A. Neven DuMont (Hrsg.): Jahrgang 1926/27

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Titel
Jahrgang 1926/27. Erinnerungen an die Jahre unter dem Hakenkreuz


Herausgeber
Neven DuMont, Alfred
Erschienen
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Kulturwissenschaftliches Institut Essen/Technische Universität Chemnitz

Unter dem wenig originellen Titel „Im Schatten der Vergangenheit“ entfachte der „Focus“ im Sommerloch des letzten Jahres eine ebenso wenig originelle Mediendebatte über die NSDAP-Mitgliedschaften bekannter Persönlichkeiten, die heute um die 80 Jahre alt sind.1 Journalisten des „Focus“ hatten Parteimitgliedskarten des Kabarettisten Dieter Hildebrandt und der Schriftsteller Martin Walser und Siegfried Lenz aufgestöbert, die zur Zeit ihrer Aufnahme in die NSDAP zwischen 16 und 18 Jahre alt waren. Alle drei versicherten, sich nicht erinnern zu können, einen Aufnahmeantrag unterschrieben zu haben und von ihrer einstigen Parteimitgliedschaft nichts gewusst zu haben.

Wie schon anlässlich der Entdeckung der NSDAP-Mitgliedschaft des Literaturwissenschaftlers Walter Jens im Jahr 2003 wurde daraufhin in den Medien erneut die Frage diskutiert, ob es Aufnahmen in die NSDAP ohne Wissen der Betroffenen gegeben haben könnte. Implizit ging es bei dieser erneuten Diskussion – zumal vor dem Hintergrund des Falles von Günter Grass, dessen Mitgliedschaft in der Waffen-SS im Jahr zuvor öffentlich diskutiert worden war – einmal mehr um die Frage, ob Hildebrandt, Walser und Lenz ihre jugendliche Parteiangehörigkeit möglicherweise über Jahrzehnte hinweg wissentlich verschwiegen hatten.

Zwar suggerierte der „Focus“ unter Berufung auf Historiker, die Mitgliedschaft sei „vermutlich freiwillig“ zustande gekommen, hob aber im Text explizit hervor, die drei seien damals „junge Burschen“ gewesen, „die natürlich nicht Stützen des Systems“ gewesen seien.2 Ein skandalisierender Pauschalangriff auf irgendjemanden erfolgte jedenfalls nicht, und die anschließende Mediendebatte verlief recht moderat. Dennoch unterstellte Hildebrandt dem Magazin „vorsätzliche Rufschädigung“ und dachte gar öffentlich über eine Klage nach.3

Schützenhilfe kam bald aus Köln: Der erfolgreiche Verleger Alfred Neven DuMont, geboren 1927, bat ausgewählte Angehörige der Jahrgänge 1926/27, ihre Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre schriftlich festzuhalten. Es gehe dabei, so Neven DuMont, schlicht um „die Beantwortung der Frage: Wie war es damals wirklich?“ (S. 8). Denn es habe „groteske Züge, wenn Einzelne, vornehmlich Journalisten, die ihren Lebtag nie einen politischen Druck erlebt haben, heute als Ankläger dieser Generation auftreten, ohne sich die ungeheure Unterdrückung der damaligen Zeit bewusst zu machen“ (S. 10).

Dieser empfundenen Anklage soll die Anthologie „Jahrgang 1926/27. Erinnerungen an die Jahre unterm Hakenkreuz“ mit 27 Erinnerungs-Essays entgegenwirken. Der Autorenkreis weist in zweifacher Hinsicht ein Ungleichgewicht auf: Unter den Autoren sind nur vier Frauen und nur ein Ostdeutscher, und zwar Günter de Bruyn. Unter den Westdeutschen finden sich neben Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz und Alfred Neven DuMont Namen wie Wolf Jobst Siedler, Hermann Lübbe, Hans-Dietrich Genscher, Hans-Jochen Vogel und Uta Ranke-Heinemann. Man merkt der Zusammensetzung der Autoren an, dass man sich um unterschiedliche politische Couleurs der alten Bundesrepublik bemüht hat. Als „weitgehend repräsentativ“ (S. 11) kann die Auswahl dennoch nicht gelten, schon wegen des Übergewichtes an Männern und dem Fehlen eines ostdeutschen Reflexions- und Erinnerungshorizontes.

