Cover
Titel
Ammianus Marcellinus. The Allusive Historian


Autor(en)
Kelly, Gavin
Reihe
Cambridge Classical Studies
Erschienen
Cambridge u.a. 2008: Cambridge University Press
Anzahl Seiten
XI, 378 S.
Preis
£ 55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dariusz Brodka, Instytut Filologii Klasycznej, Uniwersytet Jagielloński, Kraków

Das Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus steht in den letzten Jahren verstärkt im Fokus der Forschung.1 Darüber hinaus zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab, die spätantike Historiographie mit Hilfe moderner literaturwissenschaftlicher Theorien zu erforschen.2 Gerade diese Tendenz tritt auch im Buch von Gavin Kelly deutlich zutage. Kelly knüpft an die neuesten Ergebnisse der Ammianus-Forschung an, wobei die Methoden und Erkenntnisse von Timothy D. Barnes auf ihn besonders großen Einfluss ausgeübt haben.3 Kelly geht somit von der Voraussetzung aus, dass Ammian subtiler und weitaus manipulativer sei, als dies im Allgemeinen angenommen wird (S. 4). Er vertritt die Position, dass die Exkurse, Exempla und Anspielungen eine wichtige Rolle in den Res gestae spielen. Die Analysen Kellys haben deswegen eher literarischen als historischen Charakter und werden vom Standpunkt des Intertextualismus durchgeführt. Diese Methode ist für Kelly der Schlüssel zur Enthüllung und zum richtigen Verständnis der vom Historiker nicht offen ausgesprochenen Meinungen. Kelly vertritt dabei die These, dass Ammian ein überaus anspielungsreicher Autor sei; bei der Interpretation seines Geschichtswerkes müsse man daher die Anspielungen auf frühere und zeitgenössische Texte in besonderem Maße berücksichtigen.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil (I. The Elusive Historian, S. 13–160), der aus drei Kapiteln besteht, konzentriert sich auf die Probleme, die mit Ammians Lebenslauf in Zusammenhang stehen. Mit großer Skepsis betrachtet Kelly den Wert des biographischen Zugangs zu Ammians Werk, der in der Forschung vorherrschend war. Den Ausgangspunkt für Kellys Argumentation bildet die Interpretation des bekannten Passus in 31,7,16, der als Beweis für Ammians Autopsie betrachtet wird: Die Feststellung, ut indicant nunc usque albentes ossibus campi, soll dabei belegen, dass Ammian den Ort der Schlacht bei Ad Salices besucht habe. Kelly weist dagegen nachdrücklich auf Ähnlichkeiten zu Vergil und Tacitus hin (S.13ff.) und kommt so zu dem meines Erachtens richtigen Schluss, dass Ammians Besuch auf diesem Schlachtfeld anzuzweifeln ist (S. 17). Die Analyse dieser Passage betont ein ernsthaftes Problem: Die autobiographischen Abschnitte werden von Ammian in großem Maß literarisch stilisiert. Daraus folgt, dass die „biographische“ Interpretation seines Werkes vielfach zu spekulativ bleibt und es kein sicheres Wissen über Ammians Leben gibt. In Anlehnung an die Erkenntnisse von John Marincola erklärt Kelly überzeugend die literarische Funktion der autobiographischen Abschnitte: Sie sollten vor allem dem Geschichtsschreiber und seinem Werk Autorität verleihen, indem sowohl die Bedeutung als auch die Einzigartigkeit des Augenzeugenberichtes hervorgehoben wird (S. 65ff.). So verliert die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Maß die einzelnen Passagen glaubwürdig sind, an Bedeutung. Beachtenswert sind auch die Bemerkungen Kellys zum sozialen Status Ammians. Aufgrund der prosopographischen Erkenntnisse von Robert M. Frakes 4 nimmt Kelly mit guten Gründen an, dass der Historiker aus militärischen Kreisen oder aus der Schicht der Zivilbeamten stammen könnte, nicht aber aus dem Kurialenstand (S. 121f.). Nützlich ist auch die Liste der potentiellen Informanten Ammians (S. 146f.). Sie könnte noch um einige Namen wie etwa den des Munderich ergänzt werden, dessen Augenzeugenbericht wohl den Schilderungen über die Kämpfe der Goten gegen die Hunnen im 31. Buch zugrunde liegt.5

