G. Wettig: Stalin and the Cold War in Europe

Cover
Titel
Stalin and the Cold War in Europe. The Emergence and Development of East-West Conflict, 1939-1953


Autor(en)
Wettig, Gerhard
Erschienen
Lanham u.a. 2008: Rowman & Littlefield
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 60,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Weber, Historisches Seminar, Hamburger Institut für Sozialforschung

Stalin kontrollierte alles. Dies ist das klare Fazit, mit dem der renommierte Osteuropaspezialist Gerhard Wettig sein neues Buch abschließt (S. 241). Für die Stalinismusforschung, die sich in den 1990er-Jahren mit Hilfe der geöffneten Archive des Revisionsmus entledigte, ist dieser Befund bekannt. Seit den 1930er-Jahren waren politische Entscheidungen in der Sowjetunion allein vom Willen Stalins abhängig, der seine Gefolgschaften zu Claqueuren und Handlangern des Terrors degradierte. Gerhard Wettig, der lange Jahre Leiter des Forschungsbereichs Außen- und Sicherheitspolitik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln war, hat diese Beobachtung nun auf die Zeit der Entstehung und Entwicklung des Ost-West-Konflikts von 1939 bis 1953 übertragen. Damit knüpft er an zwei Forschungstendenzen an: Zeitlich bewegt sich die Stalinismusforschung nach der intensiven Beschäftigung mit dem Großen Terror derzeit in Richtung Spätstalinismus und Kalter Krieg. Inhaltlich steht dabei häufig die Frage nach den außenpolitischen Konsequenzen stalinistischer Handlungslogik nach 1945 im Mittelpunkt.

Obwohl diese Konjunktur bereits hervorragende Studien zum Kalten Krieg aus sowjetischer Perspektive hervorgebracht hat 1, kritisiert Gerhard Wettig eingangs nicht unbegründet, dass die meisten Arbeiten weiterhin die westliche Sicht auf den Kalten Krieg reproduzieren. Der Autor will diesem Missstand abhelfen und auf der Basis neu zugänglicher Dokumente die Dynamik politischer Entscheidungsprozesse im Spätstalinismus darstellen. Seine Beschreibung kreist um zwei Thesen: Wettig betont, erstens, die dominante Rolle Stalins, dessen Handeln er, zweitens, mit einem ideologisch geprägten Misstrauen und einer radikalen Freund-Feind-Weltsicht erklärt. Wettig misst der Ideologie einen wesentlichen Einfluss auf das politische Handeln Stalins zu. „Ideological terms“, so der Autor, “were an important key to understand the meaning of Soviet statements” (S. 3). Leider belässt es Gerhard Wettig weitgehend bei dieser allgemeinen Feststellung. Nur kurz diskutiert er im ersten Kapitel das krude bolschewistische Demokratieverständnis, dem zufolge die Begriffe Demokratie und Diktatur des Proletariats Synonyme waren und letztere als wahre Verkörperung der Macht des Volkes galt. Wenn Stalin nach 1945 die Errichtung volksdemokratischer Staaten in Osteuropa versprach, widersprach dies, so Wettig, nicht den Plänen einer konsequenten Sowjetisierung. Nur verstand der Westen diese Rede aufgrund seines anderen Demokratiebegriffs nicht. Im Wissen um die bolschewistische Camouflagepolitik, der Lenins Demokratiedefinition im Grunde entsprang, vermag diese These nicht zu überzeugen. Sie bietet dennoch den Stoff für eine kulturgeschichtlich angelegte Interpretation von Missverständnissen. Diesen Schritt aber geht Wettig nicht. Er beschränkt sich auf den Zusammenhang von Ideologie und pathologischem Misstrauen, in dem er eine zentrale Ursache für die Entwicklung des Ost-West-Konflikts von sowjetischer Seite sieht.

Für Wettig bildet das ideologisch begründete Misstrauen die konstante Grundlage von Stalins außenpolitischen Entscheidungen seit 1939, dem Jahr, in dem die Sowjetunion zu einem entscheidenden internationalen Akteur aufstieg. Überzeugt von der Doktrin des unversöhnlichen Klassengegensatzes und der kapitalistischen Kriegspolitik, die sich mit dem Argwohn und der Frustration über die westeuropäische Appeasement-Politik verbanden, entschied sich Stalin für den Pakt mit Hitler. Und auch als Stalin nach dem Überfall Hitlers ein ungeliebtes Zweckbündnis mit den westlichen Demokratien einging, blieb das Misstrauen die prägende Konstante seines politischen Denkens. Gerhard Wettigs Darstellung der sowjetischen Politik vor und während des Zweiten Weltkriegs ist eine Wiedergabe des fachwissenschaftlichen Konsensus. Darüber hinausgehende Einblicke in die Dynamik politischer Entscheidungsprozesse werden nicht vermittelt. Die These von Stalins ideologisch geprägtem Misstrauen und dessen Einfluss auf die sowjetische Politik ist nicht neu. Wettig extrapoliert sie lediglich, um den zeitlichen Rahmen seiner Untersuchung zu legitimieren und eine Verbindung zwischen der sowjetischen Politik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie dem Kalten Krieg herzustellen. Insgesamt wirkt das erste Kapitel wie eine längere historische Einleitung, in der die Analyse politischer Entscheidungsprozesse im Spätstalinismus nur angekündigt wird.

Zunächst bleibt Wettig auch in weiten Teilen der folgenden Kapitel bei der kursorischen Abhandlung von Stalins Nachkriegspolitik in den besetzten Staaten Osteuropas. Seinen in der Einleitung formulierten Anspruch, die sowjetische Deutschlandpolitik in den Kontext der Sowjetisierung Osteuropas zu stellen, kann der Autor mit der schemenhaften Abhandlung der historischen Entwicklung in den so genannten Volksdemokratien nicht erfüllen. Es ist kein Zufall, dass ihm die Darstellung immer dann überzeugend gelingt, wenn er sich auf die sowjetische Deutschlandpolitik konzentriert. Hier erweist sich Gerhard Wettig einmal mehr als profunder Kenner der sowjetischen Politik und bietet erkenntnisreiche Einblicke in politische Entscheidungsprozesse.

Im Unterschied zum ersten Teil des Buches gewinnen die Kapitel vier und fünf deutlich an analytischer Überzeugungskraft, wenn der Autor etwa beschreibt, wie Stalin taktische Änderungen vornahm und Propagandakampagnen entwarf, um die Sowjetisierung der ostdeutschen Besatzungszone zu sichern und seinen Einfluss im westlichen Teil Deutschlands zu Lasten der USA auszuweiten. Detailliert analysiert Gerhard Wettig die Motive, die Stalin zur Veröffentlichung der kontrovers diskutierten Deutschland-Note am 10. März 1952 veranlassten.2 Dem dort unterbreiteten Vorschlag, einen Friedensvertrag mit Deutschland auszuarbeiten, der zur Bildung eines gesamtdeutschen Staates führen sollte, ging ein Politikwechsel voraus, der bereits im Sommer 1951 einsetzte. Es war der Moment, in dem Stalin verstand, dass die konsequente Ausweitung seiner Machtzone in den Westen ebenso gescheitert war wie der erzwungene Abzug US-amerikanischer Truppen aus Europa. Von nun an ging es darum, den Eindruck sowjetischer Einheitsbereitschaft aufrecht zu erhalten, den Westmächten aber das Gegenteil zu unterstellen und sie als kapitalistische Kriegstreiber zu verunglimpfen. Die Provozierung von Konflikten in den westlichen Besatzungszonen bei gleichzeitiger Sicherung Ostdeutschlands inklusive einer in Kauf genommenen deutschen Teilung waren seit 1951 politische Ziele Stalins, die dann zu der ‚scheindiplomatischen‘ Note vom März 1952 führten. Bei der Umsetzung dieser Ziele verließ sich Stalin auf altbewährte Handlanger wie den damaligen Außenminister Andrei Wyschinski, der es seit den 1930er-Jahren stets verstanden hatte, die perfiden Absichten seines Meisters in politische Strategiepapiere zu kleiden. Dass diese Entwürfe wie das von Stalin im September 1951 bestätigte Aktionsprogramm über gesamtdeutsche Wahlen, einen Friedensvertrag und die deutsche Einheit bewusst so konzipiert waren, dass die US-Amerikaner unmöglich zustimmen konnten, die Sowjetunion aber als friedliebender und wahrhafter Interessenvertreter eines einigen Deutschlands dastand, kann Wettig belegen. Er bestätigt die personellen, ideologischen und politischen Verbindungen zwischen den 1930er-Jahren und dem Spätstalinismus. Auch wenn die außenpolitischen Ziele der Sowjetunion taktische Änderungen notwendig machten, blieben Stalins Politikstil sowie die Abläufe politischer Entscheidungsprozesse in seinem Machtzirkel unverändert. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Wettig der Darstellung dieser Konstanten stalinscher Herrschaft mehr Raum gegeben hätte. Stalin kontrollierte alles, weil er ein misstrauischer Mensch war. Man hätte nur gern mehr darüber erfahren, wie er das tat.

Anmerkungen:
1 Gorlizki, Yoram; Khlevniuk, Oleg V., Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945-1953, Oxford 2004; Mastny, Vojtech, The Cold War and Soviet Insecurity. The Stalin Years, New York 1996; Zubok, Vladislav; Pleshakov, Constantine, Inside the Kremlin’s Cold War. From Stalin to Khrushchev, Cambridge 1996.
2 Dazu weiterführend: Ruggenthaler, Peter (Hrsg.), Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007.

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