Wenig repräsentativ für die zeitgenössische deutsche Bevölkerung scheint auch das politische Elternhaus der meisten Beiträger zu sein: Wenn die Eltern überhaupt erwähnt werden, so zeichnen sie sich in der Erinnerung der Autoren durch Distanz, wenn nicht gar Gegnerschaft zum NS-Regime aus – wobei diese dann meist mit einer wertkonservativen oder christlichen Haltung einhergeht. Einzig Hans-Jochen Vogel, Karl Otto Conrady, Carl H. Hahn und Barbara Rütting beschreiben ein den Nationalsozialisten zeitweise oder durchgängig zugeneigtes Elternhaus. Rütting bezeichnet sich „Nazi-Kind“, das für „Führer und Vaterland“ jederzeit ihre Familie geopfert hätte (S. 43ff.).

Die Hitlerjugend, die für die Sozialisation des Jahrgangs eine wesentliche Rolle gespielt haben müsste, wird in vielen, aber nicht in allen Beiträgen thematisiert: Mal als unangenehme Pflicht oder gar als Institution, der man mit einer „regelrechte[n] HJ-Abscheu“ (S. 174) gegenüberstand, meistens jedoch als harmloser Ort von Sport und Spiel. So schreibt Erhard Eppler: „Wir trieben Sport, tummelten uns in Geländespielen, marschierten singend durch die Stadt [...]. Ja, es gab die 'Schulungsnachmittage'. Ganz selten, aber immerhin“ (S. 15).

Sehr präsent sind in dem Band die Einsätze als Flakhelfer oder als jugendlicher Wehrmachtssoldat. Dieter Hildebrandt etwa schreibt ausschließlich über diese Zeit. Hans-Dietrich Genscher, der Journalist Werner Holzer und andere leiten ihr gesellschaftliches Engagement in der Bundesrepublik direkt von ihren Fronterfahrungen in einem bereits verlorenen Krieg ab.

Hier und da gehen die Autoren auch auf ihr damaliges Wissen über NS-Verbrechen ein: „Mancher, auch ich, hatte schon im Flüsterton etwas davon erfahren, was die SS im Osten trieb“, schreibt etwa Erhard Eppler (S. 18). Hans-Jochen Vogel erinnert sich: „Im Krieg hörte ich von Deportationen und sah auch den gelben Stern, den die in der Stadt verbliebenen Juden tragen mussten“ (S. 72). Darüber hinaus werden das Erleben der Pogromnacht von 1938 oder auf mysteriöse Weise verschwundene Juden erwähnt, vor allem aber Begegnungen mit Häftlingskolonnen.

Die Schilderungen vom Krieg und der zeitgenössischen Wahrnehmung der NS-Verbrechen bleiben dabei seltsam vage und fragmentarisch. Fast möchte man meinen, hier noch ganz unmittelbar ein Stück der zeitgenössischen Realität vermittelt zu bekommen, in der das Erfahrene eben von den meisten nicht reflektiert wurde oder – im Falle von Jugendlichen – gar nicht reflektiert werden konnte. Ohnehin zeichnen sich viele Beiträge dadurch aus, dass sie das Erzählte nicht in einem historischen Gesamtzusammenhang verorten und das damals Erlebte mehr beschreiben als reflektieren, so dass manchmal die Perspektive des Jugendlichen tatsächlich noch durchscheinen mag.

Diverse Beiträge beschäftigen sich auch mit dem NSDAP-Beitritt Jugendlicher im Jahre 1944. Durchgehend wird betont, dass für Jugendliche – zumal bei Kriegsende – ein Parteieintritt völlig unattraktiv gewesen sei. Dieter Lattmann erinnert sich an kollektive Übernahmen in die NSDAP, von denen die Betroffenen nichts gewusst hätten. Reinhard Appel beschreibt, wie er und andere im Herbst 1944 „in Formation“ antreten mussten, um vorbereitete Antragsformulare für den Beitritt zur NSDAP zu unterschreiben (S. 150).

