M. Dauss: Bauten des Historismus in Paris und Berlin

Titel
Identitätsarchitekturen. Öffentliche Bauten des Historismus in Paris und Berlin (1871-1918)


Autor(en)
Dauss, Markus
Erschienen
Dresden 2007: Thelem
Anzahl Seiten
758 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Sonne, Lehrstuhl Geschichte und Theorie der Architektur, Technische Universität Dortmund

Eine Studie eines hochbegabten jungen Schreibers zu einem hochspannenden Thema ist anzuzeigen. Der politischen Bedeutung prominenter öffentlicher Bauten der französischen Dritten Republik und des deutschen Kaiserreichs hat sich Markus Dauss, Historiker und Kunsthistoriker, angenommen. Dabei interessiert ihn besonders die Frage, inwieweit architektonische Darstellungsstrategien zur Identitätsbildung von Institutionen beitragen. Ausgewählt aus der schier unerschöpflichen Fülle öffentlicher Bauten dieser beiden Staaten zwischen 1870/71 und 1918 hat er die bekanntesten Monumentalbauten, die er ob ihrer integrativen Rolle als „Supermonumente“ bezeichnet: naheliegenderweise die beiden Parlamentsgebäude, das Palais Bourbon in Paris und das Reichstagsgebäude in Berlin, sowie überraschenderweise, aber nicht minder überzeugend, die Kirche Sacré-Coeur auf dem Hügel von Montmartre. Mit dieser über klassisch politische Bauten hinausreichenden Auswahl gelingt es ihm, auch die spannungsgeladene Rolle der Kirche in einem sich säkularisierenden Staat und damit eine weitere entscheidende Facette von Öffentlichkeit zu fassen.

Die Studie, die eine überarbeitete Fassung seiner Dissertationsschrift darstellt, verfolgt einen komparativen Ansatz. Völlig zu Recht kritisiert Dauss die jeweils fast ausschließlich lokalgeschichtlich ausgerichtete Literatur zur Pariser und Berliner Baugeschichte, zu deren Überwindung er einen Vergleich zwischen dem deutschen und französischen Baugeschehen anstellt, zu dem ihm sein Studium in beiden Ländern prädestinierte. Sehr überzeugend gelingt ihm diese Gegenüberstellung bei den Parlamentsbauten der beiden Staaten, deren unterschiedliche architektonische, insbesondere stilistische Konzeptionen sich sehr weitgehend aus den historisch-politischen Voraussetzungen der jeweiligen Institutionen erklären lassen: die Verwendung eines national konnotierten Klassizismus als Entzeitlichungsstrategie in einem Frankreich, das die gebrochene Tradition seines Parlamentarismus historisch verfestigen musste; die eklektische Verwendung klassischer Formen als Integrationsstrategie in einem Deutschland, das die neue Institution des Reichstags für viele Bevölkerungsgruppen akzeptabel machen musste. Umso unverständlicher ist, wieso die in sich überzeugende Interpretation der Basilique du Sacré-Coeur monolithisch für sich steht. Zutreffend wird sie als städtebaulich dominantes Monument in archaisierender Formensprache einer katholischen Kirche gedeutet, die sich durch die Säkularisierung aus ihrer angestammten Rolle im Staate gedrängt sah und sich im Gegenzug der ästhetischen Strategie der archetypischen Inszenierung mit überzeitlicher und somit auch überstaatlicher Geltung bediente. Hier hätte sich als erhellendes Vergleichsbeispiel der gleichzeitige Neubau des Berliner Doms angeboten, ebenfalls stadtdominant positioniert und gestaltet und mit seinen unterschiedlichen politischen und kirchlichen Ambitionen zu einem differenzierenden Vergleich bestens geeignet. Trotz ihres gewaltigen Umfangs haftet der Studie somit eine unverständliche Asymmetrie an, da ihr komparativer Ansatz im Aufbau nicht durchgehalten ist.

