R. Roth u.a. (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945

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Titel
Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch


Herausgeber
Roth, Roland; Rucht, Dieter
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
770 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dorothee Liehr, Historisches Seminar, Universität Zürich

Trotz einer mannigfachen Politikverdrossenheit, die sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik bezüglich konventioneller Formen der politischen Partizipation offenbart habe, konstatieren Roland Roth und Dieter Rucht als Herausgeber des Handbuchs über soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945 eine Zunahme an neuen Formen des Engagements. Diese zeichneten sich vor allem durch kollektiven Protest gegen institutionalisierte Strukturen und Praktiken aus, der für die Konstituierung „sozialer Bewegungen“ zentral sei. Doch würden einzelne Protestereignisse, so die Definition, erst dann in eine Bewegung überführt, wenn „ein Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens sichert, das mit dem Anspruch auf Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels verknüpft ist“ (S. 13). War der Terminus „soziale Bewegung“ nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich „von demokratisch-menschenrechtlich orientierten progressiven Mobilisierungen reklamiert“ worden (S. 10f.), gelte es mittlerweile auch, zahlreiche rechtsextreme Manifestationen und Kundgebungen unter den Begriff zu fassen. Die von den Herausgebern festgestellte Aktualität „bewegte[r] Politik“ habe sie zu dem Handbuch motiviert, das „gerade auch für die Auseinandersetzung mit aktuellen Protesten Orientierungen anbieten“ solle (S. 10).

Angelegt als Nachschlagewerk nicht nur für Studierende diverser Gesellschaftswissenschaften, sondern auch für eine größere politisch interessierte Leserschaft, versammelt das Handbuch in seinem Hauptteil 21 Texte zu unterschiedlichsten Themenfeldern aus dem Bereich der Bewegungs- und Protestforschung, die sowohl das „doppelte Nachkriegsdeutschland“ als auch die Zeit nach der Vereinigung in den Blick nehmen. 62 Jahre nach Kriegsende und 18 Jahre nach dem Mauerfall geht es den Herausgebern darum, das historische Vermächtnis verschiedener sozialer Bewegungen und Kampagnen, „deren Brüche, Kontinuitätslinien und Neuanfänge“ aufzuzeigen, indem nicht nur ihre jeweiligen historischen Entwicklungen entfaltet, sondern auch ihre Vorgeschichten umrissen werden (S. 11).

Die Einleitung umfasst zunächst eine profunde Beschreibung des dem Werk zugrunde gelegten Begriffskonzepts „Soziale Bewegung“, entlang dessen analytischen Kriterien die meisten Texte perspektivisch ausgerichtet sind. In den Kapiteln zwei bis sieben wird ein „historisch-politischer Kontext“ des außerparlamentarischen Engagements ausgebreitet. Dem folgen die einzelnen Abhandlungen über „Bewegungen, Proteste und Themenfelder“ (Kapitel 8-28). Am Schluss ziehen die Herausgeber eine Bilanz, in der sie erstens verschiedene Deutungsangebote einer „inzwischen stark internationalisierten Bewegungsforschung“ (S. 35) skizzieren sowie zweitens hinsichtlich des Formen- und Themenwandels der Protestaktivitäten empirische Vergleichsdaten in Tabellen- und Diagrammform offerieren. Der Anhang enthält eine sich über den gesamten Zeitraum erstreckende problemorientierte Ereignischronologie, ein Abkürzungs- und ein Abbildungsverzeichnis, eine Autorenübersicht, ein 57 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis sowie ein umfangreiches Sachregister.

Die im Abschnitt zum „historisch-politischen Kontext“ vorgenommenen zeitlichen Zäsursetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte folgen den bekannten struktur- und ereignisgeschichtlichen Rahmenbedingungen. Arno Klönne betrachtet die unmittelbaren Nachkriegsjahre von der durch die Alliierten vollzogenen „stellvertretende[n] Revolution“ (S. 40) bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. Die ersten 17 Jahre der Bundesrepublik bis 1966, als „CDU-Staat“ bezeichnet, fasst Wolf-Dieter Narr zusammen, bevor Sven Reichardt die Phase der Großen und der Sozialliberalen Koalition schildert (1966–1974), für die er eine vielschichtige gesellschaftliche Liberalisierung konstatiert. Wolfgang Fach beschreibt den letzten die Alt-Bundesrepublik betreffenden Zeitabschnitt (1974–1989) unter dem Titel „Das Modell Deutschland und seine Krise“. Er beobachtet einen Wertewandel, durch den vermehrt so genannte „postmaterialistische“ Ansprüche zum Tragen gekommen seien (S. 94). Jan Wielgohs befasst sich mit den Voraussetzungen und dem Auftreten regimekritischer Aktionen und den daraus resultierenden politisch-alternativen Optionen in der DDR seit ihrer Staatsgründung bis zur deutschen Einheit (1949–1990). Das Vorhandensein sozialer Bewegungen stellt er für die DDR in Frage, weil das wichtige Merkmal der „öffentlichen Resonanz“ systembedingt gefehlt habe (S. 110). Abschließend schildert Michael Minkenberg die Jahre des vereinigten Deutschlands bis 2007 und hebt in Bezug auf den „Bewegungssektor“ unterschiedliche Kontextbedingungen in West und Ost hervor. Während sich in den alten Bundesländern eine vorherrschende Kontinuität eher linkslibertärer Bewegungen feststellen lasse, vollziehe sich im Osten „eine noch nicht abgeschlossene Transformation“ (S. 153), aus der heraus sich der Rechtsradikalismus vielerorts als neue Protestbewegung etabliere.

