. S. 470f., der fortfährt tumulo mihi, quae praegnante corymbo [...])? Die Frage lässt sich nur aus dem Kontext erhellen. Dort wird Cynthia selbst zur Dichterin, die ihr eigenes Epitaph entwirft – während sie von Properz verlangt, er solle all seine Gedichte auf sie vernichten. Warum? Es gibt wohl nur eine stimmige Antwort: sie will dem silbernen Käfig entrinnen, dem falschen literarischen Ruhm, der sie gefangen hält. Sie wehrt sich gegen das trügerische Bild, das Properzens Elegien von ihr zeichnen. Für dieses trügerische Bild also steht der poetische Efeu, der noch im Grab ihre Gebeine umrankt, mit anderen Worten: sie in der Fiktion fixiert. Diese meta-literarische Konnotation geht mit Sandbachs bezauberndem Einfall verloren.

Was diese kleinen Kostproben aus dem grandiosen Mosaik allenfalls andeuten: Hutchinson und vor allem Heyworth 7 verstricken den Leser in ein höchst anregendes Gespräch über einen der schwierigsten und zugleich faszinierendsten lateinischen Texte, die wir besitzen. Auf unkonventionelle Weise unterstreichen sie ein Dogma moderner Literaturtheorie: nicht in der Verantwortung des Autors liegt der Text, sondern in der seiner Exegeten und Rezipienten. Pointierter: nicht der Autor, der Leser schreibt den Text. Und wer hülfe ihm dabei mehr als Hutchinson und Heyworth?

Anmerkungen:
1 Heyworth, Stephen J. (Hrsg.), Sexti Properti Elegos (Oxford Classical Texts), Oxford 2007. Vgl. die Rezension bei H-Soz-u-Kult, 23.09.2008.
2 Fedeli, Paolo (Hrsg.), Properzio, Elegie Libro II. Introduzione, testo e commento, Cambridge 2005.
3 Es spricht für Heyworth’ Pragmatismus, dass er gleich zu Beginn (S. VII) in einer captatio potentielle Fehlurteile einräumt und sie mit der Hoffnung entschuldigt, auch seine Holzwege mögen künftigen Editoren von Nutzen sein.
4 Heyworth zitiert ihn in seiner Bibliographie, ohne ihn allerdings noch auszuwerten. Umgekehrt konnte Hutchinson Heyworths Text von Buch 4 samt den kritischen Noten im Manuskript konsultieren (S. VIII).
5 Zum ersten Mal bei den Feierlichkeiten zum Tod des Augustus.
6 Dies scheint den Kommentatoren bisher entgangen zu sein.
7 Zu erwähnen ist noch eine willkommene Beigabe von Heyworth (S. 517–607), die der Untertitel seines Werks („A Companion to the Text …“) kaum ahnen lässt: eine textnahe und in Zweifelsfällen hilfreiche Prosaübersetzung, „intended as a record of what I thought each couplet meant as I was editing“ (S. VIII).

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