W. Gruner: Ein Schicksal, das ich mit sehr vielen anderen geteilt habe

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Titel
Ein Schicksal, das ich mit sehr vielen anderen geteilt habe. Alfred Kantorowicz - sein Leben und seine Zeit von 1899 bis 1935


Autor(en)
Gruner, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zenrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Die Biographie des Publizisten und Literaturwissenschaftlers Alfred Kantorowicz (1899-1979) ist exemplarisch für Lebensläufe seiner Generation, sofern es Juden und aktive Sozialisten betraf. Kantorowicz gehörte zu beiden Gruppen, war also, was Hans Mayer den „existenziellen“ wie „intentionellen“ Außenseiter nannte: Angehöriger einer gesellschaftlich marginalisierten Minderheit, der sich auf die Seite jener stellt, die die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen.

„Wie schreibt sich Geschichte in das Individuum ein?“, fragt Wolfgang Gruner zu Beginn seines bemerkenswerten Buches über Alfred Kantorowicz (S. 12). Darin zeichnet er die ersten dreieinhalb Lebensjahrzehnte eines Zeugen im Jahrhundert der Umbrüche und Katastrophen nach. Vor die Wahl gestellt, das umfangreiche Material teilweise in eine Gesamtbiographie zu übernehmen oder einen ausgewählten Lebensabschnitt detailliert zu schildern, hat sich der Autor für das Letztere entschieden. Doch sieht Gruner seine Studie, die 2005 in Kassel als Dissertation angenommen wurde, als Vorarbeit zu einer Gesamtbiographie, wofür er hoffentlich Zeit und Gelegenheit findet.

Alfred Kantorowicz wuchs in Berlin im scheinbar assimilierten jüdischen Mittelstand auf. Er meldete sich freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg, den er als Träger des Eisernen Kreuzes und als überzeugter Pazifist beendete. Daran anschließend studierte er Jura zum Broterwerb und Literaturgeschichte aus Passion in Berlin, Freiburg, München und Erlangen. Bis dahin war sein Werdegang typisch für Menschen seiner Herkunft und Generation. Die Dissertation über „Die völkerrechtlichen Grundlagen des national-jüdischen Heims in Palästina“, mit der Kantorowicz 1923 zum Dr. jur. promoviert wurde, zeigt ihn allerdings als Sympathisanten des Zionismus, und schon damit nahm er eine unter deutschen Juden damals zumeist abgelehnte Position ein. Gruner zeigt, dass Kantorowicz mit seinem Interesse am Zionismus gegen den im akademischen Milieu und speziell in Erlangen besonders starken Antisemitismus Stellung bezog.

Die folgenden Jahre arbeitete Kantorowicz als Journalist für verschiedene liberale Blätter und wohnte eine Zeitlang in Bielefeld. 1928/29 war er kurzzeitig Kulturkorrespondent der „Vossischen Zeitung“ in Paris – als Nachfolger von Kurt Tucholsky und als Vorgänger seines langjährigen Freundes Arthur Koestler. Der Aufstieg des Nazismus bewog den bisher durchaus auch an der „Konservativen Revolution“ interessierten (und kurzzeitig mit der Deutschen Staatspartei sympathisierenden) Kantorowicz 1931 zum Eintritt in die KPD. Letztlich war es, wie Gruner nachweist, Werner von Trott zu Solz, der ihn zu diesem Schritt veranlasste. „Den Parteijargon erlernt Kantorowicz schnell, ohne jemals mit dem Marxismus vertraut zu werden“, lautet Gruners bündiges Urteil (S. 345). Die Kommunisten würden, anders als die SPD und die schrumpfende bürgerliche Mitte, den Kampf gegen Hitler ohne Kompromisse führen. Vom Zionismus war keine Rede mehr: Das „Reich der Juden“ habe sich im vom Bürgerkrieg erschütterten Palästina „als ein klägliches Objekt der imperialistischen Politik ausgewiesen“ (S. 209). Gruner beschreibt einprägsam das radikale Milieu des „Künstlerblocks“ am Laubenheimer Platz in Berlin-Wilmersdorf, wo sich Kantorowicz und Koestler, Ernst Bloch und Axel Eggebrecht, Gustav Regler und Ernst Busch mit vielen anderen zusammenfanden, um politisch wie auch durch organisierten Selbstschutz dem vordringenden Nazismus Widerstand zu leisten.