Des Weiteren verfolgt die Studie einen interdisziplinären Ansatz, was bei einem Thema, das politische Geschichte mit architektonischen und bildlichen Phänomenen zusammenbringt, auch nahe liegt. Hier verfügt der Autor dank seines multidisziplinären Studiums über genaue Kenntnis historischer und kunsthistorischer Zusammenhänge und Begrifflichkeiten, die einer präzisen Analyse und Schilderung der Gegebenheiten zu Nutze kommen. Überhaupt steht eine solche Engführung von Kunstgeschichte mit politischer Geschichte innerhalb der Disziplin Kunstgeschichte seit ihren Anfängen in bester Tradition. Von Jacob Burckhardt bis zu den jüngsten Forschungsbestrebungen zur politischen Ikonographie reicht diese ‚interdisziplinäre‘ Linie. Doch unter dem heutigen Dogma der Interdisziplinarität, von nahezu allen Forschungsinstitutionen weltweit gleichermaßen als allein seligmachendes Kriterium herausposaunt, müssen solche seit langem praktizierten sachangemessenen ‚Interdisziplinaritäten‘ verblassen, um innovativen Ansätzen und neuen sich profilierenden Forschern Platz zu machen. So muss auch Dauss zahlreiche Konzepte aus verschiedenen Disziplinen mit seiner Thematik verbinden, um im Rahmen der ‚innovativen‘ Forschungspolitik bestehen zu können.

Was zunächst als öffnende Weitsicht und erfrischende Kombinatorik beginnt, erweist sich während der fortschreitenden Lektüre des Werks als verwirrende und ermüdende Ansammlung interpretativer Konzepte. Bewundernswert und ehrfurchterheischend ist die Kenntnis all der multidisziplinären Interpretationskonzeptionen, die Dauss in Anschlag bringt: Hegels Allegorie, Marx` Fetisch, Nietzsches Hysterie, Freuds Traum, Benjamins Traum, Warburgs Pathosformel, Panofskys Ikonologie, Barthes Mythos, Ecos Zeichen, Baudrillards Simulation, Sennetts Körper und viele weitere Theorien werden bemüht, um angeblich traditionelle Disziplinaritäten aufzubrechen. Lobend anerkennen muss man, dass die jeweiligen Konzepte für sich zumeist überzeugend auf den Sachverhalt angewandt sind. Allein, in der Summe stellt sich die Frage, welches Konzept möglicherweise überzeugender ist oder ob sich gar aus der Zusammenschau und einer Kritik der einzelnen Konzepte ein neues überzeugenderes Schema gewinnen ließe. Diesen kritisch-synthetisierenden Schritt aber bietet die Arbeit nicht, so dass sie in bemerkenswerter Äquivalenz zu dem von ihr behandelten Gegenstand steht: einem Eklektizismus, der durch nicht-synthetisierende Elementverwendung eine größtmögliche Assoziations- und damit Identifikationsoffenheit aufweist.

Dieser Prävalenz der interdisziplinären Interpretationskonzepte vor der disziplinären Quellenanalyse ist wohl auch der ungewöhnliche Aufbau der Studie zu danken. Bevor der Leser zur Analyse der Fallbeispiele gelangt, kämpft er sich durch 230 Seiten Interpretation und theoretische Reflexion, in der die Deutung der noch gar nicht vorgestellten Bauten bereits geleistet ist. Was zunächst noch als unglückliche Übernahme einer etwas breit geratenen Übersicht des Forschungsstandes aus der Dissertation erscheint, erweist sich jedoch bald als Methode. Denn in den Kapiteln zu den ausgewählten Bauten wiederholt sich dieser Aufbau, erst hochfliegende Deutungsansätze zu präsentieren und dann die traditionelle Bauanalyse nachzureichen. Ob diese Umkehrung dem jugendlichen Impuls, es einfach mal anders zu machen, oder dem doktorväterlichen Verständnis eines kulturwissenschaftlichen Konzepts, dass alle Geschichte interpretative Konstruktion sei, entspringt, kann ich nicht sagen. Unbefriedigend ist sie in jedem Fall in doppelter Hinsicht. Einerseits wissenschaftlich-methodisch, weil die Analyse zur Interpretation nichts mehr beizutragen vermag, da diese ohnehin schon festgeschrieben ist. Andererseits resultiert aus dieser Umkehrung eine stilistische Antiklimax, die zu einer tiefen Enttäuschung des Lesers führt: Während zunächst ganze Universen der Interpretationskunst aufgeschlossen werden, landet man nach jedem Höhenflug am Ende in den Niederungen des Faktischen und der durchaus gewöhnlichen Deutungen.