Der zweite Teil (II. The Allusive Historian, S. 161–317), der aus vier Kapiteln besteht, konzentriert sich auf die Frage nach den Anspielungen in den Res gestae. Kelly wendet hier die Methoden des modernen Intertextualismus an, aus dieser Perspektive definiert er auch den Begriff der allusion (S. 165ff.). Er meint, dass die Anspielungen nicht nur ein Element des ornatus sind, sondern eine weitaus wichtigere Funktion erfüllen: Sie können eine politische Argumentation entkräften oder unterstützen, indem sie wesentliche Inhalte und Ideen aus einem anderen Text in Ammians Diskurs übertragen (S. 163). Deswegen möchte Kelly die Anspielungen nicht nur auf die wörtlichen Aspekte zurückführen. Nach Kelly verfügte Ammian über sehr tief greifende Kenntnisse in der lateinischen Literatur. Folglich seien die Anspielungen auf die früheren bzw. zeitgenössischen Texte ein wichtiger Träger der wesentlichen politischen, ideologischen, historiosophischen oder religiösen Botschaft, die man nur in einem nuancierten intertextuellen Spiel enthüllen könne. Diese Tatsache wurde zwar in der Forschung ansatzweise bemerkt, Kellys Verdienst besteht aber darin, nachdrücklich aufzuzeigen, dass Ammian diese hochkomplexe Methode nicht nur zuweilen, sondern über weite Strecken seines Geschichtswerkes benutzt. Allerdings halte ich diese große Bedeutung, die der Autor den Anspielungen in Ammians Werk zumisst, für problematisch.

Zweifelsohne bietet Kelly zahlreiche richtige Erkenntnisse, auch wenn der Rezensent in einigen metaphorischen Interpretationen mit ihm nicht übereinstimmen kann. Das Buch ist verständlicherweise kein Katalog aller Anspielungen im Werk Ammians, sondern verallgemeinert gewisse konkrete Beispiele und Einzelergebnisse. Einige Interpretationen sind aber allzu subjektiv und nicht sehr überzeugend. So sehe ich keine zwingenden Gründe zur Annahme, dass das Bild des im Laufe der Jahre verfaulten und zerfallenen Schiffes in der Nähe von Mothone als eine metaphorische Darstellung der Krise des römischen Staates konzipiert wird (vgl. S. 96f.). Auch Kellys Deutung des Tsunami von 365 n.Chr. gibt Anlass zur Skepsis (vgl. S. 98).6 Allzu künstlich scheint seine Auslegung der insgesamt klaren Passage zur Fortuna in 14,11,29–34 (S. 289ff.). Der Passus wird erst problematisch, wenn man versucht, ihn mit dem Konzept der Höheren Gerechtigkeit in der Gallus-Geschichte in Einklang zu bringen. Dieser unmittelbare Kontext bleibt jedoch hier unberücksichtigt. Dies weist auf ein Grundproblem der Interpretationsmethode Kellys hin: die Gefahr der Subjektivität bei der Entdeckung möglicher Anspielungen. Wo die einen Interpreten bewusste, versteckte Hinweise sehen und wichtige, nicht offen gesagte Ideen zu erkennen glauben, sprechen die anderen nur über die literarischen oder ästhetischen Aspekte.7 Kelly ist sich zwar des Problems bewusst, aber meint, dass die Anspielungen nur selten keine tiefere Bedeutung hätten (S. 221).