Die im Folgenden behandelten „Bewegungen, Proteste und Themenfelder“ sind vielfältig; die Autorinnen und Autoren erscheinen in ihren jeweiligen Sujets versiert. Fast alle Artikel verwenden die gleiche Gliederungsmatrix, entlang derer historische Vorläufer, Entwicklungslinien, Ideologie und Zielsetzungen, Organisationen und Netzwerke, Strategien und Aktionen sowie Wirkungen und Perspektiven betrachtet werden, bevor abschließend jeweils zentrale Literatur aufgeführt ist. Untersucht werden die Arbeiterbewegung (Eberhard Schmidt), die Frauenbewegung (Ute Gerhard), die Umweltbewegung (Karl-Werner Brand), die Anti-Atomkraftbewegung (Dieter Rucht), die Friedensbewegung (Andreas Buro), städtische soziale Bewegungen (Margit Mayer), die Dritte-Welt-Bewegung (Claudia Olejniczak), bürger- und menschenrechtliches Engagement in der Bundesrepublik (Wolf-Dieter Narr), dissidente Gruppen in der DDR 1949–1989 (Marc-Dietrich Ohse, Detlef Pollack), Bürgerbewegungen in der DDR – demokratische Sammlungsbewegungen am Ende des Sozialismus (Dieter Rink), studentische Bewegungen und Protestkampagnen (Kristina Schulz), Antiimperialismus und Autonomie – Linksradikalismus seit der Studentenbewegung (Sebastian Haunss), die rechtsextremistische Bewegung (Thomas Grumke), globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen und Bewegungen (Dieter Rucht, Roland Roth), selbstverwaltete Betriebe in Deutschland (Frank Heider), die Kommunebewegung (Karl-Ludwig Schibel), die Schwulenbewegung (Jens Dobler, Harald Rimmele), Jugendproteste und Jugendkonflikte (Werner Lindner), Mobilisierung von und für Migranten (Dieter Rucht, Wilhelm Heitmeyer), Proteste von Arbeitslosen (Harald Rein) sowie Kampagnen gegen Bio- und Gentechnik (Bernhard Gill).

Jedes der behandelten Themen offenbart beispielhaft, worin die Wirkungen sozialer Bewegungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte bestehen. Dazu gehört ihre genuine Leistung einer „Thematisierung von (vormaligen) ‚non issues’ ebenso wie […] die [durch sie gebotene] Herausforderung eingespielter, ‚normaler’, konventioneller Sichtweisen auf bekannte Themen“ (so die Herausgeber im Schlusskapitel, S. 656ff.). Trotz des Widerstands etablierter Akteursgruppen ist es sozialen Bewegungen im Laufe der Jahrzehnte immer wieder gelungen, alternative gesellschaftliche Problemlösungsentwürfe bereitzustellen und zu institutionalisieren bzw. überhaupt neue Politikfelder zu kreieren, wofür die Frauen- und die Schwulenbewegung ebenso mustergültig stehen wie die Umwelt- und die Friedensbewegung oder die Aktionen der Globalisierungsgegner. Schließlich lesen sich die Ausführungen zur Anti-Atomkraftbewegung angesichts der sich jüngst abzeichnenden internationalen Rehabilitierung dieser Energieform besonders eindrücklich. Denn abgesehen von den aufgezeigten Grenzen ihrer Wirkungsmacht wird dennoch das enorme konstruktive Potenzial dieser Bewegung augenfällig, was auf eine erneute, nun stärker internationale Mobilisierung hoffen lässt. Dass der Rechtsextremismus ebenfalls zu den sozialen Bewegungen gezählt wird, mag zunächst irritieren, kann aber vor der Suggestion schützen, in solchen Bewegungen stets etwas Progressives zu sehen.

Das Handbuch bietet einen ebenso facetten- wie kenntnisreichen Überblick zur deutschen Protestgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Es bündelt den Ertrag zahlreicher Einzelstudien. Herausgearbeitet wird nicht nur die gesellschaftliche Bedeutung zeitgenössischen kollektiven Widerspruchs zugunsten der Gestaltung des Gemeinwohls, sondern auch die Relevanz der Erforschung von Protest, seinen Bedingungen, Wirkungsgrenzen und Erfolgen. Kritisch anzumerken ist, dass – ungeachtet zahlreicher neuer Studien auf diesem Sektor – kultur-, kommunikations- und medienwissenschaftliche Fragestellungen weitgehend außer Acht gelassen worden sind. Insgesamt aber handelt es sich um ein überaus informatives und zudem gut lesbares Handbuch.

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