J. Graham-Campbell u.a. (Hrsg.): Archaeology of Medieval Europe

Titel
The Archaeology of Medieval Europe. Vol. 1: Eighth to Twelfth Centuries AD


Herausgeber
Graham-Campbell, James; Valor, Magdalena
Reihe
Aarhus University Press
Erschienen
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 60,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Brather, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität Freiburg

Dieser erste von zwei Bänden geht auf einen Vorschlag Else Roesdahls zurück, den sie 1999 auf dem „Fourth European Symposium for Teachers of medieval Archaeology“ in Sevilla machte. Beide Bände sind thematisch gegliedert, um einen weitreichenden Überblick zu ermöglichen, und erfassen das 8. bis 12. bzw. das 12. bis 16. Jahrhundert. Der vorliegende erste Teil erstreckt sich damit von der Karolingerzeit bis zum Hochmittelalter – oder von Karl dem Großen bis zu Friedrich Barbarossa. Etwa 40 Autoren – jeweils zwei für ein thematisches Kapitel und weitere für zwischengeschaltete „Textboxen“ – waren am ersten Band beteiligt. Im ersten Kapitel wird der gegenwärtige Stand der Mittelalterarchäologie skizziert (Hans Andersson, Barbara Scholkmann, Mette Svart Kristiansen). Dazu dient ein kurzer Blick auf deren Geschichte, ihre wesentlichen Themen und Theorien sowie die archäologischen Methoden.

Mit den Stichworten „Völker und Umwelten“ folgt ein Abschnitt zur natürlichen Landschaft einerseits und deren kultureller Prägung andererseits (Lech Leciejewicz, Magdalena Valor); ihm schließen sich Überlegungen zu den Folgen sozialen und politischen Wandels sowie wirtschaftlichen Fortschritts für die Landschaft an. Für ländliche Siedlungen werden nach einer Beschreibung des Forschungsstands von Jan Klápště und Anne Nissen Jaubert sowohl die Binnenstrukturen (Ortskonstanz, Hausbautraditionen und -entwicklungen, Höfe als Betriebseinheiten) als auch ihr umgebender Wirtschaftsraum (Äcker und Pflugtechnik) erörtert. Anschließend geht es um das Verhältnis von Dörfern zu Friedhöfen und Kirchen bzw. Kapellen sowie das „Erbe“ mittelalterlicher Besiedlung. Städtische Siedlungen in Westeuropa führt John Schofield vor, indem er zwei Phasen unterscheidet. Für das 8. und 9. Jahrhundert einerseits und das 10. bis 12. Jahrhundert andererseits werden frühstädtische Siedlungstypen, öffentlicher und privater Raum, Religion, Handwerk und Handel und zentralörtliche Funktionen behandelt. Heiko Steuer widmet sich für das „übrige“ Europa der Definition einer Stadt, Phasen städtischer Entwicklung, Typen (früh)städtischer Siedlungen, Schätzungen von Bevölkerungszahlen, öffentlichem und privatem Raum und zentralörtlichen Funktionen.

