Cover
Titel
Martin Broszat, der "Staat Hitlers" und die Historisierung des Nationalsozialismus.


Herausgeber
Frei, Norbert
Reihe
Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Vorträge und Kolloquien 1
Erschienen
Göttingen 2007: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Martin Broszat, 1926 geboren, repräsentierte wie wenige andere Historiker die Zeitgeschichts- und insbesondere die NS-Forschung der alten Bundesrepublik. Er war seit 1955 am Institut für Zeitgeschichte in München tätig und stand diesem von 1972 bis zu seinem frühen Tod 1989 als Direktor vor. Im August 2006 wäre Broszat 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass veranstaltete das „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“ im Dezember 2006 eine Konferenz zum Lebenswerk Broszats, das zu schnell in Vergessenheit zu geraten scheint. Denn galten für die Generation um Norbert Frei Werke Broszats wie „Der Staat Hitlers“ noch als „gefühlte Pflichtlektüre“, so erschließe sich heutigen Promovierenden Broszats Name oft nur mehr über Wikipedia, wie Frei bedauernd feststellte (S. 7).

Zusätzliche Aktualität erfuhr die Beschäftigung mit Broszat durch die vehemente Kritik, die Nicolas Berg 2003 in seinem Buch „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“ an dem von Broszat prominent vertretenen funktionalistischen Ansatz als einer Form der Apologie geübt hatte, sowie durch die von Berg aufgedeckte NSDAP-Mitgliedschaft Broszats, der eine Debatte gefolgt war, ob der 18-jährige Broszat über den Parteibeitritt selbst Bescheid wusste.

Die Zusammensetzung der Konferenz versprach eine nochmalige Kontroverse um Broszat: Mit Hans Mommsen war ein Mitstreiter aus der Generation Broszats geladen, mit Ian Kershaw und Norbert Frei selbst war die Schüler/Söhne-Generation anwesend. Geladen waren auch die Kritiker Dan Diner und Nicolas Berg. Prominentester Gast war zweifellos Saul Friedländer, der fast 20 Jahre zuvor mit Broszat einen kontroversen Briefwechsel über die Frage der Historisierung des Nationalsozialismus geführt hatte. Der vorliegende Band dokumentiert nun die Tagung. Er umfasst vier große Abschnitte mit je zwei bis drei Beiträgen. Die ersten drei Abschnitte sind direkt auf die Projekte und Publikationen Broszats bezogen. Den einzelnen Abschnitten sind jeweils ausführliche Kommentare angefügt, die einen guten Einblick in den Verlauf der Diskussion erlauben. Eine heftige Kontroverse blieb offensichtlich aus. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass die unterschiedlichen Positionen und gegenseitigen Vorwürfe den Beteiligten bereits hinlänglich bekannt waren, möglicherweise aber auch mit dem Umstand, dass die Mehrheit der Vortragenden Broszats Werk Respekt entgegenbrachte und nur in loyaler Weise Kritik formulierte.

Der erste Teil widmet sich Broszats Verdiensten um die Herausbildung einer empirischen Zeitgeschichtsforschung. Neben Mommsen, der in verteidigender Absicht generell über Broszats Zugang zur NS-Forschung referiert, geht Włodzimierz Borodziej Broszats Studien zur nationalsozialistischen bzw. deutschen Polenpolitik nach, wobei er zum einen dessen keineswegs selbstverständliche deutschlandkritische Haltung würdigt, andererseits aber auch auf seine „überraschend milde Beurteilung“ der Gouverneure einschließlich des Generalgouverneurs Frank aufmerksam macht (S. 36). Freilich seien Broszats Studien in Polen aus naheliegenden politischen Gründen bzw. nicht erfolgter Übersetzung kaum rezipiert worden.

Während der Band insgesamt wenig allgemeine biographische Angaben zu Broszat enthält, was man angesichts der Debatte um seine NS-Involvierung vermisst, ist Mathias Beers nachträglich verfasster Beitrag über den Beginn von Broszats Historikerlaufbahn sehr aufschlussreich. Beer widmet sich Broszats wissenschaftlicher Sozialisation in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre im Rahmen der Mitarbeit an der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“. Dort habe Broszat die genaue Arbeit mit Quellen gelernt und ein Instrumentarium mit entwickelt, das unter dem Titel „Massendokumentation als Methode zeitgeschichtlicher Forschung“ die mangels Zugang zu schriftlichen Quellen notwendige wissenschaftliche Nutzung von Zeitzeugenberichten und Interviews ermöglicht habe. Broszat habe dort allerdings auch die Begrenztheit der Aussagen von Zeitzeugen kennengelernt, weshalb sich seine methodische Skepsis keineswegs allein oder ausschließlich auf „jüdische Erinnerung“ bezogen habe – ein Argument, das an Friedländer und Berg adressiert ist. Für Broszat sei diese spezifische Auseinandersetzung gerade in methodischen Fragen für seine späteren Arbeiten zum Nationalsozialismus grundlegend gewesen. Gleichzeitig habe Broszat in dieser Zeit auch die Durchführung von Großforschungsprojekten erlernt, ein Know-how, das er für sein späteres Direktorenamt in München fruchtbar machen konnte.

Man hätte sich gewünscht, dass Beer hier auf einen wesentlichen institutionellen Aspekt näher eingegangen wäre: die Beförderung zeitgeschichtlicher Forschung durch staatliche Aufträge, wie dies bei der Vertreibungsdokumentation der Fall war – ein Prozess, der auch für andere Staaten, etwa Österreich, bei der Institutionalisierung von Zeitgeschichte eine wesentliche Rolle gespielt hat. Spannend wäre die Frage, welchen Einfluss diese Form der staatlichen Funktionalisierung von Zeitgeschichte auf Broszat und sein Verständnis zeitgeschichtlicher Forschung gehabt hat, zumal er der Forschung ja durchaus öffentliche Funktionen zuschrieb.

