Titel
Fight Pictures. A History of Boxing and Early Cinema


Autor(en)
Streible, Dan
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
$ 65
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Stieglitz, Köln

„The machinery for taking the moving pictures attracted much attention. […] It was a picturesque scene, this twentieth-century arena, this machine-age gladiatorial contest. This house in darkness and the ring a white blaze of light […] and under the clustered arc lamps, in the blinding glare, the two battling elemental males.“

Mit diesen eindrucksvollen Zeilen begann Jack London, der stets sprachgewandte Chronist der unterbürgerlichen, weißen, männlichen Populärkultur der USA um die Wende zum 20. Jahrhundert, seinen Zeitungsartikel über den Weltmeisterschaftskampf im Schwergewichtsboxen zwischen Jim Jeffries und Gus Ruhlin im November 1901 in San Francisco. Moderne Technik, gleißendes Licht für Filmbilder, die den aufeinander einschlagenden Männerkörpern eine veränderte Aura verleihen – mit seiner Schilderung skizziert der Schriftsteller (und „white supremacist“) London große Teile der Geschichte(n), die Dan Streible, Associate Professor für Film Studies an der New York University, in seinem Buch erzählen und analysieren will: Die enge Verwebung, wechselseitige Beeinflussung und zum Teil parallele Entwicklung von modernem Boxsport und frühem Kino.

Über 200 „Boxfilme“ wurden zwischen 1894 und 1915 in den USA gezeigt, ein Genre, das ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Formate und Inhalte umfasste: Populäre (Titel-)Kämpfe in Ausschnitten oder in voller Länge, die gleichen Kämpfe, jedoch von den beteiligten oder ganz anderen Personen nachgestellt, kurze Sequenzen vom Training oder auch Portraits von Boxern im Zirkus oder im Varieté. Nur wenige Dutzend dieser Aufnahmen sind heute noch existent, doch zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften, Buchpublikationen und Copyrightanträge, die Programmhefte der Vergnügungsparks, Varieté-Theater und Nickelodeons sowie nicht zuletzt die Akten der Produktionsfirmen machen deutlich, wie beliebt diese Filme und wie bedeutsam das Boxen als Sujet der Pionierjahre des Films insgesamt waren – zu einer Zeit, als das Boxen in vielen Staaten der USA verboten war. Hieran knüpft Streible mit seiner Sozial- und Kulturgeschichte des Boxens im frühen Kino an und stellt dabei die These zur Debatte, dass diese Filmproduktionen einen entscheidenden Beitrag zur Modernisierung und Legitimierung des als anti-sozial und gewalttätig stigmatisierten Boxsports in den Vereinigten Staaten geleistet haben. Um dies zu untermauern, bettet der Autor seine Studie in drei unterschiedliche Forschungsfelder ein. Aus den „Film Studies“ adaptiert er Tom Gunnings Begriff des „cinema of attractions“, der insbesondere die grundsätzliche Andersartigkeit der Filme vor Beginn des „klassischen“ Kinos ab etwa Mitte der 1910er-Jahre betont, ihre Unterschiedlichkeit zu späteren Konventionen von Plot, Narration und Aufführungsbedingungen. Boxfilme vor 1915 sind in diesem Verständnis vor allem Teil eines umfassenden und facettenreichen Angebots kommerziellen Vergnügens und Spektakels. Sie sollten nicht so sehr aus ihren Inhalten heraus, sondern auch aus ihrem spezifischen Erleben verstanden werden. Im Zusammenhang mit der Sportgeschichtsschreibung verweist Streible vor allem auf die Arbeiten US-amerikanischer Autoren wie Stephen Riess, Allen Guttmann, Elliott Gorn oder anderer, die in ihren Beiträgen seit den 1980er-Jahren die immense Modernisierung der US-Sportszene um das Jahr 1900 herum dargelegt hatten. Dem Boxsport kam in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu, was nicht zuletzt mit seiner hohen geschlechtlichen Codierung zusammenhing, mit seiner Genese in urbanen, unterbürgerlichen Migrationskulturen und mit seiner Attraktivität für ein ebenso entsetztes wie fasziniertes Publikum der bürgerlichen Mittelschicht.1 Bei seinem Vorhaben schließlich, Film- und Sportgeschichte zu vereinen, bezieht sich Streible auf die sozialhistorischen Anstrengungen der letzten Dekaden, welche den Stellenwert von Massenmedien und Alltagskultur für die Geschichte der USA zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg besonders betont haben. Ausdrücklich kulturhistorisch argumentierende Arbeiten jüngeren Datums, die Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen im Zusammenspiel von Körperlichkeit, Geschlecht, „Rasse“ und anderen Kategorien analysieren, nennt der Autor in seinem Forschungsüberblick kaum oder gar nicht – ein Manko, auf das zurückzukommen sein wird.

