U. Gleixner (Hrsg.): Gendering Tradition

Titel
Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus


Herausgeber
Gleixner, Ulrike
Erschienen
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jeannine Kunert, Religionswissenschaft, WWU Münster und Universität Leipzig

Bereits in der Einleitung Ulrike Gleixners wird klar, wovon die Beiträge im Sammelband "Gendering Tradition" handeln werden: Es geht vor allem um die Rollen von Frauen in der protestantischen Frömmigkeitsbewegung, um ihre Bedeutung und wie diese seit spätestens dem 19. Jahrhundert sowohl von pietistischer als auch von kirchenhistorischer Seite marginalisiert wurden. Es geht also um die Entstehung eines verzerrten Bildes von Frauen in der Darstellung der Geschichte des Pietismus – einer Geschichte, die bis weit ins 20. Jahrhundert vornehmlich als die Geschichte "männlicher pietistischer Helden" erzählt wurde. Der Tenor des Bandes ist, dass Handlungsspielräume von Frauen, die ihnen noch in frühpietistischer Zeit offen waren, seit dem 18. Jahrhundert eingeschränkt und ihre Bedeutung im Nachhinein für die Anfangsphase des Pietismus heruntergespielt, wenn nicht gar negiert wurde.

Bei der vorliegenden Aufsatzsammlung zur Geschlechtergeschichte im Pietismus ist auffällig, dass sich fast ausschließlich Autorinnen – die Quote beträgt 13:1 – an diesem Projekt beteiligten. Auch insgesamt lässt sich feststellen, dass Wissenschaftlerinnen die Geschlechterforschung innerhalb der Pietismusforschung nach wie vor dominieren und hauptsächlich die Geschichte von Frauen in den Blick nehmen – und das, obwohl die Kategorie Gender ihrem Anspruch nach beide Geschlechter beinhaltet. "Wenn das Forschungsinteresse Frauen mit einbezieht", so schreibt Gleixner, "lässt sich die Geschichte des Pietismus also durchaus als eine von Frauen und Männern schreiben" (S. 14). Die folgenden 14 Artikel sind allerdings überwiegend – wenn auch nicht ausschließlich – frauengeschichtlichen Fragestellungen gewidmet; männliche Protagonisten tauchen dann meist als Tradierer oder eben meist Nicht-Tradierer von Frauengeschichten auf, auch wenn mit den Aufsätzen von Ursula Caflisch-Schnetzler und Fritz Osterwald zwei Männer (Johann Caspar Lavater und Heinrich Pestalozzi) ganz im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.

"Gendering Tradition" stellt einen Angriff auf die Forschungsperspektive der männlichen Kirchenhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Die engen theologie- und kirchengeschichtlichen Betrachtungsweisen, die hier gebetsmühlenartig kritisiert werden, werden durchbrochen. Dagegen werden neue Ansätze und Forschungsperspektiven aufgezeigt, die aber im Grunde genommen gar nicht alle so neu sind, nur in der vornehmlich theologischen bzw. kirchengeschichtlichen Pietismusforschung zu lang ignoriert wurden.

Die 14 Artikel wurden sechs großen thematischen Abschnitten zugeordnet:

"Biographisierung und Geschichtsschreibung"
Jutta Taege-Bizer bespricht in ihrem Artikel die Entwicklung von der Selbstdarstellung der pietistischen Gräfin Benigna von Solms-Laubach (1648-1702) als fromme und aktive Mitregentin zur späteren Stilisierung ihrer Person als gottesfürchtige und hingebungsvolle Mutter, bei Ignoranz ihrer politischen Tätigkeiten.

Ähnliches stellt Marianne Jehle-Wildberger in ihrer Untersuchung zur St. Galler Pietistin Anna Schlatter-Bernet (1773-1826) fest. Die resolute und eigenständig theologisch denkende Anna Schlatter-Bernet nahm mit ihren internationalen Netzwerken eine wichtige Position innerhalb der Deutschen Christentumsgemeinschaft mit Sitz in Basel ein und gründete selbst in ihrer Heimatstadt einen Frauenmissionsverein. Auch bei ihr erfolgte in der weiteren, männlichen Auseinandersetzung mit ihrer Person eine Hagiographisierung, indem ihre Eigenständigkeit herabgespielt und ihre weibliche Unterordnung unter Gott und ihr Wirken als Gattin, Erzieherin, Hausfrau und Mutter betont wurden. Im Unterschied dazu wird sie in den Biographien ihrer weiblichen Nachfahren nicht dermaßen idealisiert, auch weil ihre Ecken und Kanten sichtbar bleiben.