Die Reihe der Kapitel, die sich mit Aspekten beschäftigen, die noch vor kurzem als „Alltag“ beschrieben wurden und nun als „Lebenswelt“ charakterisiert werden (Kap. 5–10), eröffnet ein Überblick über Häuser und deren Einrichtung (Roesdahl, Scholkmann). Neben den zur Verfügung stehenden Quellen werden ländliches, klösterliches, städtisches und aristokratisches Wohnen unterschieden; betrachtet werden außerdem Neuerungen im Hausinnern (Beheizung und Beleuchtung; Ernährung, Wasser und Abfall). Damit ist der Bogen zur Ernähung geschlagen (Sabine Karg, Pilar Lafuente). Das Kapitel ist zweigeteilt in Südeuropa (fleischliche und pflanzliche Nahrung, Mineralien, Haltbarmachung und Aufbewahrung, Speisenvorbereitung und Verzehr) und übriges Europa (Nahrung vom Feld, aus dem Garten, aus Gebüsch und Wald, alkoholische Getränke, Fleisch von Haus- und Wildtieren). Den Auftakt zu „Technologie und Handwerk“ macht Ricardo Córdoba mit Überlegungen zu Textilien, Gerberei, Knochen- und Eisenverarbeitung, Töpferei und Glas. Es folgen Beiträge zu Wassermühlen (Klápště, Nissen Jaubert, Córdoba), Textilproduktion (Jerzy Maik), Eisenverarbeitung (Radomir Pleiner), Keramik auf dem Kontinent (Sabine Felgenhauer-Schmiedt), Backstein (Hans Krongård Kristensen) und Salz (Jens Vellev). „Sachkultur und Alltagsleben“ sind Gegenstand eines eigenen Kapitels von Felgenhauer-Schmiedt und Graham-Campbell; sie behandeln politische und wirtschaftliche Grundlagen, Gefäße und Lebensstil (Küchen- und Tafelkeramik, Glas- und Metallgefäße sowie Holzgegenstände), Kleidung und Schmuck, Pferd und Reiter, Werkzeuge, privaten Raum (Mobiliar, Heizung, Fenster, Beleuchtung, Spielzeug), Lesen und Schreiben sowie Spiele. Zu „Reisen und Transport“ äußern sich Jan Bill und Else Roesdahl, indem sie zunächst den sozialen Hintergrund skizzieren und dann anhand der Transportwege Verkehr zu Lande (Straßen, Furten, Brücken; Reiten, Fahren, Tragen, Gehen; Winter) und zu Wasser (Routen Schiffbau, Transportkapazitäten, Häfen – sowohl für den Mittelmeerraum als auch für Nordeuropa) unterscheiden. Darauf können Paul Arthur und Søren M. Sindbæk aufbauen (Handel und Austausch). Wiederum werden Mittelmeerraum (Keramik, Schiffswracks, Münzen, Zusammenbruch und Neuanfang, Rolle der Araber, Märkte und Handelsplätze, Messen, Gabentausch und Reliquien, Handelsgüter) einerseits und nördliches Europa andererseits (Emporia, Stadtentwicklung, Plätze und Netzwerke, Handelsgüter) vorgeführt.

Einen dritten Block (Kap. 11–15) bilden Aufsätze zu Herrschaft, Religion, Leben und Sterben. Am Beginn steht ein Beitrag von Johnny De Meulemeester und Kieran O’Conor zu Befestigungen. Sie setzen „kommunale Befestigungen“ im Sinne von Fluchtburgen ab von „staatlichen“ Anlagen („Garnisonen“, große lineare Anlagen und Stadtbefestigungen) und privaten Burgen (Motten und Anlagen in Stein) sowie Palästen, karolingerzeitlichen Villen und befestigten Höfen. Die Zurschaustellung weltlicher Macht erfolgte durch Paläste – von karolingischen Pfalzen über westgotische Paläste bis zu Hallen in England und Skandinavien. Elitenrepräsentation führt Graham-Campbell vor (Aktivitäten wie Jagen, Speisen, Spiel und Turnier; Machtsymbole wie Regalien, Wappen und Siegel). Der Beitrag zu Religionen beginnt mit einem Überblick zu paganen Vorstellungen, Heiligtümern und „Zentralorten“ sowie zur Konversion (Leszek Słupecki). Magdalena Valor behandelt Kirchenorganisation, Klöster und Pilgerwesen, den Islam und die jüdische Religion. Es schließen sich Passagen zu „religiösen Gebäuden“ an (Tadgh O’Keeffe, Matthias Untermann), von denen fast ausschließlich Kirchen zwischen Römerzeit und Romanik behandelt werden – entweder Bischofs- oder Klosterkirchen –, außerdem Neubauten und die Rolle archäologischer Ausgrabungen. Zu „Leben, Tod und Erinnerung“ äußern sich Thomas Meier und James Graham-Campbell. Dabei geht es um Leben und Krankheiten, medizinische Versorgung, Tod und Bestattung sowie die Memoria an die Verstorbenen.

