Cover
Titel
Beyond the Canon. History for the Twenty-first Century


Herausgeber
Grever, Maria; Stuurman, Siep
Erschienen
New York 2007: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
$ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Redaktion Neue Deutsche Biographie

Der Begriff „Kanon“ bzw. „Canon“ bezeichnet heute im engeren Sinne sowohl in der englischen als auch in der deutschen Sprache eine Lektüreauswahl, deren Vermittlung ein Grundwissen bilden soll; zum Teil sind, damit verbunden, auch curriculare Lernformen und -ziele gemeint. Diese Bedeutungsweisen treffen nicht genau das, was im vorliegenden Band mit „Canon“ gefasst wird. Denn hier geht es zwar um die Vermittlung historischen Wissens – vor allem in der Schule –, doch diskutieren die Beiträge nur am Rande Praxisprobleme der Geschichtsdidaktik. Im Zentrum des Interesses steht vielmehr eine grundsätzliche Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn eines historischen Kanons als einer Meistererzählung, genauer gesagt, als der nationalen Meistererzählung. Mehr oder weniger behandeln alle 14 Texte die Frage, ob bzw. in welcher Form Bilder von der Nation vermittelt werden sollten. „Canon“ kann dabei, wie in Maria Grevers Aufsatz „Plurality, Narrative and the Historical Canon“, als „a shared framework of historical interpretations“, als „a dominant narrative“ begriffen werden (S. 40) oder, wie von Peter Seixas in seinem Beitrag „Who Needs a Canon?“, als staatlich verordnetes Geschichtsbild.

Dementsprechend vielfältig sind die Antworten: Die Autoren, die „Canon“ in Seixas’ Verständnis benutzen, tendieren dazu, die Forderung nach einem Kanon ganz abzulehnen. Dagegen treten jene, die Grevers Definition teilen, eher für einen Kanon ein, der im Sinne Habermasscher Diskursethik aus den Wünschen und Verhandlungen jener hervorgeht, für die er gedacht ist, und dadurch normative Gültigkeit gewinnt. Große Übereinstimmung aller Autoren findet man in der Ablehnung eines geschlossenen (nationalen) Geschichtsbilds, wogegen eine „caleidoscopic“, „plural“, „multiple“ oder „multi-voiced“ Geschichte eingefordert wird. Zudem teilen fasst alle Beiträger Grevers Ansicht vom „loss of grand narratives“ (S. 38).

Beeindruckend an dem Band ist seine Internationalität, die Untersuchungen zur Vermittlung der nationalen Meistererzählung in den Niederlanden, in Deutschland, Frankreich, Kanada und den USA vereint. Sie ist für den deutschen Leser vor allem deshalb interessant, weil sie einen viel hitzigeren Streit um die „Nation“ als bestimmende Größe historischer Bildung zeigt, als man dies aus deutschen Debatten gewohnt ist. Die für viele Staaten diagnostizierte Dominanz nationaler Erzählungen im schulischen Unterricht und anderen Medien historisch-politischer Bildung lässt sich für Deutschland nicht (mehr) behaupten, und so zeigt sich auch Hendrik Henrichs in seinen Ausführungen über „Truth, Power and Beauty: Rethinking the Nation in German Historical Museums“ begeistert von der narrativen Offenheit und politischen Pluralität der neuen Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum (wobei ihm die damit verbundenen Probleme allerdings entgehen). Die in den Texten vorgebrachten Argumente lassen sich also kaum für eine Diskussion historischer Bildung in Deutschland verwenden, zeigen aber Besonderheiten und Eigenarten dieser Diskussion auf, die im Wesentlichen eine Folge des gebrochenen Umgangs mit dem Nations-Begriff sind. Besonders deutlich wird dies in Peter N. Stearns’ Darstellung des US-amerikanischen Schulkanons, für den der Autor drei Funktionen herausarbeitet: die Amerikanisierung von Immigranten, die Definition einer nationalen Identität und die Bewusstmachung der außergewöhnlichen Stellung der USA in der Welt.

Die übrigen Ergebnisse des Bandes lassen sich nur schwer zusammenfassen. Dies liegt nicht allein daran, dass hier wie bei jedem Sammelwerk heterogene Untersuchungsthemen und -ziele vereint worden sind. Vielmehr münden die Texte nicht selten in Forderungen nach pauschalen geschichtspolitischen Positionen: Globalgeschichte statt Nationalgeschichte, Alltagsgeschichte statt politischer Geschichte, Aufklärung und Selbstbildung statt verordneter Bildung, soziale Integration statt nationale Vereinnahmung usw. Zumeist bilden die Debatten um Erinnerungsorte und um ein kollektives Gedächtnis den Hintergrund der Untersuchungen – wobei selten reflektiert wird, dass Erinnerung und Gedächtnis etwas anderes ist als Geschichte. Ohne Bezug auf diese Debatten, aber dennoch auf hohem theoretischem Niveau argumentiert der Beitrag „French School History Confronts the Multicultural“ von Nicole Tutiaux-Guillon, die ausgehend von einer Analyse des französischen Bürgerbegriffs für eine Veränderung des schulischen Kanons nach drei Maximen eintritt: Erstens müsse die Schule die späteren Bürger von Vorurteilen und irrationalem Glauben befreien, zweitens müsse eine politische Identität auf der Basis universaler demokratischer und republikanischer Werte vermittelt werden; und drittens müssten dabei die Formen wissenschaftlicher Rationalität eingeübt werden, die eine Universalisierung der gewonnenen Einsichten ermöglichten (S. 185). Tutiaux-Guillon ist zudem eine der wenigen, die die Persönlichkeit des Lehrers nicht für gänzlich ‚national programmierbar’ halten und deshalb nicht nur eine Veränderung von Lehrplänen und -inhalten für notwendig erachten, sondern auch ein Umdenken in der Lehre weg von der Konzentration auf Inhalte hin zu Dialogsituationen (S. 182). Eine originelle Forderung ist dies indes auch nicht.

