Titel
Nation - Nationalität - Nationalismus.


Autor(en)
Borggräfe, Henning; Jansen, Christian
Reihe
Historische Einführungen 1
Erschienen
Frankfurt/M. 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Alter, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

An Arbeiten über Nation und Nationalismus, über nationale Ideologien und ihre ebenso konstruktiven wie verheerenden Auswirkungen auf das Denken von Menschen überall in der Welt besteht wahrhaftig kein Mangel. Während von britischen und amerikanischen Historikern, Politikwissenschaftlern und Anthropologen die weiterführenden theoretischen Anstöße ausgingen und immer noch ausgehen (die Frage des ‚warum‘ wäre einmal zu untersuchen), sehen deutsche Autoren eine ihrer wesentlichen Aufgaben darin, die Überlegungen ihrer angelsächsischen Kollegen ihrem deutschen Publikum nahe zu bringen und auf die bekannten Fälle von Nationalbewegungen und Nationalstaatsbildung in Europa anzuwenden. Ähnlich verfahren Christian Jansen und Henning Borggräfe in ihrer Einführung in die Problematik. Sie beziehen sich dabei auf die ironische, ja sarkastische Feststellung von Karl W. Deutsch, der die Nation vor über dreißig Jahren als eine „Gruppe von Menschen“ definierte, die durch einen „gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint“ ist.1 Unverkennbar verharmlost eine derartige Definition von Nation die historische Erfahrung seit dem späten 18. Jahrhundert, dass der ‚gemeinsame Irrtum‘ für das Zusammenleben der Menschen, gerade in Europa, fürchterliche Folgen hatte. In Anbetracht dessen wird man den beiden Autoren zustimmen, wenn sie Nation, Nationalität und Nationalismus zu „denjenigen politisch-kulturellen Phänomenen“ rechnen, die „die europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert am stärksten geprägt haben“ (S. 7). Im 21. Jahrhundert gibt es genügend Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich die gewaltige Wirkungsmacht und die zerstörerischen Kräfte des Nationalismus zumindest in Europa abgeschwächt haben. Als organisierte Massenbewegung mit bizarren Ritualen ist er fast nirgendwo mehr anzutreffen. Doch ganz sicher kann man nicht sein, ob er nicht irgendwann und irgendwo eine Renaissance erlebt. Der Balkan, die Kaukasusregion und die so genannten regionalistischen Bewegungen in etablierten Nationalstaaten liefern seit Jahrzehnten beunruhigende Symptome für das unterschwellige Fortleben nationalistischer Ambitionen und Fantasien.

Jansen und Borggräfe gliedern ihre Einführung in die Thematik in fünf Teile. Zunächst diskutieren und definieren sie Leitbegriffe und Fragestellungen der Nationalismusforschung, wobei sie den Nachdruck auf die populären Dekonstruktivisten wie Benedict Anderson, Ernest Gellner oder Eric Hobsbawm legen, die die Nationen als ‚vorgestellte Gemeinschaften‘ bzw. ‚gedachte Ordnungen‘ interpretieren und sich damit vor allem gegen das alte Konzept der Kulturnation wenden. In diesem Zusammenhang werden die Theorieansätze älterer Nationalismusforscher, gerade auch aus dem deutschen Sprachraum, reichlich undifferenziert, pauschalierend oder gar nicht abgehandelt. Vieles, was die Dekonstruktivisten als letzte Weisheit und staunenswerte Einsicht verkünden, lässt sich schon bei Eugen Lemberg, Hans Kohn oder Theodor Schieder nachlesen, möglicherweise schlichter ausgedrückt und eng bezogen auf den empirischen Befund.

In einem zweiten Schritt wenden sich Jansen und Borggräfe dem deutschen Nationalismus zu, auf dessen eingehende Analyse mit guten Gründen kein Nationalismusforscher verzichten kann und will. Der ‚Entdeckung des Volkes‘ im späten 18. Jahrhundert und den Anfängen des organisierten Nationalismus nach den Napoleonischen Kriegen widmen sie eigene Abschnitte, ebenso dem Funktionswandel des Nationalismus im Kaiserreich. Etwas überraschend schließt sich an diesen Teil des Buches eine Darlegung moderner Nationalismustheorien an – vom manchmal unterschätzten Karl W. Deutsch bis hin zum oft überschätzten Benedict Anderson. Das Kapitel schließt mit einer hilfreichen Skizze ‚aktueller Themen und Kontroversen‘. Im anschließenden vierten Teil der Einführung werden sehr knapp ‚Europäische Entwicklungspfade des Nationalismus und der Nationsbildung‘ behandelt. Die Auswahl der Fallbeispiele ist dabei etwas unkonventionell, was seine Vorzüge hat. Vorgestellt werden Frankreich, die Schweiz und Makedonien. Im makedonischen Raum, so die Autoren zur Rechtfertigung ihrer Wahl, stießen seit dem Berliner Kongress 1878 verschiedene Nationalismen aufeinander; dort könnten daher viele Probleme studiert werden, die in der modernen Forschung aktuell sind. Auf die hinlänglich bekannten Fälle von Nationsbildung wie Italien wird in diesem Kapitel wie auch in der gesamten Einführung gelegentlich Bezug genommen, einige Male auch auf Polen, Irland, Österreich-Ungarn und die Baltischen Länder.

In ihrem Schlusskapitel ‚Bilanz und Ausblick auf das 20. Jahrhundert‘ bezeichnen Jansen und Borggräfe das Jahr 1914 als historische Zäsur. Bis zu diesem Einschnitt datieren sie die Entstehungsphase des modernen Nationalismus und Nationsverständnisses. Nach dem Ersten Weltkrieg habe sich der Nationalismus weltweit verbreitet und in den meisten Ländern Europas radikalisiert, und zwar als Opposition gegen die existierenden, oft sehr jungen Nationalstaaten, die sich bei genauerem Hinsehen vielfach als multinationale Staaten entpuppten. Aber gibt es überhaupt so etwas wie homogene Nationen und homogene Nationalstaaten? Wie hat man sie sich vorzustellen? Zudem ist nach Meinung Jansens und Borggräfes der Nationalismus nach dem Weltkrieg von den „großen Weltanschauungen“ des 20. Jahrhunderts „sowohl integriert als auch überformt“ worden (S. 190). Das weist auf den opportunistischen bzw. parasitären Charakter des Nationalismus hin, der in diesem Kontext eine eingehende Diskussion verdient hätte.

Den bilanzierenden Ausführungen der beiden Autoren kann man im Großen und Ganzen zustimmen. Ihre klare Gedankenführung wird dazu beitragen, dass sich ihre Einführung in ein großes Thema der europäischen Geschichte im akademischen Unterricht bewährt. Die Kollegen, die sich heute ebenfalls mit den Problemen von Nation und Nationalismus beschäftigen, werden beruhigt, manche unter ihnen aber auch beunruhigt, die Prognose zur Kenntnis nehmen, dass die Nationalismusforschung für die Geschichtswissenschaft auch im 21. Jahrhundert eine aktuelle Thematik bleiben wird.

Anmerkung:
1 Deutsch, Karl W., Der Nationalismus und seine Alternativen, München 1972, S. 9