Dominik Trutkowski: Der Sturz der Diktatur

Cover
Titel
Der Sturz der Diktatur. Opposition in Polen und der DDR 1988/89


Autor(en)
Trutkowski, Dominik
Reihe
Mittel- und Osteuropastudien 5
Erschienen
Berlin 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
162 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eckert, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

Die Diskussion um Möglichkeit, Notwendigkeit und Elemente einer alle Europäer einende, historischen Erinnerung oder gar Meistererzählung begann bereits vor Jahren. Inzwischen liegen verschiedene Sammelbände, einige Monographien und Versuche Ländergrenzen überschreitender Geschichtslehrbücher vor. Trotzdem sind Grundfragen dieses geschichtspolitischen Projekts noch ungeklärt. Dazu gehört, ob Europa wirklich mehr als ein grenzenloser Wirtschaftsraum sein sollte. Würde dies mit einem Ja beantwortet werden, dann wäre zu klären, welche gemeinsamen geistigen und historischen Grundlagen unser Kontinent haben könnte. Zuerst wird dabei an gemeinsame Wurzeln in der klassischen Antike, im Judentum und im christlichen Glauben zu denken sein. Doch reicht dies nicht aus. Auch die Aufklärung und ein spezifisches Menschenbild könnte Europa einen. Gleichzeitig sind die von europäischen Völkern gegeneinander geführten Kriege genauso wenig zu vergessen, wie nationalsozialistischer und kommunistischer Massenmord im 20. Jahrhundert. Besonders wichtig erscheint es jedoch, die europäischen Traditionen von Widerstand gegen Fremdherrschaft und Tyrannei wieder ins Bewusstsein zu heben. Dieser Kampf prägte Europa, und zu diesem Aufbäumen gegen ungerechte Verhältnisse gehören auch der Widerstand und die Opposition gegen die kommunistischen Diktaturen.

Die Erinnerung an das widerständige Verhalten im „Realsozialismus“ ist in der Bundesrepublik sowohl wissenschaftlich fundiert als auch in zahlreichen Institutionen bleibend verankert. Das ist in den ostmitteleuropäischen Ländern so nicht der Fall, und der Erinnerungsprozess kommt oft nur gebremst voran. Nun wäre es jedoch nicht richtig, eine „Erinnerungs-DIN“ an Deutschlands östliche Nachbarn anlegen zu wollen. Die Frage ist jedoch berechtigt, wie die Arbeit an einer gemeinsamen Erinnerung beschleunigt und unterstützt werden kann. Ein immer wieder empfohlener Weg ist der von vergleichenden Untersuchungen von Widerstand und Opposition in verschiedenen Ländern des Moskauer Imperiums. Hier liegen inzwischen erste Ergebnisse besonders für den Vergleich der DDR mit Polen und der Tschechoslowakei vor. Vor diesem Hintergrund gelingt es Dominik Trutkowski, mit seinem vergleichenden Ansatz des Sturzes der Diktaturen 1988/89 in Polen und in der DDR durchaus Neues zu präsentieren. Dies wird auch dadurch ermöglicht, dass er seine Analyse in allgemeine Gesellschaftsstrukturen und das alltägliche Leben einzupassen versteht und er dabei weit über den im Titel genannten Zeitraum hinausgeht. Auch dies ist ein Beweis dafür, dass der historische Vergleich immer noch eine der besten Methoden ist, sich der Zeitgeschichte zu nähern.

Der Verfasser schildert überzeugend, dass in Polen die kommunistische Partei die einzige zugelassene politische Kraft war. Das formale Mehrparteiensystem diente wie in der DDR nur der Machtsicherung der Kommunisten. Ähnlich war in beiden Staaten der absolute kommunistische Machtwille auf der Legitimationsgrundlage des Marxismus-Leninismus beim gleichzeitigen Aufrechterhalten eines demokratischen Scheins. Aber auch die Unterschiede zwischen Polen und der DDR werden in Trutkowskis Arbeit deutlich. Dabei ist für Polen prägend, dass die mangelnde Versorgung der Bevölkerung selbst mit Lebensmitteln den Alltag ganz anders bestimmte, als das bei den Ostdeutschen der Fall war, dass die Polen einen starken nationalen Rückhalt in der katholischen Kirche hatten und in der Tradition zum einen des Widerstandes, zum anderen des „Erduldens“ lebten. Antisowjetismus war weit verbreitet und viele Polen stellten die Gesellschaft als „Wir“ dem System als „Sie“ entgegen. Dagegen war die DDR von der Situation der deutschen Zweistaatlichkeit geprägt, die von vielen als Sühne für Auschwitz und den von Deutschland zu verantwortenden rassenideologischen Aggressionskrieg akzeptiert wurde. Darauf basierte lange Zeit eine partielle Identifikationsbasis zwischen ostdeutscher Bevölkerung und Regime.