Beachtenswert sind Kellys Einblicke in die Art und Weise, wie Ammian seine Quellen benutzt (S. 222–255). Es handelt sich hier nicht um eine systematische und komplexe Suche nach Ammians Vorlagen, sondern um die Analyse der Methode, wie der Historiker mit ihnen umgeht. Er erweist dabei, dass Ammian sie veränderte, modifizierte, kontaminierte oder zumindest andere Akzente setzte. Kelly erklärt dies aus dem Streben des Historikers, die Rezipienten darauf aufmerksam zu machen, was außerhalb des Textes selbst liegt (S. 254). Ähnlich werden auch die Exempla in den Res gestae gedeutet (S. 256–295): Mit der Kenntnis der Geschichte meint Ammian die Kenntnis der Exempla. Erfolgreich sind diejenigen, die die Tugenden der Vorfahren nachahmen und die schlechten Beispiele vermeiden. Ein Misserfolg resultiert hingegen häufig aus der Unkenntnis der Vergangenheit.8 Mit Recht betont Kelly, dass dieses Denken für die ganze römische Historiographie typisch ist.9 Überraschend ist hingegen in diesem Zusammenhang die mangelnde Auseinandersetzung mit Frank Wittchow, der die Exempla in den Res Gestae zwar aus der narratologischen Perspektive untersucht, was aber nicht bedeuten kann, seine Erkenntnisse im Ganzen unbeachtet zu lassen.10 Das letzte Kapitel befasst sich mit dem Intratext, also mit den internen Anspielungen (S. 296–317). Am Beispiel der letzten Hexade wird gezeigt, wie Ammian Kaiser Julian zu einem Exemplum stilisiert, das als ein Bezugspunkt bei der Bewertung der folgenden Kaiser funktioniert. Mit Recht betont Kelly, dass Ammian den historischen Stoff absichtlich manipuliert, weil er Julians Nachfolger in ein möglichst schlechtes Licht stellen möchte.

Kellys Buch kann als eine wichtige, neuartige, wenn auch nicht ganz unproblematische Stimme in der modernen Forschungsdiskussion zu Ammianus Marcellinus betrachtet werden. Es ist sicherlich zu bezweifeln, ob die Rolle der Anspielungen in den Res gestae wirklich so groß ist, wie Kelly meint. Trotzdem weist seine Untersuchung eine tief greifende gedankliche Aneignung der literarischen Tradition durch Ammian sowie dessen großes literarisches Selbstbewusstsein nach. Insgesamt bekommt die Ammianforschung eine wertvolle Studie, die zeigt, welch fruchtbare Impulse der Intertextualismus für die Erforschung der antiken Historiographie geben kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere Riedl, Petra, Faktoren des historischen Prozesses. Eine vergleichende Untersuchung zu Tacitus und Ammianus Marcellinus, Tübingen 2002; den Boeft, Jan; Drijvers, Jan W; den Hengst, Daniël; Teitler, Hans C., Philological and Historical Commentary on Ammianus Marcellinus XXV, Leiden u.a. 2005; dies. (Hrsg.), Ammianus after Julian. The Reign of Valentinian and Valens in Books 26–31 of the Res Gestae, Leiden u.a. 2007; dies., Philological and Historical Commentary on Ammianus Marcellinus XXVI, Leiden u.a. 2007.
2 Vgl. Wittchow, Frank, Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus, Leipzig 2001; Kaldellis, Anthony, Procopius of Caesarea, Philadelphia 2004.
3 Barnes, Timothy D., Ammianus Marcellinus and the Representation of Historical Reality, Ithaca u.a. 1998.
4 Frakes, Robert M., Ammianus Marcellinus and His Intended Audience, in: Carl Deroux (Hrsg.), Studies in Latin Literature and Roman History, Bd. 10, Bruxelles 2000, S. 392–442.
5 Vgl. Amm. 31,3,5: castris denique prope Danastri margines a Greuthungorum uallo longius opportune metatis Munderichum ducem postea limitis per Arabiam cum Lagarimano et optimatibus aliis ad usque uicessimum lapidem misit [...].
6 Kelly folgt hier Sabbah, Guy, La méthode d’Ammien Marcellin, Paris 1978, S. 555f.
7 Vgl. in diesem Sinn Fornara, Charles, Studies in Ammianus Marcellinus II: Ammianus’ Use and Knowledge of Greek and Latin Literature, in: Historia 41 (1992), S. 420–438.
8 Vgl. Rosen, Klaus, Ammianus Marcellinus, Darmstadt 1982, S. 119f.
9 Vgl. Liv. praef. 10.
10 Kelly erwähnt zwar das Buch von Wittchow (S. 260, Anm. 10), benutzt es aber nicht. Unbeachtet bleibt auch Felmy, Andreas, Die römische Republik im Geschichtsbild der Spätantike. Zum Umgang lateinischer Autoren des 4. und 5. Jahrhunderts mit den exempla maiorum, Berlin 2001.

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