H.-C. Kraus: Kultur, Bildung, Wissenschaft

Titel
Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert.


Autor(en)
Kraus, Hans-Christof
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 82
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIV u. 168 S.
Preis
€ 19.80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Ludwig, Hanau

Der in der „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ erschienene Band von Hans-Christof Kraus hält sich an die bewährte Dreiteilung der Reihe in enzyklopädischen Überblick, Forschungsüberblick und Bibliografie.

Mit Stichworten wie Alphabetisierung, Leserevolution, Revolution der technischen Reproduzierbarkeit verbunden mit einer Expansion des Verlags- und Zeitungsmarktes, aber auch Kommunikationskontrolle und Zensur markiert Kraus den Umbruch des 19. Jahrhunderts. Die Bereiche Literatur, bildende Kunst und Musik skizziert er ebenfalls prägnant. Im Abschnitt „Weltanschauung, Philosophie, Denkströmungen“ werden die für das deutsche philosophische Denken des 19. Jahrhunderts so bedeutenden Denksysteme des Idealismus, des Neuhumanismus, des Historismus, der Religionskritik, des Naturalismus und Materialismus knapp eingeführt. Für die Wissenschaften im 19. Jahrhundert hebt Kraus den Entwicklungs- und Ausdifferierungsprozess hervor, der zweierlei meint: einerseits Loslösung von anderen Funktionskontexten wie Politik oder Religion und Verselbständigung der Wissenschaft als autonomer Bereich und andererseits die wissenschaftsinterne Ausdifferenzierung, die zu einer immer größeren Zahl von Einzel- und Subdisziplinen und Spezialgebieten führte. In der modernen deutschen Geschichtswissenschaft dominierte bekanntermaßen die politische Geschichte, die bei allen Querelen mit der Kulturgeschichte äußerst produktiv arbeitete, da sie u.a. quellenkritisch vorging. Auch
die in ihren Anfängen vom Geist der Romantik beflügelten Philologien verschrieben sich zunehmend textkritischen Verfahren. Das Aufblühen von Mathematik und Naturwissenschaften – nach einer kurzen romantischen Phase – führte um 1850 zu einigen bedeutenden Entdeckungen.

Das große Universitätssterben um die Wende zum 19. Jahrhundert mündete in die Reformära der deutschen Universität, für die die 1810 gegründete Universität Berlin herausragende Bedeutung erhielt. Die Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften führte zur Ausbildung des „Institutssystems“ mit Seminaren, Instituten, Laboratorien und Kliniken – die deutsche Forschungsuniversität begann sich zu institutionalisieren. Kraus erwähnt auch die politische Bedeutung der Universitäten, die im Vormärz mit den „Göttinger Sieben“ politische Märtyrer aufweisen konnten. Die rege Beteiligung von Professoren an der deutschen Nationalversammlung 1848/49 in Frankfurt ist ebenfalls ein Indiz für das politische Engagement der deutschen Professoren in der Ära nach 1815. Das katholische Bildungswesen erlitt im Laufe des 19. Jahrhunderts einen massiven Einbruch. Akademische Bildung war insgesamt eine Seltenheit, noch mehr in der Unterschicht, die selbst 1900 erst 0,25 Prozent aller Studierenden an deutschen Universitäten stellte. Während des Jahrhunderts stieg der prozentuale Anteil der Studenten der philosophischen Fakultäten gegenüber den Studenten der anderen Fakultäten auf 40 Prozent. Bereits in der Frühphase des 19. Jahrhunderts war es zur Entstehung von speziellen „polytechnischen Schulen“ als Fachschulen für Mathematik, Technik und Naturwissenschaften nach französischem Vorbild gekommen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden einige von ihnen (neben anderen Einrichtungen) in Technische Hochschulen verwandelt. Ein Überblick über die kulturellen Institutionen wie Akademien, Bibliotheken, Museen usw. schließt das Kapitel ab.

