R. Bendel (Hrsg.): Vertriebene finden Heimat in der Kirche

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Titel
Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945


Herausgeber
Bendel, Rainer
Reihe
Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 38
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 670 S.
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Ploch, Oberschlesisches Landesmuseum, Ratingen (Hösel)

Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis einer Arbeitstagung des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte (Regensburg), die 2006 in Würzburg stattfand. Der Tagungsband soll einen Beitrag zum Verständnis der kirchlichen Vertriebenenarbeit im Nachkriegsdeutschland sowie der kirchlich-gesellschaftlichen Integrationsvorgänge und deren Folgen aus historiographischer Sicht leisten (S. IX). Darüber hinaus werden Probleme und Lösungen in Bezug auf Sicherung und Erschließung von Quellen zur Vertriebenenseelsorge behandelt.

Hervorzuheben ist, dass die Problematik des (Vertriebenen-)Katholizismus in der SBZ/DDR ausführlich thematisiert wird. Gleich im ersten Beitrag liefern Josef Pilvousek und Elisabeth Preuß eine Bestandsaufnahme über den aktuellen Forschungsstand und erläutern ein Projekt der Erfurter Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte zu katholischen Flüchtlingen und Vertriebenen in der SBZ/DDR. Die Rolle der katholischen Kirche bzw. der katholischen Flüchtlinge wurde von profangeschichtlichen Untersuchungen bisher nur am Rande behandelt, weil die Katholiken in der SBZ/DDR stets eine Minderheit stellten. Pilvousek und Preuß plädieren dafür, den Begriff „Integration“ zu überdenken und stattdessen – wie bereits in zeitgenössischen kirchlichen Quellen – von „Heimat/Beheimatung“ zu sprechen. Von Integration könne für die Zeit bis 1989 keine Rede sein, weil für die Flüchtlinge und gerade die Katholiken aus der Ablehnung des totalitären Systems die Ablehnung einer Integration in die DDR-Gesellschaft resultiert sei (S. 21). Dennoch konnte die „Aufgabe der Beheimatung innerhalb der Kirche“ (S. 26) in Angriff genommen werden, die regional unterschiedliche Züge annahm – nicht selten gab es inmitten der protestantisch geprägten Gebiete überhaupt keine katholische Infrastruktur, so dass sich erst „Quasigemeinden“ (S. 24) bilden mussten. Diesem Beitrag zu regionalen und lokalen Schwerpunkten folgen weitere Einzelstudien zum Seelsorgeaufbau in der SBZ/DDR sowie einer württembergischen Gemeinde.

Der zweite Teil der Publikation behandelt kirchliche Eliten in der Vertriebenenseelsorge. Hans-Jürgen Karp präsentiert Hinweise zur Biographie des Ermländer Bischofs und späteren ersten Vertriebenenbischofs Maximilian Kaller (1880-1947). Von polnischen Historikern wurde Kaller lange Zeit einer aktiven Germanisierungspolitik bezichtigt. Dieser Umstand geht auf die Sprachenverordnung der Nationalsozialisten zurück, die die polnischsprachige Seelsorge betraf. Im Amtsblatt der Diözese Ermland ist jedoch keine solche Verordnung verzeichnet. Zwar musste Kaller auf Druck der Nationalsozialisten den Gebrauch der polnischen Sprache im Gottesdienst vorübergehend suspendieren. Andernfalls drohten der katholischen Kirche erhebliche Repressalien, wie beispielsweise der Danziger Bischof Splett erfahren musste, als er den Gebrauch des Polnischen bei der Beichte in der Diözese Kulm-Pelplin trotz des Verbotes aufrechterhalten wollte. Dass Kaller die polnischen Gläubigen vernachlässigt hätte, wäre jedenfalls unzutreffend. So war er während des Krieges darum bemüht, dass eine seelsorgerliche Betreuung der polnischen Zwangsarbeiter nicht unterbunden wurde. Weiter zu erforschen wäre indes die Einstellung Kallers zum Krieg. Insbesondere wird kontrovers diskutiert, ob die Verlautbarungen der katholischen Amtsträger, unter ihnen auch Kaller, zur Stabilisierung der Kriegsführung beigetragen haben.1

Ein anderer Repräsentant der kirchlichen Vertriebenenelite war der Breslauer Weihbischof Joseph Ferche (1888-1965), der 1946 Weihbischof von Köln wurde. Sebastian Holzbrecher skizziert Ferches Lebensweg. Nach seiner Vertreibung aus Schlesien hielt sich Ferche kurzzeitig in Berlin, Görlitz und Erfurt auf. Die Anbindung des Weihbischofs an seelsorgerliche Strukturen in der SBZ gestaltete sich jedoch sehr schwierig. Als Ferche 1946 das Angebot des Kölner Erzbischofs Josef Frings bekam, als zweiter Weihbischof in der Rheinmetropole tätig zu werden, willigte er ein. Bisher gab es Vermutungen, dass die Offerte Ferche eventuell unerwartet erreichte. Ausgehend von neuesten Forschungen widerspricht Holzbrecher dieser These vehement. So habe sich der Weihbischof mittels mehrerer Schreiben an westdeutsche Bischöfe um einen neuen Wirkungsbereich bemüht, da ihm geeignete Möglichkeiten in der SBZ gefehlt hätten. Holzbrecher bekräftigt, dass Ferche unter vielfältigen Integrationsproblemen zu leiden gehabt habe, an denen er nicht ganz unbeteiligt gewesen sei. Sein Wunsch nach neuen Arbeitsfeldern sei zudem von der Integrationsunwilligkeit der westdeutschen Ordinarien von Fulda, Paderborn und Osnabrück verstärkt worden, deren Bistumsteile in der SBZ lagen und für den westdeutschen Klerus unzugänglich blieben. An diesen Beitrag schließt sich eine Projektbeschreibung von Ulrike Winterstein an, die die Integration vertriebener klerikaler Eliten in Sachsen untersucht.