Ärgerlich indes sind die Passagen, die von der vermeintlichen „Arroganz der Nachgeborenen“ handeln, wie etwa Günter de Bruyn seinen Beitrag betitelt (S. 38ff.). Erhard Eppler spricht ironisierend von „klugen Journalisten“ und deren „klugen Folgerungen“ (S. 19). Carl H. Hahn fragt sich, wie die vermeintlichen Kritiker „sich wohl zu Zeiten des 'Dritten Reichs‘ oder während der Nachkriegszeit bewährt hätten“ (S. 88) und ist sich auch für einen späten Seitenhieb auf „unsere 68er“ (S. 84) nicht zu schade. De Bruyn echauffiert sich darüber, dass die NSDAP-Mitgliedschaften Jugendlicher gegen Kriegsende heute „öffentlich abgeurteilt“ würden: „Historisches Verständnis oder gar Verzeihen scheint bei den Leuten, die sich dem heutigen, durch Rechthaberei ausgezeichneten Zeitgeist völlig unterworfen haben, aus der Mode zu kommen“ (S. 42).

Es sind Textpassagen dieser Art, vor allem aber das Vorwort Neven DuMonts sowie der die Anthologie abschließende Beitrag von Hermann Lübbe, die dem Buch einen unangenehmen Beigeschmack verleihen. Lübbe mokiert sich in bekannter Schärfe über den „Moralstolz“ (S. 225) der Nachgeborenen. Dabei wolle man „gar nicht wissen, wie es denn wirklich gewesen ist“ (S. 224). Die eigentliche Absicht sei vielmehr, die „moralisch-politische Legitimität und Solidität dieser Republik in Frage zu stellen“, was allerdings seit dem „Untergang des sozialistischen Weltsystems“ obsolet geworden sei (S. 229).

Neven DuMont schließlich beginnt seine Einleitung mit der Klage, die Jahrgänge 1926/27 bedürften bei der Einreise nach Israel – im Gegensatz zu den Jahrgängen ab 1928 – noch eines besonderen Visums: „Kriegsverbrecher also, denen zu Recht der Weg nach Israel verwehrt werden sollte? Schwer denkbar, fast unmöglich“. (S. 7) Nun hat jedoch gerade Neven DuMont in Israel wenig zu klagen: 2006 kaufte er 25 Prozent der israelischen Haaretz-Gruppe, deren Flaggschiff die linksliberale Tageszeitung „Haaretz“ ist.4 Dort durfte er sogar Ratschläge bezüglich einer an Napoleon, Friedrich II. oder Moltke orientierten verbesserten Kriegsführung geben: „Ihr habt exzellente Soldaten, die kampfbereit sind, und eine gut ausgerüstete Armee. Aber offensichtlich habt ihr keine strategische Ausbildung.“5

„Jahrgang 1926/27“ ist daher – trotz einzelner lesenswerter und nachdenklicher Beiträge – ein sehr deutsches und auch ein sehr bundesrepublikanisches Buch: Trotz nie gekanntem Wohlstand und persönlichem Erfolg von dem Gefühl befallen, fundamental missverstanden zu sein und sich gegen irgendeine ominöse Kollektivanklage verteidigen zu müssen. Das Prinzip einer aggressiven Rechtfertigung, ohne eigentlich angegriffen worden zu sein, scheint dabei durchaus typisch für die so genannte „Flakhelfergeneration“ - man kennt es spätestens seit der Walser-Rede.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jobst-Ulrich Brand, Schatten der Vergangenheit, in: „Focus“ 27 vom 2. Juli 2007, <http://www.focus.de/wissen/bildung/Geschichte/zeitgeschichte-schatten-der-vergangenheit_aid_222050.html>, (Zugriff am 20. Juli 2008).
2 Ebd.
3 Vgl. „Focus weist Kritik zurück“, Onlinemeldung vom 20. Juli 2007,
<http://www.focus.de/kultur/buecher/dieter-hildebrandt_aid_65403.html> , (20.07.2008).
4 Vgl. u.a. Berit Schmierendorf, Der letzte Zeitungsbaron, in: „Die Zeit“ 4 vom 18. Januar 2007, <http://www.zeit.de/2007/04/Der_letzte_Zeitungsbaron>, (20.07.2008).
5 „Manchmal verursacht mir das Kummer“. Teil 2 des Interviews mit Alfred Neven DuMont, in: „Haaretz“ vom 25. August 2006, <http://www.haaretz.co.il/hasite/pages/ShArtPE.jhtml?itemNo=754026>,
(20.07.2008).

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