Auf die Entwicklung der Opposition in beiden Ländern blieben diese Unterschiede nicht ohne Auswirkungen. Trutkowski gleichwohl lässt den militanten Widerstand in Polen gegen das kommunistische Regime bis Anfang der 1950er-Jahre ebenso unberücksichtigt, wie den grundsätzlichen Widerstand in der DDR bis zum Bau der Berliner Mauer. Stattdessen schildert er die Entwicklung der Solidarność ab 1980/81. Den Schwerpunkt legt er auf die Schilderung der Streikwelle von April 1988 und deren Folgen für die unabhängige Gewerkschaft, die die Situation erfolgreich dazu nutzte, das Heft des politischen Handelns in die Hand zu nehmen. Die Arbeiter sorgten für die Wiederbelebung der Solidarność; ihre unmittelbaren materiellen Belange waren für deren Führung aber nur von untergeordneter Bedeutung. Als Entscheidend für die künftige Entwicklung erwies sich die Verbindung der Gewerkschaftsbewegung mit dem Wert der Freiheit, der die katholische Kirche entgegen der allgemeinen Annahme eher neutral gegenüber stand. Anders als in der DDR war der kommunistischen Führung in Polen bereits 1988 klar geworden, dass sie die politische Krise ohne Öffnung zur Gesellschaft hin nicht mehr würde meistern können. Dies versuchte sie schließlich durch die Etablierung eines „Runden Tisches“ zu erreichen.

In der deutschen kommunistischen Diktatur entwickelte sich die Opposition durch Neustrukturierung bereits bestehender Gruppen ab Sommer 1989. Anders als in Polen gab es jedoch keine Streiks. Deren Rolle übernahm im gewissen Sinn der Beginn der Massenflucht der Ostdeutschen. Auf der anderen Seite kam es in Polen nicht zu den politischen Massendemonstrationen wie in der DDR im Herbst 1989. Insgesamt war das Mobilisierungspotential der Solidarność dem der ostdeutschen Opposition jedoch trotzdem um ein Mehrfaches überlegen. Gemeinsam waren dagegen die konsequente Ablehnung des Realsozialismus und der Anwendung von Gewalt. Unterschiede bestanden darin, dass polnische Oppositionelle früh auf die Errichtung einer Zivilgesellschaft setzten, während die ostdeutschen Bürgerrechtler lange von einem reformierten demokratischen Sozialismus träumten. Richtig geht Trutkowski davon aus, dass die Entwicklung in Polen für die ostdeutsche Opposition eine mobilisierende Wirkung hatte; nicht beantworten kann er jedoch die schon oft gestellte Frage, warum der Kontakt zwischen den Oppositionellen in beiden Ländern so gering gewesen ist.

Der Wert der Arbeit wird nur geringfügig durch kleinere Fehler beeinträchtigt. So ist es nicht zutreffend, dass die FDJ die einzige Jugendorganisation in der DDR gewesen wäre (S. 15), denn es gab auch christliche Bünde. Die Ostdeutschen besaßen in der Regel auch nicht private Wochenendhäuser außerhalb der Städte (S. 16), sondern eher eine in der Regel „Datsche“ genannte Gartenlaube. Auch die Möglichkeit einer angenommenen ständigen Flucht in die private „Nische“ sollte nicht überschätzt werden. Nicht richtig ist, dass die Ostdeutschen für die wenigen ihnen zugänglicher Länder immer ein Visum gebraucht hätten (S. 17). Für Polen und die ČSSR galt dies zumindest zeitweilig nicht. Falsch ist ebenfalls die Annahme, dass sich die Mehrzahl der Oppositionsgruppen in der DDR aus Akademikern zusammen setzte (S. 54). Richtig ist dagegen, dass die Intelligenz ganz überwiegend regimetreu war. Häufig waren oppositionelle Gruppen von evangelischen Theologen geprägt. Dass elf Personen die ostdeutsche Sozialdemokratie gegründet hätten (S. 55), trifft nicht zu, und den friedlichen Ausgang der Demonstration am 9 Oktober 1989 in Leipzig erzwangen nicht einzelne Persönlichkeiten und deren Engagement (S. 86), sondern die 70.000 Menschen auf den Straßen der Stadt. Und schließlich fand die gefälschte Kommunalwahl nicht am 7. Mai 1988 statt (S. 95), sondern ein Jahr später.

In der Zusammenschau ist Trutkowski jedoch grundsätzlich zuzustimmen, dass in der DDR die Friedliche Revolution vom Herbst/Winter 1989 von der Opposition hart erkämpft werden musste, diese dann jedoch entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung nehmen konnte. Insofern passt der Terminus „mobilisierte Opposition“. In Polen leitete die kommunistische Staatspartei dagegen den Systemwandel ab Herbst 1988 selbst ein. Dieses Angebot nutzte die Solidarność politisch geschickt. In beiden Fällen musste die konsequente Ablehnung der kommunistischen Diktatur trotz aller Unterschiede zum Zusammenbruch der totalitären Herrschaft führen. Dies macht es möglich, die Entwicklungen sowohl in der DDR als auch in Polen in den Zyklus ostmitteleuropäischer antikommunistischer Friedlicher Revolutionen einzuordnen, die zu den demokratischen Traditionen Europas gehören.

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