Der dritte Teil der Publikation widmet sich intergenerationellen Vertreibungserfahrungen. Christian-Erdmann Schott beleuchtet die Rolle der evangelischen Kirche bei der Integration der Vertriebenen. Auch die protestantischen Ostdeutschen mussten gleich nach ihrer Ankunft in den Westzonen feststellen, dass sie nicht willkommen waren. Dabei trat zusätzlich das Problem auf, dass die aus den verschiedenen Regionen stammenden Evangelischen durch unterschiedliche Bekenntnisse und kirchliche Ordnungen geprägt waren. Schott stellt fest, dass die seelischen Verwundungen der Vertriebenen von professioneller psychologischer und seelsorgerlicher Seite nie wirklich bearbeitet worden seien, weil solche psychotherapeutischen Behandlungsmethoden bis in die 1980er-Jahre nicht verbreitet waren. Zudem wurde die offizielle evangelische Deutung des Vertreibungsgeschehens als Gericht Gottes von den Vertriebenen selbst weitgehend abgelehnt. So taten sich zwischen Kirche, Gesellschaft und Vertriebenen oft unüberbrückbare Differenzen auf. Schott resümiert, dass die evangelische Vertriebenenforschung noch zahlreiche Felder vor sich habe.

Ganz anders war das Verhältnis der katholischen Ermländer zu ihrer Kirche, wie Karolina Lang erläutert. Das persönliche Engagement von Bischof Maximilian Kaller für die Vertriebenen war gemeinschaftsstiftend, was etwa erklärt, warum die Ermländer keine Notwendigkeit verspürten, sich in der Form einer Landsmannschaft zu organisieren. Die von Bischof Kaller personifizierte Kirche erwies sich als die einzige organisations- und mobilisierungsfähige Kraft.

Im vierten Teil des Buches stellt Martin Zückert ein Forschungsprojekt des Collegium Carolinum zur Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder im 20. Jahrhundert vor. Er plädiert für eine intensivere Untersuchung des dortigen konfessionellen Milieus, das in den politischen Umbrüchen von 1945 und 1948 (vollständige Machtübernahme durch die Kommunisten in der Tschechoslowakei) starken Wandlungen ausgesetzt war.

Einen gesonderten Teil bilden Überlegungen zu „Perspektiven und Strategien der Archivsicherung“. Die Leitfrage ist dabei, inwieweit Diözesanarchive (und Diözesanleitungen) mit den jeweiligen Vertriebenengruppierungen kooperieren können. Als vorbildlich kann die Zusammenarbeit des Erzbistums München mit der Ackermann-Gemeinde bezeichnet werden, einem 1946 gegründeten Kreis sudetendeutscher Katholiken. Es folgen Überblicke zur Sicherung des tradierten Kulturguts der heimatvertriebenen Ostpolen (überwiegend aus dem Wilnaer und Lemberger Raum, der nach 1945 an die Sowjetunion fiel) sowie zur Vertreibungsthematik in tschechischen und slowakischen Archiven. Im Schlusskapitel, das mit 345 Seiten gut die Hälfte des Buches ausmacht, finden sich Quellentexte aus dem Bistumsarchiv Görlitz zur Bewältigung der Kriegsfolgen und des schlesischen Flüchtlingsproblems im Gebiet des heutigen Bistums Görlitz.

Insgesamt stellen die Beiträge eine gelungene Komposition dar. Der Tagungsband wirft wichtige Fragen auf, benennt den aktuellen Forschungsstand und die Forschungsdesiderate. Außerdem wird die Archivlage in den betroffenen ostmitteleuropäischen Ländern präsentiert, wohin sich bisher nur wenige deutschsprachige Vertriebenenforscher vorgewagt haben.

Anmerkung:
1 Vgl. Żurek, Robert, Die Haltung der katholischen Kirche in Deutschland gegenüber den polnischen Katholiken im Zweiten Weltkrieg, in: Inter Finitimos 3 (2005), S. 11-51, hier S. 17-21, oder Leugers, Antonia, „Opfer für eine große und heilige Sache“. Katholisches Kriegserleben im nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg, in: Boll, Friedhelm (Hrsg.), Volksreligiosität und Kriegserleben, Münster 1997, S. 157-174, hier S. 171.