Umwandlung, Zurückdrängung und Ergänzung der Lateinschulen durch Gymnasien, Real- und Handelsschulen sind ein Merkmal des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende die allmähliche Durchsetzung der Gleichberechtigung verschiedener Typen der höheren Bildung steht. Ebenfalls kennzeichnend für diesen Zeitraum ist die langsame Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht bei einem weiterhin starken kirchlichen Einfluss auf den Unterricht mit Bibellektüre und -auslegung. Hier hätte sich der Rezensent eine thematische Vertiefung gewünscht, hatte doch die hohe Stellung der Religion gegenüber dem Weltlichen Schrift und Buch den hohen Rang für das Lernen gesichert. Der Klerus hatte viele Jahrhunderte Schulen, Universitäten und die Bildung überhaupt als Schriftkundige dominiert. Schrift, Lernen und Bildung galten als unverrückbar mit den christlichen Kirchen verbunden. Dieses Bildungsmonopol existierte in dieser Form im 19. Jahrhundert nicht mehr. Aber trotz aller Rückschläge, trotz der Verstaatlichung des Schulwesens blieb z.B. die Volksschule eine kirchlich geprägte Schule und erst gegen Ende des Jahrhunderts kam es bei der Schulaufsicht zu einer Säkularisierung und Professionalisierung. Auch das Gymnasium, noch stärker eine Staatsschule, blieb trotz Säkularisierung und Kulturkampf in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Institution christlicher Erziehung.

Im Gegensatz zur verbesserten Lage in der Stadt waren auch nach 1871 auf dem Land weiterhin hohe Klassenfrequenzen die Regel. Das Mädchenschulwesen wurde nach 1871 reguliert mit dem Resultat, dass 1893 das erste Mädchengymnasium auf deutschem Boden entstand. Zum Aufschwung des Fachschulwesens gehört, dass im Kaiserreich kaufmännische Schulen als berufsbegleitende Bildungseinrichtungen für Kaufmannslehrlinge entstanden waren. Für die Lehrerausbildung war seit 1806 mit den Lehrerseminaren (zuerst in Sachsen, Bayern und Preußen) eine stetige Weiterentwicklung festzustellen, die sich auch aus der auf den Fortschritten des pädagogischen Denkens (Pestalozzi und Fröbel) gründenden Neuorganisation des Bildungswesens ergab.

Der Überblick ist insgesamt im Hinblick auf die Komplexität des Themas doch arg stichwortartig geraten. Dabei liest sich der Text mitunter wie ein Konzentrat entsprechender Passagen bei Nipperdey.1 Die knappe Darstellungsweise, die versucht das Wesentliche zu präsentieren, ist dem Reihenkonzept verpflichtet, lässt aber mitunter manche Frage offen. Das Thema „Religion und Bildung“ kommt, wie oben bereits angesprochen, zu kurz, aber auch der Konflikt zwischen Humanisten und aufstrebenden Realisten um Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule, der eine Fortsetzung zwischen den Anhängern der neuhumanistischen Reform der Universitäten und den Verfechtern der Polytechnika bzw. Technischen Hochschulen fand. Der Gegensatz von humanistischer und technisch-ökonomischer Ausrichtung brachte doch immerhin zwei unterschiedliche Kulturen zum Ausdruck.

Kraus (S. 81) stellt fest, dass die Lehr- und Forschungspraxis an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts „erstaunlich wenig untersucht worden“ ist. Es gibt Untersuchungen zur Entwicklung der deutschen Forschungsuniversität, aber es fehlen noch Einzelstudien zu einzelnen Wissenschaftsbereichen und Professoren. Der Siegeszug des „deutsche(n) Modell(s) gelehrter Forschung“ in Europa, dessen Zukunft heute eher düster aussieht, bedarf auch noch mancher Studie des Ideen-, Wissenschafts- und Organisationstransfers.

Anmerkung:
1 Kraus (S. 63) hebt zu Recht die von Thomas Nipperdey vorzüglich geschriebenen Überblickskapitel in Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 451 – 594 und Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 531-811 hervor. Er erwähnt aber nicht die durchaus ebenbürtigen Kapitel in den ersten drei Bänden der Deutschen Gesellschaftsgeschichte (München, 1987-1995) von Hans-Ulrich Wehler.