M. Franz u.a. (Hrsg.): Mapping Contemporary History

Cover
Titel
Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs


Herausgeber
Franz, Margit; Halbrainer, Heimo; Lamprecht, Gerald; Schmidlechner, Karin M.; Staudinger, Eduard G.; Stromberger, Monika; Strutz, Andrea; Suppanz, Werner; Zettelbauer, Heidrun
Erschienen
Anzahl Seiten
436 S., 16 SW-Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Böhler, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Mit der Berufung Helmut Konrads im Jahr 1984 entstand am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz ein zeithistorischer Fachbereich. Konrad feierte 2008 seinen 60. Geburtstag, zu welchem Anlass der vorliegende Sammelband erschienen ist. Wie bei Festschriften häufig (kritisiert), lassen sich die versammelten Artikel inhaltlich als „bunte Mischung“ beschreiben. Dieses Faktum erklären die insgesamt neun Herausgeberinnen und Herausgeber jedoch zum Programm. Es gehe darum, die fortschreitende Diversifizierung des Fachs Zeitgeschichte seit den 1970er-Jahren zu dokumentieren, die sich im Besonderen an der Öffnung für interdisziplinäre Fragestellungen und theoriegeleitete Forschung festmachen lasse.

Zwei auf der Meta-Ebene angesiedelte Beiträge zu Beginn nehmen diese Transformationen näher ins Visier. Erhellend sind die Ausführungen von Heidemarie Uhl zu Selbstverständnis, Ausrichtung und „Obsessionen“ der österreichischen Zeitgeschichtsforschung vor bzw. nach 1986, als die Causa Waldheim die bis dahin praktizierte „Externalisierung“ des Nationalsozialismus beendete. In der Wissenschaft trat nun die Täter- an die Stelle der Opferperspektive. Mit diesem Wechsel war auch die Frage nach dem „Wie“ und „Warum“ der jahrzehntelangen nationalen Verdrängung auf dem Tisch und die Neuorientierung der Zeitgeschichte am Paradigma „Gedächtnis“ eingeleitet. Österreichische Zeitgeschichte entwickelte sich seither zunehmend zu einer Geschichte des „österreichischen Gedächtnisses“. Indem sie sich auf den Umgang mit schuldhafter Vergangenheit konzentrierte, wurde das in den 1970er-Jahren entstandene Postulat vom gesellschaftskritischen Wächteramt der Disziplin zumindest nach außen aufrechterhalten. Intern, so Uhls These, prägt(e) die kulturwissenschaftliche Wende, insbesondere der damit verbundene Verlust von Wahrheitsanspruch und Erkenntnisprivileg, „das Selbstverständnis der (Zeit-)Geschichtsforschung womöglich nachhaltiger […] als der Perspektivenwechsel 1986“ (S. 27).

Wie bei der österreichischen Zeitgeschichte nach dem Cultural Turn ist forcierte Selbstreflexion auch ein wesentliches Merkmal der außereuropäischen Geschichte nach dem Postcolonial Turn. Der Unterschied ist jedoch, dass dies den emanzipatorisch-aufklärerischen Elan nicht bremst, sondern befeuert, wie der Beitrag „Zeitgeschichte und globale Transformation“ von Andreas J. Obrecht vermittelt. Globalisierung – als Prozess ökonomischer und technologischer Beschleunigung – wird als grenzenlose Ausbeutung, als Instrument zum Ausbau westlicher Dominanz in jeder Hinsicht identifiziert, der viele Länder bzw. Kulturen des Südens der skandalösen Verelendung überlasse. Der zeitgeschichtliche, soziologisch inspirierte Blick auf diese Räume habe sich den Relevanzstrukturen und Bedürfnissen dieser bislang nicht zu Wort Gekommenen zu verpflichten. Wenn man so will, plädiert Obrecht damit für ein erneuertes Konzept der Geschichte „von unten“ unter geopolitischen Vorzeichen.

Im weiten, von diesen beiden ersten Beiträgen aufgespannten Horizont zeithistorischer Analyseansätze sind die 16 daran anschließenden Artikel angesiedelt, die räumlich von der Obersteiermark (Eduard G. Staudinger, „Pfrimer-Putsch 1931 und NS-Putsch 1934“) bis nach Bombay reichen (Margit Franz, „Transnationale & transkulturelle Ansätze in der Exilforschung am Beispiel der Erforschung einer kunstpolitischen Biographie von Walter Langhammer“). Bei allen AutorInnen handelt es sich um in Graz Lehrende bzw. Forschende und/oder ehemalige SchülerInnen Helmut Konrads. Dies belegt, dass der bereits angesprochene Fokus des Bandes auf die Ausdifferenzierung der Zeitgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten in Graz auch tatsächlich intensiv „gelebt“ wurde und solchermaßen unter Konrads Leitung ein „artenreiches“ akademisches Biotop entstand.

Eine direkte Bezugnahme auf den „Vorstand“ lässt sich aber auch aus den einzelnen Texten herauslesen. Hellwig Valentin etwa befasst sich mit den – vor allem auf spezifische geschichtspolitische Konstellationen zurückzuführenden – Sonderentwicklungen im Bundesland Kärnten, aus dem Konrad stammt. Bei dem für die Skizzierung der österreichischen Migration nach Kanada nach dem Zweiten Weltkrieg (Andrea Strutz und Manfred Lechner) herangezogenen Fallbeispiel dürfte es sich um Mitglieder seiner Familie handeln. Gleich zweimal ist das Thema Fußball vertreten. Den identitätspolitischen Aspekten, die aus der „Erfindung“ eines „österreichischen Fußballs“ zwischen 1938 und 1955 resultierten, spürt Werner Suppanz nach. Otto Penz hat seinen Beitrag ausdrücklich dem „Fußballexperten Helmut Konrad“ zugeeignet. Unter dem Titel „Consensualism“ referiert er zur Herausarbeitung der Analogien zwischen der konsensualen Politik „kleiner“ europäischer Länder und deren Erforschung in einem internationalen Wissenschaftlerteam (unter Co-Leitung des Jubilars) konsequent auf die Metapher Fußball bzw. Fußballmannschaft. Last but not least widmet sich Hans-Georg Hofer – wohl mit einem Augenzwinkern – dem Thema „Der alternde Mann und die Medizin“. Dabei ist aus kulturwissenschaftlicher Sicht die Frage, ob die im 20. Jahrhundert mehrfach neu entdeckten männlichen Wechseljahre nun tatsächlich existieren, vernachlässigbar. Das Interesse gilt vielmehr den jeweiligen wissenschaftlichen und sozialen Konstruktionsprozessen und nicht zuletzt der Erkenntnis, dass die Debatten um die „Andropause“ keineswegs „automatisch“ zur Relativierung und damit Herausforderung hegemonialer Männlichkeiten beitragen.

Insgesamt betrachtet und ohne alle Beiträge einzeln anführen zu können, bleibt kritisch anzumerken, dass der Titel des Sammelbandes falsche, zu hohe Erwartungen weckt. Schließlich ist die systematische Diskussion über Errungenschaften, Eigenheiten, Periodisierungen, gesellschaftlichen Auftrag der Zeitgeschichte und dergleichen mehr weder Sinn noch Zweck des Werks. Als „Mapping Contemporary History made in Graz“ leistet das Buch jedoch eine in ihrer Vielgestaltigkeit beeindruckende Standortbestimmung. Was könnte dem Jubilar mehr Würdigung sein?

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch