G. Weber (Hrsg.): Kulturgeschichte des Hellenismus

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Titel
Kulturgeschichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra


Herausgeber
Weber, Gregor
Erschienen
Stuttgart 2007: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 34,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eike Faber, Historisches Institut, Universität Potsdam

Wenn der Verleger eines Hauses wie Klett-Cotta das Fehlen einer Kulturgeschichte des Hellenismus auf dem deutschsprachigen Markt bemängelt1, darf man von ihm eine Initiative erwarten. Michael Klett hat diese Initiative ergriffen und den hier zu besprechenden Band angeregt, der unter Federführung von Gregor Weber aus einem Augsburger Kolloquium vom Februar 2006 hervorgegangen ist. Es sei vorab bemerkt, dass die Publikation dem Anspruch einer "modernen Kulturgeschichte des Hellenismus" (S. 495) in vollem Umfang gerecht wird.

Dem Band voran stehen zwei Texte, die als Folie für die übrigen dienen: Gregor Weber (Kulturgeschichte als Problem, S. 7–12) definiert das Vorhaben "die auf Mechanismen der Identitätsbildung, auf Berührungen mit dem Fremden und auf Wahrnehmungen des Anderen abzielenden Ansätze der Kulturgeschichte für die Epoche des Hellenismus fruchtbar zu machen" (S. 8) als Anliegen und stellt die Fragestellungen und Leitlinien vor, welche die versammelten Einzelstudien zu einer geschlossenen Publikation zusammenführen (S. 11–12). Jürgen Malitz liefert in einer gelungenen Darstellung komprimiert den politikgeschichtlichen Hintergrund (Von Alexander zu Kleopatra. Die politische Geschichte, S. 13–55). Die Zusammenhänge erschließen sich umso besser, als der Band und speziell dieser Aufsatz durch umfangreiche und gelungene Anhänge (Zeittafel, Stemmata, Karten und Register) ergänzt wird.

Es folgen, ohne geographische oder chronologische Gruppierung, 16 Aufsätze zu nahezu allen Aspekten des Hellenismus im Osten der Mittelmeerwelt.2 In drei Texten werden zunächst, getrennt nach Akteuren (Poleis, Städtebünde, Herrscher) die lebensweltlichen Rahmenbedingungen dargestellt, unter denen sich die Politikgeschichte im engeren Sinne entfaltete: Christoph Schuler stellt moderne Fehleinschätzungen von der hellenistisch-griechischen ‚Stadtzivilisation‘ richtig, indem er die Städte fest in ihrem Hinterland verortet. Ohne die umliegende Fläche fehlte den Poleis ihre agrarische, kultische und militärische Grundlage, was die Quellen mit dem festen Ausdruck pólis kai chóra ausdrücken. Der Landbesitz auf dem Territorium der Polis machte zudem den Bürger aus; infolgedessen hatten die Belange der chóra einen hohen Stellenwert in der Volksversammlung (Die Polis und ihr Umland, S. 56–77).

Die meisten Stadtstaaten waren in hellenistischer Zeit demokratisch verfasst; was, wie Peter Funke zeigen kann, einer der Gründe für Struktur und Organisation der konkurrierenden Staatenbünde war, in denen sich die Städte des griechischen Mutterlandes zusammenschlossen, um gegenüber den umgebenden Monarchien ein höheres politisches Eigengewicht zu erreichen (Die staatliche Neuformierung Griechenlands. Staatenbünde und Bundesstaaten, S. 78–98). Ausgehend vom prototypischen Beispiel Alexandria erörtert Gregor Weber die baulichen Unternehmungen der hellenistischen Herrscher: Architektur und Stadtplanung als Methode der Repräsentation; Paläste als physischer Ort, an dem sich die Angehörigen des Hofes, der Kerneinheit der Herrschaftsausübung, aufhielten (Die neuen Zentralen. Hauptstädte, Residenzen, Paläste und Höfe, S. 99–117).

Die Autoren des Bandes reflektieren darüber, was an ihren Themen spezifisch hellenistisch ist. Aus Notwendigkeit zählen sie dabei zunächst auf, welche Gegebenheiten der klassischen Zeit bestehen blieben. Besondere Betonung erfährt die longue durée dabei in drei Texten zu Familie, Religion und Wirtschaft. Die Veränderungen treten dann umso markanter hervor: Grundeinheit der Sozialstruktur blieb der oíkos, einem kýrios untergeordnet zu sein, war weiterhin die Normalität des Frauenlebens. Angesichts gestiegener Mobilität und einer höheren Zahl von Heiraten über größere Distanzen hing die rechtliche Stellung der Nachkommen einer Ehe nun auch entscheidend vom Bürgerstatus der Ehefrau in ihrer Heimatstadt ab. Daher wird dieser Status jetzt inschriftlich dokumentiert und öffentlich demonstriert. Anhand der sogenannten Tanagräerinnen weist Linda-Marie Günther (Familien und Geschlechterverhältnisse, S. 118-138) nach, dass "der Bürgerstatus und seine stetige Zur-Schau-Stellung zum zentralen Aspekt der Identität einer Frau und ihrer Beziehungen zu Männern innerhalb wie außerhalb ihrer Familie" (S. 138) wurde.3

Eine ähnliche Tendenz zur Individualisierung konstatiert Angelos Chaniotis, der durch die Analyse von Kultvorschriften belegt, dass der Beitrag jedes Einzelnen zu den Kulten der Polis und des Herrschers gefordert war (Religion und Mythos, S. 139–157). Ohne dass es zu Umwälzungen im Bereich der Produktion gekommen wäre, sieht Sitta von Reden ein Anwachsen der griechischen Wirtschaft bis etwa 200 v.Chr., was sie mit Zentralisierungsimpulsen und Investitionsprogrammen der Herrscher (Städtegründungen, Militär) schlüssig begründen kann (Wirtschaftliches Wachstum und institutioneller Wandel, S. 177–201).

In einem der Aufsätze, die sich intensiver mit dem Mäzenatentum der hellenistischen Dynasten befassen, schildert Peter Scholz zusammenfassend die Bedingungen, unter denen Wissenschaft als Beruf im Hellenismus möglich war (Philosophie und Wissenschaft, S. 158–176). Die Könige profilierten sich als Förderer der Wissenschaften, teilten jedoch die "konservative Auffassung der griechischen Öffentlichkeit, derzufolge die theoretische Betrachtung ihren Zweck in sich selbst trug" (S. 163) und haben nur selten systematisch Forschung und Entwicklung betreiben lassen. Die Gegenbeispiele – hier berühren sich die Texte von Scholz und Burkhard Meißner (Die Kultur des Krieges, S. 202–223) – kommen aus dem militärischen Bereich: Die Massenheere der Zeit waren mit einer ganzen Palette von Apparaten zur Führung von Belagerungskriegen ausgerüstet, deren Technik verbessert wurde.

Die bildende Kunst ist seit Alexander dem Großen "nur im Verhältnis zum Herrscher" (S. 309) zu verstehen, so Gerhard Zimmer; die Vielfalt der Formen und Stile ist direkt und indirekt Produkt der Repräsentationsbedürfnisse konkurrierender Monarchien (Die Nähe der Macht. Neue Aufgaben für die Kunst, S. 284–309). Der Befund für die Literatur ist dagegen weniger eindeutig. Bernd Effe versteht speziell die Prosa des Hellenismus als Resultat eines Publikumswunsches nach Unterhaltung (Literatur als Spiegel epochalen Wandels, S. 260–283): Analog zur Neuen Komödie ist der Liebesroman, dessen Anfänge hier zu sehen sind, inhaltlich gekennzeichnet vom Rückzug ins Private, einem Reflex auf "ein Lebensgefühl existenzieller Verunsicherung und Gefährdung" (S. 283).

Drei Aufsätze behandeln den Kulturkontakt als das Merkmal des Hellenismus schlechthin. Aus griechischer Perspektive erweist Hilmar Klinkott (Griechen und Fremde, S. 224–241) das zunehmende Aufweichen der Konfrontation zwischen ‚Griechen‘ und ‚Barbaren‘ innerhalb der "hellenistischen Vielvölkerreiche" (S. 241) als einen langfristig wirksamen, stabilisierenden Faktor. Mit fortschreitender Integration sank die Bedeutung ethnischer Unterschiede, während die Annäherung der kulturellen Bildung von den Quellen stärker betont wird (S. 240). Mit dem Judentum gelang eine solche symbiotische Beziehung dagegen nicht, so dass Klaus Bringmann letztlich stärker von Konflikten und Abgrenzung berichten muss (Judentum und Hellenismus, S. 242–259).

Hans-Ulrich Cain handelt von einem ausgesprochenen Erfolgsmodell (Die Hellenisierung Roms, S. 310–332). Parallel zur Übernahme der Hegemonie über die hellenistische Staatenwelt, verfolgte die Oberschicht der Stadt Rom mit erheblichem Aufwand geradezu ein Programm der Selbst-Hellenisierung, das für die Ausnahmegestalten der untergehenden Republik ebenso Maßstab ihres Handelns war, wie es eine Grundlage des augusteischen Principats wurde.

Dem scheinbar trockenen Sujet zum Trotz (Quellen. Bestand, Methoden und Neufunde, S. 333–354), ist Boris Dreyers Beitrag einer der Höhepunkte des Bandes. Alle Aufsätze argumentieren souverän mit den Quellen. Dreyer ruft kenntnisreich und auf aktuellem Stand in Erinnerung, woher wir diese Quellen haben und wie sie zunächst in Kooperation mit den Nachbardisziplinen erschlossen werden müssen, ehe sie der Geschichtswissenschaft zur Verfügung stehen – ein Plädoyer für die Zusammenarbeit über Disziplinengrenzen hinweg.4

Mit einem Text, der nochmals alle Problemfelder einer Kulturgeschichte des Hellenismus anspricht, beschließt Hans-Joachim Gehrke den Band (Der Hellenismus als Kulturepoche, S. 355–379). Aus unterschiedlichen Perspektiven überprüft Gehrke die Tragfähigkeit der oft kritisierten und doch als Arbeitshypothese bisher nicht ersetzten Begriffsprägung Droysens und warnt davor, Epochengrenzen zu verabsolutieren: Im wissenschaftlichen Diskurs über Anfangs- und Endpunkte, in der Reflexion darüber, ob Kontinuitäten oder Brüche höher zu bewerten seien5, steckten zu viele neue Einsichten. Nach Überlegungen wie diesen kann Gehrke dann auch die (rhetorische?) Frage stellen "ob Alexander wirklich Epoche gemacht hat" (S. 379).

Indem er sich Fragen wie diese erlaubt und auf eine Vielzahl weiterer Fragen glänzende Antworten gibt, zeigt der vorliegende, verdienstvolle Band – und dessen ist sich Gregor Weber in seinem Schlusswort bewusst (Bilanz und Perspektiven, S. 379-388) – das große Potential auf, das in neuen Herangehensweisen an bekanntes Material liegt.

Anmerkungen:
1 In englischer Sprache gibt es allein zwei neuere einschlägige ‚Begleiter‘: Glenn R. Bugh (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Hellenistic World, Cambridge 2006 und Andrew Erskine (Hrsg.), A Companion to the Hellenistic World, Oxford 2003. Ein französischer Tagungsband nähert sich der Kulturgeschichte ebenfalls an: Jean-Christophe Couvenhes (Hrsg.), Transferts culturels et politique dans le monde hellénistique, Paris 2006.
2 Regionen, die westlich von Sizilien liegen, bleiben ebenso ausgespart wie die Gebiete östlich des Zweistromlandes.
3 Die Tanagräerinnen sind Tonfiguren, die Frauen beim kultischen Tanz abbilden und als Votivgaben die gute Bürgerin darstellen.
4 Boris Dreyer weist auch auf Neufunde hin, deren spektakulärster sicher ein unpublizierter Germanicus-Altar aus Metropolis ist (S. 348–354).
5 Etwa die andauernde Vitalität der "Polis als Lebensform" (S. 363) oder das "Epochenjahr 30 [v.Chr.]" (S. 378).

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