Streible trägt fünf Fragekomplexe an sein Material heran. Der erste behandelt u.a. die Produktionsbedingungen der Filme, die am Geschäft beteiligten Firmen und ihre Vertreter und die zur Anwendung gekommenen technischen Entwicklungen. Ein zweiter Komplex widmet sich den in den Filmen zu sehenden Ereignissen und Personen, vor allem den Kämpfen und ihrem jeweiligen Stellenwert sowohl für den Boxsport als auch für die damalige Gesellschaft insgesamt. Drittens wendet sich der Autor bei seinen Überlegungen dem unterschiedlichen und vielschichtigen Publikum der Filme zu, wobei auch die zumeist wenig geachtete und oft kriminalisierte Boxszene aus Promotern oder etwa Glücksspielern in den Blick gerät. Weiterhin fragt Streible „What was said about the films?“ und thematisiert die bürgerliche Kritik von Reformgruppen, Kirchen und zumeist lokalen politischen Instanzen ebenso wie die umfassende Berichterstattung und Kommentierung in den Printmedien. Hier spricht er gerade die Rolle und Deutungsmacht der in diesem Zeitraum immer wichtiger werdenden „yellow press“ an. Fünftens schließlich untersucht der Autor die neue Filmindustrie in ihrem Verhältnis zu anderen Institutionen. Streible unterstreicht dabei neben den wechselseitigen Abhängigkeiten zur Presse die gleichfalls komplexen Beziehungen zur Geschäftswelt der Boxszene.

Streibel setzt dieses Programm im Wesentlichen chronologisch innerhalb von neun Kapiteln auf 290 Seiten Text um. Die ersten drei Abschnitte thematisieren die Jahre zwischen Mitte der 1890er-Jahre und 1904; sie schildern die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Produktionsfirmen (unter anderen Edison, Biograph, Vitagraph) mit ihren unterschiedlichen experimentellen Aufnahme- und Aufführungstechniken, ihre geschäftstüchtigen Annäherungsversuche an Boxer, Veranstalter und Sponsoren, ihre Erfolge und ihre Niederlagen bei den Versuchen, attraktive Bilder herzustellen und sie anschließend gewinnbringend an ein möglichst großes Publikum zu verkaufen. Darüber hinaus bekommt man einen beinahe enzyklopädischen Überblick über die bedeutenden (vor allem Schwergewichts-)Boxer jener Ära und ihrer „Schlachten“. Das ist für den Nicht-Fan eine manchmal ermüdende Lektüre, die aber in ihrem Verlauf zum Teil versteckte, wertvolle Einblicke in die US-Gesellschaft bietet. So zu sehen etwa im Zusammenhang mit den Diskussionen um die soziale Ächtung bzw. Regulierung des Sports oder dann, wenn Streible über das Boxen als Teil der Burlesque- und Vaudevillekultur dieser Jahre schreibt. Damit verbindet er auch wichtige geschlechterhistorische Fragen, etwa diejenige, ob die (distanzierten, schwarz-weißen, laut- und geruchlosen) Filme den Boxsport für ein weibliches Publikum attraktiv machten.

Die nächsten beiden Kapitel nehmen zwei Produktionsfirmen und deren Filme besonders in Augenschein. Die erste von ihnen, Lubin Company, spezialisierte sich sehr erfolgreich mit einem Nischenprodukt: „fake films“. Diese nachgestellten Reproduktionen von Boxkämpfen machten sich zum einen die Unwägbarkeiten von Aufnahmen bei öffentlichen Kämpfen (Fehler beim Dreh oder der Entwicklung der Filme, schlechtes Wetter, schlechtes Licht, hohe Kosten, Abhängigkeit von Veranstaltern usw.) zunutze und profitierten zum anderen davon, dass „Authentizität“ für große Segmente des damaligen Publikums eine weit geringere Bedeutung hatte als die Sensation bewegter (Kampf-)Bilder an sich. Die zweite Firma, Miles Bros., steht kennzeichnend für die zweite, konsolidierende Phase der Boxfilmproduktionen zwischen 1905 und 1915. Diese Jahre sahen zum einen den Aufbau einer oligopolen, studiobasierten Filmindustrie und zum anderen eine emotional hoch aufgeladene Debatte um die moralische Gefährlichkeit von Filmen insgesamt und Boxfilmen im Besonderen.

Diese Auseinandersetzung intensivierte sich besonders, nachdem Jack Johnson im Dezember 1908 nicht nur erster afroamerikanischer Schwergewichtschampion, sondern auch Filmstar wurde. Streible widmet den Johnson-Kämpfen und Johnson-Filmen die nächsten beiden Kapitel und erzählt auf diese Weise nicht nur die inzwischen bekannte Geschichte vom „Aufstieg und Fall“ des Boxers, seines Reichtums und seiner Berühmtheit, seiner in hohem Maße an Ideen von „Rasse“ und Sexualität gekoppelte Verfolgung und Kriminalisierung.2 Er versucht außerdem dieses Leben mit einer Sozialgeschichte des Kinogehens der afroamerikanischen Bevölkerung zu verknüpfen, bei welcher die Erfahrung des Kinobesuchs beinahe so wichtig war wie die Darstellung eines „schwarzen“ Siegers. Streible ist vorsichtig mit der Vokabel vom „empowerment“, doch gelingt es ihm hier durchaus, die Relevanz Johnsons und seiner verfilmten Kämpfe für die Bedeutungskonstruktionen afroamerikanischer Bevölkerungsteile deutlich zu machen. Im weiteren Verlauf dieses Abschnittes zeichnet Streible die rassistisch motivierten Regulierungsdebatten nach, die sich am Erfolg der Johnson-Filme entzündeten und schließlich zum faktischen Verbot von Boxfilmen nach 1915 führten. Das Schlusskapitel skizziert kurz die Konsequenzen dieser Entscheidung. Die Boxfilme machten den Sport noch populärer und als Gesellschaftsphänomen im wahrsten Sinne des Wortes sichtbarer, doch die Kulturwächter sorgten zunächst für ein Ende der gemeinsamen Geschichte und machten Boxfilme erst einmal zu „underground“-Produktionen.

„Fight Pictures“ basiert auf einer Dissertation, die Dan Streible 1994 an der University of Texas, Austin, verfasste. In der Zwischenzeit profilierte sich der Autor mit zahlreichen Artikeln, die sich im Umfeld der Studie bewegen und die ebenfalls Eingang in verschiedene Kapitel fanden. Diese Entstehensgeschichte erklärt einige Schwächen des Buchs, insbesondere die nur spärliche Rezeption der neueren kulturhistorischen Forschung zur US-Geschichte der „Progressive Era“ zwischen 1890 und 1920, die zum Teil eben deutlich jüngeren Datums ist als Streibles ursprüngliche Forschung. Auch die oft sehr ins Detail verliebten Schilderungen der Boxer und ihrer Kämpfe sind ein Indiz für eine nicht mehr zeitgemäße Sportgeschichte. Trotzdem bietet „Fight Pictures“ eine Vielzahl von interessanten und wichtigen Einblicken in das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Filmindustrie und Boxsport in den USA zwischen 1894 und 1915, die die Lektüre zu einem Gewinn werden lassen.

Anmerkungen:
1 Für eine kulturhistorisch interessante Perspektive auf diese Konstellation siehe Ribbat, Christoph, Sportsmänner: Interpretationen des Faustkampfs um 1900, in: Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf (Hrsg.), Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader. Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 183-200.
2 Diese Erzählstruktur wurde nicht zuletzt durch Ken Burns’ Dokumentarfilm aus dem Jahre 2004, „Unforgivable Blackness“, nachhaltig fortgeschrieben. Aus kulturhistorischer Sicht wäre es wünschenswert, sich von dieser so scheinbar nahe liegenden Konstruktion zu emanzipieren.

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