Mit den Instrumenten von "kulturellem" und "kollektivem Gedächtnis" beschreibt Erika Hebeisen die pietistische Tradierung von Männern und Frauen in der Deutschen Christentumsgemeinschaft und fragt dabei, nicht immer ganz werturteilsfrei, nach der geschlechterspezifischen Produktion von Genealogien. Beispielhaft an Magdalena Miville-Strasser (1728-1757) und ihren weiblichen Nachfahren zeigt sie auf, wie Frauen und ihre eigenen Traditionsbildungen an den Rand gedrängt wurden, während in von Männern geschriebenen Geschichten vor allem Männer den Platz eines „pietistischen Helden“ zugewiesen bekommen.

Alle drei Autorinnen machen die Beobachtung, dass Biographien von Pietisten männerzentriert sind und der Prozess der Biographisierung männlichen Autoritäten unterstellt war. Die Frauen werden dabei selbst zu Opfern einer männlichen Geschichtsschreibung stilisiert. Diese Feststellung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Aufsatzsammlung.

"Traditionsbildung und Radikalpietismus"
Mirjam de Baar nimmt ihre Untersuchung zur Rezeptionsgeschichte der mitunter heftig diskutierten pietistischen Führerinnen Antoinette Bourignon (1616-1680) und Anna Maria van Schurman (1607-1678) zum Anlass, Kritik an den Definitionen des Pietismus und den damit verbunden Abgrenzungen von reformiertem und lutherischem Frühpietismus und (separatistischem) Radikalpietismus zu üben, da "[d]iese Typologien die konfessionellen und kirchengeschichtlichen Positionen der führenden männlichen pietistischen Theologen [reproduzierten]" (S. 100). Die Autorin stellt bei der Analyse der Kommunikationsnetzwerke, in denen Bourignon wie Schurman agierten, fest, dass diese sich partiell überschnitten und die Schriften beider von einem breiteren pietistischen Publikum gelesen wurden. De Baar sieht darin einen Beleg für die Unhaltbarkeit der von der Pietismusforschung bisher scharf gezogenen Trennlinien zwischen Personen und Gruppen aus dem frühneuzeitlichen Frömmigkeitsmilieu.

Diskursanalytisch nähert sich Eva Kormann der Rezeptionsgeschichte der Anna Vetter (1630-?) aus Ansbach, die göttliche Visionen hatte, öffentlich predigte und deswegen in Konflikt mit der lutherischen Orthodoxie geriet. Gottfried Arnold nahm ihren selbstverfassten Lebenslauf in seine "Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie" auf, von Feustking wurde ihre Geschichte für seine Polemik gegen den radikalen Pietismus missbraucht, den er als weibisch und irrational darstellt. Sie fand auch noch im Zedler Erwähnung, doch scheint sie bis zum 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten zu sein, um dann in wissenschaftlichen Untersuchungen wiederentdeckt zu werden.

Ruth Albrecht beschäftigt sich mit der Veränderung in der Wahrnehmung und Darstellung der theologischen Schriftstellerin Johanna Eleonora Petersen (1644-1724). Während sie im 17. Jahrhundert als eigenständige Gelehrte agierte, wurde ihr Wirken in der Kirchengeschichte im 18. und 19. Jahrhundert um ein weiteres Mal auf das einer frommen Pietistin, Ehefrau und Mutter reduziert. Die Rezeptionsgeschichte von Petersen ist für Albrecht ein Spiegelbild für die zunehmende Einschränkung der Handlungsspielräume von Frauen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts in einem von Männern geführten Pietismus.

"Auto/Biographie und Gruppenkultur"
Die zahlreichen Portraits von männlichen und weiblichen Angehörigen aus der Anfangszeit der Herrnhuter Brüdergemeine betrachtete Gisela Mettele für ihre Studie. Dabei fiel ihr auf, dass die Portraits in den Gebäuden der Herrnhuter zwar nach Geschlechtern getrennt gehängt wurden, die Darstellung der Personen und Bildaussage aber immer die gleiche ist, ein Hinweis auf die paritätische Machtverteilung der frühen Jahre der Herrnhuter. Zwar wurden die Bilder beider Geschlechter in das Archiv verbannt, doch im Zuge der Annäherung an die Landeskirchen wurden im besonderen Maß Frauen aus Entscheidungsgremien gedrängt, ihre Führungsrolle in der Anfangsphase der Gemeine negiert und eine männliche Genealogie der Herrnhuter Leitung konstruiert.