Der zweite Abschnitt des Bandes („Die Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik“) setzt sich vor dem Hintergrund der Debatte um Intentionalismus und Funktionalismus/Strukturalismus mit grundlegenden Arbeiten Broszats zur NS-Geschichte und dessen Position in der NS-Forschung auseinander (Hans-Ulrich Wehler, Ian Kershaw), wobei sich hier gewisse Überschneidungen mit Mommsens Ausführungen ergeben. Wehler hebt hervor, dass Kershaws auf Weber zurückgehender Ansatz der charismatischen Herrschaft den unfruchtbaren Gegensatz zwischen Intentionalisten und Strukturalisten zu überwinden half. Kershaw wiederum betont die wichtige Rolle Broszats für seine eigenen Forschungen. Nachträglich hinzugefügt wurde dem Band ein Beitrag von Klaus Schwabe, der Broszats Beteiligung an einem gescheiterten Versuch in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre nachgeht, eine deutsch-deutsche Gemeinschaftspublikation über die Verantwortung der deutschen Eliten für den Zweiten Weltkrieg auf den Weg zu bringen. Deutlich wird hier die große Bereitschaft Broszats, immer wieder neue Wege in der Forschung einzuschlagen.

Dem von Broszat initiierten alltagsgeschichtlichen Projekt „Bayern in der NS-Zeit“ und dem dabei entwickelten Resistenzbegriff, seiner Innovationskraft wie seinen konzeptionellen Grenzen (Michael Wildt) sowie Broszats Forschung zur NS-Judenpolitik und zum Terrorapparat, zu einem erheblichen Teil in der damals neuen Form von Gutachten (Sybille Steinbacher), wird im dritten Abschnitt nachgegangen.

Der vierte Abschnitt ist der Kritik an Broszats Werk gewidmet (Berg, Diner, Friedländer). Friedländer ruft noch einmal die Kontroverse mit Broszat in Erinnerung, die auf der ersten deutschen Konferenz zum Thema Holocaust 1984 in Stuttgart ihren Ausgang nahm. Dort hatte Broszat auf die von Friedländer geäußerte Kritik an seinen Thesen mit einer personalisierenden Differenz von jüdischen und nichtjüdischen Historikern reagiert, wobei er ersteren außerwissenschaftliche „emotionale“ Motive unterstellte. Entscheidend sei aber gewesen, dass Broszat in seinem Historisierungsplädoyer den in Stuttgart von ihm noch als metahistorisches Ereignis bezeichneten Massenmord an den Juden nicht angeführt habe. Friedländer ordnet seine heftige Reaktion auf Broszat historisch ein, indem er auf das damalige publizistische wie politische Umfeld verweist, das ihm grundlegendere Verschiebungen in Richtung Relativierung der NS-Verbrechen anzuzeigen schien. Ergänzend versuchen die Diskutanten, Broszats Motive in den Kontext der 1980er-Jahre zu stellen und sein Plädoyer selbst zu historisieren.

Dass Broszat nicht beabsichtigt hatte, die NS-Verbrechen zu relativieren, scheint bei allen Beteiligten Konsens zu sein, auch wenn es über den Stellenwert und die Qualität des Textes im Werk Broszats unterschiedliche Auffassungen gibt. Bei allem betont sachlichen Umgang mit Broszat, wie er sich in diesem Band widerspiegelt, wird doch deutlich, dass die Positionen nicht wirklich miteinander versöhnt werden können.

Von außen betrachtet, sind die Begleitumstände dieser Konferenz bemerkenswert. Üblicherweise würdigen wissenschaftliche Institutionen an runden Jahrestagen ihr (ehemaliges) leitendes Personal, wenn es ein bestimmtes Alter erreicht hat, durch Konferenzen und Festschriften. Derartige Veranstaltungen bieten Gelegenheit, Kontinuitäten wie Brüche zu formulieren, Anspruch auf geistige Erbschaft anzumelden, Veränderungen wie inhaltliche Neupositionierungen nach innen wie außen zu signalisieren. Dass die von Frei organisierte Konferenz zu Broszat am seinerzeit erst wenige Monate alten „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“ stattfand, das Frei leitet, und nicht am Institut für Zeitgeschichte in München, der früheren Wirkungsstätte Broszats, war dem Veranstalter wie den geladenen Gästen – darunter keine Vertreter aus München – offensichtlich so selbstverständlich, dass dies (zumindest im Tagungsband) keine weitere Erörterung zur Folge hatte.

Diese Innenperspektive, eventuell resultierend aus dem Umstand, dass die Tagung ursprünglich nur als kleines Treffen ehemaliger Weggefährten und Kollegen Broszats geplant war, ist insoweit bedauerlich, als gerade die Würdigung Broszats eine kritische Erörterung der institutionellen Landschaft der deutschen Zeitgeschichtsforschung wie der NS-Forschung seit 1989 – dem Todesjahr Broszats und gleichzeitig dem Ende einer deutschen Nachkriegsepoche – nahegelegt hätte. Möglicherweise hätte dies den inhaltlichen wie organisatorischen Rahmen dieser Konferenz gesprengt, möglicherweise war es aber auch ein Statement in Bezug auf die Frage, wie und von wem die Erbschaft Broszats in Anspruch genommen werden kann.

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