Bei einem derart weit gespannten, von vielen Autoren verfassten Überblick – neben den 15 Kapiteln dienen mehr als 30 „Boxen“ Detailerläuterungen – lässt sich leicht das eine oder andere bemängeln, ohne damit dem Vorhaben gerecht zu werden. Kleinere Ungleichgewichte zwischen einzelnen Themen ergeben sich beispielsweise bereits aus pragmatischen Gründen. So hätte man die Reihenfolge der 15 Kapitel anders gestalten können – warum sind Alltagsleben (Kap. 8) sowie Leben und Sterben (Kap. 15) nicht enger beieinander? Warum werden ländliche und städtische Siedlungen (Kap. 3–4) so sehr von Befestigungen (Kap. 11) getrennt, wo doch beides oft benachbart ist oder gar ineinander übergeht (Höfe, Pfalzen, Städte)? Weshalb werden häusliche Ausstattung (Kap. 5) und Sachkultur (Kap. 8) getrennt vorgeführt? Wichtiger als Änderungen an diesen Details wäre wohl eine stärkere Strukturierung des Bandes gewesen, wie sie oben mit den drei Aspekten angedeutet ist; eine einfache Erläuterung in der Einführung hätte denselben Zweck erfüllt, wird doch dort über die zeitliche Abgrenzung informiert. Dass der Überblick den Beginn des Mittelalters („Völkerwanderungszeit“, Merowingerzeit im Westen und Slawisierung im Osten sowie Awaren) nicht einbezieht, lässt sich vertreten, denn sonst hätte auch die Spätantike berücksichtigt werden müssen. Ungleich fallen auch einige Kapitel aus, indem sie Europa unterschiedlich zweiteilen (Kap. 2; 4; 6; 10; 13) oder regional nicht differenzieren, detailliert einzelne Materialgruppen behandeln (Kap. 5; 7) oder nicht, Zusammenhänge (Kap. 11; 12) oder Details in den Mittelpunkt stellen. Etwas zu kurz kommt die Einbeziehung anderer Disziplinen, mit denen nur zusammen ein facettenreiches Bild „des Mittelalters“ entworfen werden kann.1

Durch seine paneuropäische Perspektive verknüpft der Band oft isoliert betrachtete Regionen und lässt ganz neue Zusammenhänge erkennen – er präsentiert eine archäologische Strukturgeschichte Europas im Früh- und Hochmittelalter. Bislang gibt es kein vergleichbares Unternehmen mit einem ähnlich europäischen Ausgangspunkt. Überholten nationalen Blickwinkeln wird damit auf angenehme Weise ihre allzu große Beschränktheit vorgeführt. Die weit gespannten Verknüpfungen tendieren allerdings zwangsläufig dazu, Unterschiede und Besonderheiten in verschiedenen Teilen Europas und zwischen seinen Kulturen ebenso wie manche Entwicklung oder zeitliche Differenzierung sehr in den Hintergrund treten zu lassen. Angesichts der viel gerühmten historischen und kulturellen Vielfalt des Kontinents ist dies kein geringer Verlust, dem man vielleicht mit einem eigenen Kapitel hätte begegnen können.

Insgesamt liegt mit dem ersten Band dieser Archäologie des mittelalterlichen Europa ein grundlegendes Handbuch vor, auf dessen zweiten Teil man gespannt sein darf. Das Wagnis des Überblicks ist inhaltlich weitgehend gelungen und in einer ansprechenden Form vorgelegt – angenehmes Layout, gutes Papier und durchgehend farbige Bebilderung. Es handelt sich nicht um eine einfache und rasche Einführung, sondern um ein fundiertes „Textbook“ für fortgeschrittene Studierende und darüber hinaus. Es regt durch seinen kontinentalen Fokus zu weiterreichenden Vergleichen an.

Anmerkung:
1 Steuer, Heiko, Entstehung und Entwicklung der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Mitteleuropa. Auf dem Weg zu einer eigenständigen Mittelalterkunde, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26 (1997/98), S. 19–38.

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