Gerade die in dieser Arbeit geleistete brillante Collage interdisziplinärer Interpretationskonzepte macht deutlich, dass in diesem vermeintlichen Königsweg der heutigen Wissenschaftspolitik nicht die Zukunft liegen kann: zu wenig substanzielle Ergebnisse entspringen der herkulischen Kombinatorik. Dabei rührt Dauss an ganz entscheidende Fragen der Architekturdeutung: Er erkennt kategoriale Unterschiede zwischen Text und Architektur, weshalb er den Begriff der „Erzählung“ (S. 47) meiden und „Grenzen der Lesbarkeit“ (S. 45) beachten will. Er erkennt ebenso Unterschiede zwischen Bild und Architektur, betont die „mediale Spezifizität, den nicht-mimetischen Charakter der Architektur“ (S. 73). Die trotzdem vorhandene Fähigkeit der Architektur, Bedeutung zu vermitteln, versucht er mit dem Begriff des ‚Präsenzsymbols‘ zu fassen, der die unmittelbar sinnliche Wirkungsweise von Bauten andeutet. Genau hier wäre ein substanzieller Beitrag zur Architekturgeschichte und -theorie möglich – aber eben genau nicht durch schillernde Interdisziplinarität, sondern durch eine stärkere Fokussierung auf die Disziplin Architekturgeschichte und -theorie. Denn damit ließe sich herausarbeiten, dass etwa die in anderen kulturwissenschaftlichen Zweigen sinnvolle Behauptung der Arbitrarität von Bedeutungen nur bedingt im Bereich der Architektur gilt. Denn hier haben Bauten neben semantischen Funktionen stets auch andere Aspekte und sind – obwohl kulturelle Konstrukte – Naturgesetzen wie der Schwerkraft und dem Raum unterworfen. Viel von der von Dauss unter dem Stichwort des ‚Präsenzsymbols‘ besprochenen Wirkung von Architektur entspringt diesem physischen Aspekt der Architektur. Ganz nahe dran ist er, wenn er etwa die Masse, Höhe, Zentralität und Sichtbarkeit von öffentlichen Bauten in der Stadt als solche architektonisch-urbanistischen Zeichen beschreibt. Allein, unter dem anti-ontologischen Dogma der Konstruktion aller Bedeutung kann er auch die Wirkungsweise dieser ‚Präsenzsymbole‘ nur aus der Differenz erklären und den Gedanken an einen wesenhaften Zusammenhang zwischen physischer Schwere und semantischer Schwere im architektonischen Werk nicht zulassen. In einem ähnlichen Zusammenhang habe ich einmal versucht, diese Zeichen als ‚natürliche Zeichen‘ zu fassen, denen im Unterschied zu den auch in der Architektur vorherrschenden ‚konventionellen Zeichen‘ eine Verständlichkeit in allen denkbaren Kulturen zukommt. Hier gibt es noch viel zu erforschen und zu verstehen, wobei leider keine transdisziplinäre Superkulturwissenschaft weiterhilft, sondern ein disziplinenbewusstes Fokussieren auf die Sache.

Markus Dauss hat mit seinen „Identitätsarchitekturen“ eine Studie vorgelegt, deren Schwächen den gerade gängigen Paradigmen der Interdisziplinarität und der Konstruktivität geschuldet sind. Ihre Stärken liegen in der breiten historischen und komparativen Perspektive, die der Autor mit hoher intellektueller Beweglichkeit und sprachlicher Versatilität zu umfassen und darzustellen vermag; Fähigkeiten, die ihn sicher noch weit tragen werden.