1933 musste Kantorowicz nach kurzer Illegalität Deutschland verlassen und ging mit seiner Frau Friedel, die oft für den Lebensunterhalt sorgen sollte, nach Paris. Zum ersten Jahrestag der Bücherverbrennung gründete er dort die Deutsche Freiheitsbibliothek, die zum geistigen Zentrum von Exilautoren und ihrer verbrannten Bücher wurde und deren Arbeit Romain Rolland und André Gide unterstützten. Neben der ehrenamtlichen Tätigkeit als Direktor dieser Bibliothek arbeitete Kantorowicz als Generalsekretär des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS). Zu seinen politischen Aktivitäten gehörten seine Mitarbeit am „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“ (1934) sowie die Vorbereitung des Ersten Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur, der im Juli 1935 in Paris stattfand. Unter Kantorowicz’ Publikationen dieser Zeit ist ein Band mit dem programmatischen Titel „In unserem Lager ist Deutschland“ (1936) zu nennen.

Unvermeidlicherweise war das KPD-Exil in Paris von internen Spannungen geprägt, an die Kantorowicz in späteren Veröffentlichungen, so im „Deutschen Tagebuch“ (1959/61), immer wieder erinnerte. Gruner zeigt Kantorowicz’ erste Zweifel an der Politik der Parteiführung, relativiert sie indes zu Recht. Alle möglichen Differenzen wurden ohnehin sehr rasch durch das Engagement im Kampf gegen Franco überdeckt.

Denn sofort mit Beginn des Spanischen Bürgerkrieges schloss sich Kantorowicz den Internationalen Brigaden an. Dieses einschneidende Erlebnis ist nicht mehr Gegenstand von Gruners Arbeit, wenngleich immer wieder Ausblicke auf den Spanienkrieg erfolgen. Kantorowicz dokumentierte diese Zeit im „Spanischen Tagebuch“ (1948), das später in stark veränderter Fassung als „Spanisches Kriegstagebuch“ in der Bundesrepublik erschien. Gruner zieht beide Tagebücher heran, da sich Kantorowicz darin oft auf frühere Begegnungen mit dort erwähnten Personen bezieht. Der Quellenwert beider Tagebuch-Fassungen ist freilich einzuschränken: In textkritischer Analyse vergleicht Gruner, wie vor ihm Michael Rohrwasser, mögliche Auslassungen und Hinzufügungen der Zweit- gegenüber der Erstfassung und gelangt zum Schluss, Kantorowicz habe sich oft der „Selbsttäuschung“ ergeben, wenn er innerparteiliche Konflikte im Nachhinein zu Prinzipienfragen aufgebauscht habe (S. 342). Josie McLellans Arbeit zum gleichen Gegenstand scheint Gruner jedoch entgangen zu sein.1

1938 gelang Kantorowicz die Rückkehr nach Paris. Wie andere deutsche Emigranten wurde er mit seiner Frau am Beginn des Zweiten Weltkrieges von den französischen Behörden interniert, konnte aber 1940 in die USA ausreisen. In New York arbeitete er in der Auslandsredaktion der CBS, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ostberlin zurück, gab die Zeitschrift „Ost und West“ heraus und übernahm eine Professur für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Als Herausgeber der Werke Heinrich Manns wurde er einer breiten Öffentlichkeit bekannt. 1957, ein halbes Jahr nach dem Ungarn-Aufstand, brach er mit der DDR und ging in den Westen. Dort sah er sich als unabhängiger Linker. Im Kalten Krieg blieb er damit auch in der Bundesrepublik marginalisiert und erlangte erst in seinen letzten Lebensjahren öffentliche Anerkennung.

Nur manche biographische Einzelheit aus Kantorowicz’ Leben bis 1935 war bislang bekannt, darunter seine Liebesbeziehung zu Ernst Blochs späterer Frau Karola Piotrkowska. Vieles aber ist hier erstmals nachzulesen, so der Selbstmord von Kantorowicz’ Mutter, das schwierige Verhältnis zum Vater und zum Bruder oder die frühe Prägung durch die Reformpädagogik. Auch über Kantorowicz’ Lebensumstände als Journalist in Bielefeld, Berlin und Paris wie über problematische Freundschaften zu Hans Sahl oder Ernst von Salomon hat der Verfasser viel Neues zutage gefördert. Die wichtigste Quellenbasis bildet Alfred Kantorowicz’ Nachlass, den die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aufbewahrt. Doch hat der Verfasser weitere umfangreiche Bestände, so der Berliner Akademie der Künste und des Bundesarchivs, zu Rate gezogen. Wolfgang Gruners Buch ist jedem an deutscher Sozial- und Kulturgeschichte, insbesondere an intellektuellen Diskursen der Weimarer Republik Interessierten sehr zu empfehlen.

Anmerkung:
1 McLellan, Josie, The Politics of Communist Biography: Alfred Kantorowicz and the Spanish Civil War, in: German History, 22 (2004), S. 536-562. Vgl. auch dies., Antifascism and Memory in East Germany: Remembering the International Brigades 1945-1989, Oxford 2004.

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