Neben solchen theoretischen Problemen – wie der Gleichsetzung von Identitätsgewinnung durch Erinnerung und durch Geschichte, unzulässigen Verkürzungen, die etwa historische Bildung als vollständig auf dem nationalen Reißbrett planbar und exekutierbar erscheinen lassen, und viel benutzten, letztlich aber unbewiesenen Behauptungen (wie jener vom Ende der nationalen Erzählungen und vom Bedeutungsverlust der Nationen für die Identität der Menschen) – krankt der Band an einer häufig einseitigen politischen Sicht. Der Staat erscheint als ein Gegenüber, das seine Geschichtssicht, die nationale Meistererzählung doktrinär über den Kanon in den Bildungsmedien vermittle, um eine systemkonforme historische Identität zu schaffen. Diese einseitige Sicht wird verständlich, wenn man die Querelen um die Formulierung eines niederländischen Geschichtskanons berücksichtigt, die den Hintergrund dieses Bands abgeben1: Im Jahr 2005 richtete nämlich die niederländische Regierung – als Reaktion auf Debatten um die Konsequenzen multiethnischer Gesellschaften – eine neunköpfige Kanonkommission unter Vorsitz des Präsidenten der niederländischen Akademie der Wissenschaften, Frits van Oostrom, ein, die 2007 ihren Abschlussbericht vorlegte.2 Ein Jahr zuvor hatten bereits Kritiker dieser Kommission, zu denen auch die Herausgeber und zwei Autoren des vorliegenden Buchs zählen, den Band „Controverses rond de canon“ veröffentlicht3 und der Kommission ihr Festhalten an einer nationalen Perspektive und mangelnde sozialintegrative Kompetenz ihres Kanonentwurfs vorgeworfen.

Bei diesen Auseinandersetzungen bleiben bestimmte Fragen ungestellt oder werden nicht ausgewogen diskutiert – so zum Beispiel, ob es nicht ein Recht jedes Staats als institutionalisiertem Zusammenschluss seiner Bürger sei, das Angebot einer gemeinsamen Identität auf historischer Grundlage vorzulegen. So haben etwa die USA eine lange Tradition als Zuwanderungsland und zugleich eine lange Tradition als Staat mit einem ausgeprägten nationalen Kanon. Verhindert es dieser Kanon, dass sich eingewanderte Hispanics, russische Juden oder andere ethnische Gruppen heute als Hispanics, russische Juden etc. fühlen können? Wohl kaum. Ganz im Gegenteil: Der (schulische) Kanon bietet die Möglichkeit zu Mehrfachidentitäten, denn der Staat ist eine Sozialisationsinstanz unter mehreren. Hispanics, die in ihrer familiären Sozialisation eine Identität als Hispanics aufgebaut haben, erhalten in der schulischen Bildung der USA die Möglichkeit, auch eine US-amerikanische Identität aufzubauen, ohne ihre Ursprünge verleugnen zu müssen. Den Staat in die Pflicht zu nehmen, jeder Migrantengruppe eine eigene Identität anzubieten, erscheint als aberwitzig. Pluralität – verstanden als Bildungsziel – kann nie darin bestehen, jedem etwas Individuelles oder Gruppenspezifisches anzubieten, so gerecht dies auch klingt. Pluralität ist immer der Versuch einer Einheitsstiftung, innerhalb derer Vielheit möglich bleibt und erwünscht ist. Nicht „multi-voiced“ Geschichte, nicht Multi-Kulturalität darf das Ziel historischer Bildung sein, wie uns dieser Band glauben machen möchte, sondern Pluri-Kulturalität als Formulierung eines gemeinsamen Kulturzusammenhangs, in dem es jedem gestattet ist, seine Vorstellungen und Prägungen zur Sprache zu bringen.

Anmerkungen:
1 Zu dieser Diskussion siehe: van Dam, Peter, Ein Kanon der niederländischen Geschichte?, erscheint in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 18 (2007).
2 Van Oostrom, Frits P.; Slings, Hubert (Hrsg.), Entoen.nu (Dl. A + B + C). Rapport van de commissie ontwikkeling Nederlandse Canon, Amsterdam 2007.
3 Grever, Maria u.a., Controverses rond de canon, Assen 2006.