Mit dem Pfarrer- und Diakonissenbild im ostwestfälischen Protestantismus von 1870-1918 und dessen beinhalteten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit befasste sich Veronika Jüttemann. Dazu untersuchte sie Biographien von Pfarrern und Diakonissen ebenso wie deren bildliche Darstellung und stellt fest, dass beide Medien stark von pietistischen und bildungsbürgerlichen Idealen des 19. Jahrhunderts geprägt waren.

"Geteilte Helden – Geteilte Heldinnen"
In diesem Block wurden die bereits erwähnten Aufsätze von Ursula Caflisch-Schnetzler und Fritz Osterwald verortet, die beide durch ihre Fokussierung auf (die Tradierung von) männliche(n) Gelehrte(n) auffallen. Caflisch-Schnetzler widmet sich hauptsächlich Johann Caspar Lavaters (1741-1801) Wirken im "Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Pietismus" (S. 197) und seinem Werk "Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst". Von Lavaters Aufruf zu einer kritischen Selbstbeobachtung zum Zwecke eines gottgefälligeren Lebens schlägt die Autorin einen kurzen Bogen zur Beobachtung Lavaters von Frauen in seinem persönlichen Umfeld.

Osterwalders Beitrag fragt nach der Entwicklung Heinrich Pestalozzis (1746-1827) vom umstrittenen Reformpädagogen zum Schweizer Nationalhelden am Ende des 19. Jahrhunderts, wobei die Stilisierung Pestalozzis zum Helden mit der richtigen schweizerischen (!) Gesinnung stark von dem religiös konservativ ausgerichteten Heinrich Morf vorangetrieben und von staatlicher Seite zur Ausbildung eines schweizerischen Nationalbewusstseins benutzt wurde.

Der Prozess vor dem Zürcher Obergericht um die Tätigkeit der Dorothea Trudel (1813-1862), die als Heilerin in ihrem eigenen Sanatorium in Männedorf aktiv war, ist der Ausgangspunkt von Elisabeth Joris' Aufsatz. Die gerichtliche Auseinandersetzung war der Auftakt zur "Tradierung des außerordentlichen Ruf[s] Dorothea Trudel[s] als Opfer von staatliche[r] Willkür und Siegerin vor einem weltlichen Gericht zugleich" (S. 243) – ein Bild, das von der deutschsprachigen Schweiz in die Westschweiz, nach Frankreich und in die Heilungsbewegung der USA weitertransportiert wurde.

"Archiv und Traditionsbildung"
Brigitte Klosterberg und Andrea Kittel beschäftigten sich mit geschlechtsspezifischen, für die Pietismusforschung relevanten Quellen in deutschen Archiven. Während Klosterberg auf die für das Archiv und die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen spezifischen Quellenbestände zur Geschlechterforschung hinweist und zugleich zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Material auffordert, wirbt Andrea Kittel für die Einsicht in das Archivgut von privaten Familienarchiven, in denen sich Selbstzeugnisse von Frauen befinden, die nur selten in die großen staatlichen Archive Eingang fanden. Dabei kann entdeckt werden, wie wichtig Frauen für Tradierungen und Geschichtsschreibungen innerhalb von Familien waren. Zu den Familienarchiven treten dann noch die Archive von Institutionen wie bei Kittels Beispiel das Archiv der Evangelischen Diakonissenanstalt Stuttgart, das Auskunft über die Gruppenidentität von Diakonissen geben kann.

"Spurensuche und Bilder"
Die Reihe der Beiträge beschließt ein erfrischender Essay von Christel Köhle-Hezinger, der eine wissenschaftliche Perspektive auf den Pietismus und ihre eigenen Erfahrungen mit ihm zusammenführt und ein Gefühl für Lebensräume pietistischer Frauen und Männer erzeugt.

Dieser Sammelband bringt Beiträge der schweizerischen und deutschen Pietismusforschung zusammen, die eine zeitliche Schneise vom 17. bis zum 20. Jahrhundert schlagen. Dabei werden diverse systematische Ansätze wie etwa Netzwerkforschung, diskursanalytische Verfahren, Überlegungen zum "kulturellen" und "kollektiven Gedächtnis", Bildanalyse und medien- und verlagsgeschichtliche Aufarbeitungen zur Analyse des historischen Materials herangezogen. Beharrlich und anhaltend tönt die Kritik an der zu einseitigen, auf die Geschichte des pietistischen, männlichen Helden zielenden Pietismusforschung. Dieser Band ist sicherlich ein Lichtstreif am Horizont für all diejenigen, die an neuen Perspektiven, neuen Fragestellungen und neuen Methoden in der Pietismusforschung interessiert sind.

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