Titel
Cultural Studies.


Autor(en)
Marchart, Oliver
Erschienen
Konstanz 2008: UTB
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Krämer, Exzellenzcluster: Religion and Politics, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

“Kultur“ hat auch in den akademischen Landschaften des deutschsprachigen Raums Konjunktur - Analysen zur so genannten Populärkultur bereits seit den 1980er-Jahren. Das stellt Oliver Marchart in der Vorbemerkung des zu besprechenden Bandes fest und merkt an, dass „selbst die Wächter des einstmals innersten Heiligtums der Hochkultur, des bürgerlichen Feuilletons“ ihre Tore mittlerweile weit der Populärkultur geöffnet hätten: „Immer öfter finden sich dort, auf zwei Feuilleton-Seiten gedrängt, etwa die amüsant erzählte Geschichte des Turnschuhs oder der E-Gitarre.“ (S. 11) Die akademische Beschäftigung mit Kultur muss dagegen, das zeigt Marcharts Buch nachdrücklich, immer wieder theoretisch erarbeitet werden.

Der Philosoph zeichnet gewissermaßen als Alternativmodell zur deutschen Kulturwissenschaft eine Geschichte der britischen Cultural Studies von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Anhand einflussreicher Texte aus dem Spektrum der Macht-, Diskurs- und Kulturtheorie (unter anderem von Antonio Gramsci, Michel Foucault, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau) und entlang der Arbeiten verschiedener Theoretiker, die am 1964 neu gegründeten „Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies“ (CCCS), des wohl wichtigsten Motors der britischen Cultural Studies in den folgenden Jahrzehnten, involviert waren, veranschaulicht Marchart Zusammenhänge und Wandel der Forschungen aus diesem Bereich. Drei Entwicklungsetappen der Cultural Studies in England macht er aus: a) eine explorative Phase, von den 1950er-Jahren bis Anfang der 1960er-Jahre, b) eine formative Phase, eingeleitet durch die Gründung des CCCS in den 1960er-Jahren bis in die 1970er-Jahre und c) eine Phase der Konsolidierung in den 1980er- und 1990er-Jahren (S. 49). Die gesellschaftspolitischen Einflüsse, die in den einzelnen Etappen auf das Projekt einwirkten (z.B. Neue Linke, Frauen- oder Antirassismusbewegung/postkoloniale Perspektiven) werden ebenso erfasst, wie ihre theoretische und methodische Fundierung nachvollziehbar dargestellt. Das Buch ist deshalb sehr gut als Einführung in die Kulturwissenschaften lesbar, bietet aber darüber hinaus auch etliche tiefenscharfe Betrachtungen komplexer Theorietexte und somit hilfreiche Anregungen für weiterführende kulturwissenschaftliche aber auch historiografische Anwendungen. Marchart präsentiert dem deutschsprachigen Publikum eine bislang nur spärlich rezipierte und explizit als politisch zu verstehende Variante der Cultural Studies, die in Großbritannien, beispielsweise von Stuart Hall, auf den er sich prominent bezieht, entwickelt, reflektiert und immer wieder vorangebracht worden ist. Der Band ist in sechs Kapitel unterteilt und verfolgt eine Linie, die entlang der Begriffe Macht, Subkultur, Medien, Diskurs und Gesellschaftspolitik gesponnen ist.

Das erste Kapitel umreißt zunächst die Konturen der Kulturwissenschaften im Vergleich zwischen deutschem und britischem Entwicklungshintergrund. Dabei sieht Marchart gerade für den deutschsprachigen Forschungsraum die Rede von einem „cultural turn“ für weite Strecken (beispielsweise der Disziplinen Soziologie oder Geschichtswissenschaften) als zu hoch gegriffen (S. 17f.). Außerdem werde mit der Idee einer kulturalistischen Wende innerhalb solcher autark gedachter Disziplinen nicht die Bedeutung des Projekts der Cultural Studies eingefangen, wie Marchart ausführt. Dagegen beschreibt er die Entwicklungen eines kulturanalytischen Instrumentariums am britischen CCCS und setzt diese neue Form der Kulturstudien in einen Kontext mit jener Idee der politischen Erwachsenenbildung (S. 26). Eingängig – vielleicht sogar noch ein wenig schematisch – erklärt Marchart die interdependenten Grundbegriffe der Cultural Studies im „magischen Dreieck“ von Kultur, Macht, Identität, bevor er sich der Frage nach spezifischen Methoden jener Nicht-Disziplin Cultural Studies zuwendet, die sich beständig an transdisziplinären Ansätzen abarbeitete und sich selbst immer wieder als „eingreifende Wissenspraxis“ zu reflektieren hatte (S. 33f., 36, 43ff.).

Im zweiten Kapitel verortet Machart die britischen Cultural Studies eingehender auf dem Feld der Neuen Linken ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre. Zunächst waren in der überwiegenden Zahl der Arbeiten, die mit literaturkritischer Methode operierten, klassenanalytische Dimensionen vorherrschend. An drei Protagonisten werden verschiedene Ansätze beschrieben, die in der ersten Phase für das Forschungsfeld maßgebend waren. Pop- und Massenkultur und ihr Einfluss auf die Arbeiterklasse wurden teils kulturpessimistisch interpretiert (Richard Hoggart), teils mit subversivem Potential im Hinblick auf bestehende Herrschaftsverhältnisse gelesen (Raymond Williams) (S. 52ff.). Edward P. Thompson beschrieb Geschichte als Klassenkampf, der auf dem Feld der Kultur ausgetragen wurde.1 Für die zweite, die formative Phase, steht vor allem das von Hoggart Mitte der 1960er-Jahre an der University of Birmingham ins Leben gerufene CCCS, an dem auch Stuart Hall von Beginn an arbeitete und das er von 1968 bis 1979 selbst leitete. Die Öffnung zu soziologischen Ansätzen war ein Kennzeichen der zweiten Phase (S. 89f.). In dieser Zeit entstand aber auch Williams Konzeptualisierung des „Kulturellen Materialismus“ (1973/1977), mit dem Antonio Gramscis Hegemonietheorie Einzug in die britischen Kulturwissenschaften hielt. Die Rezeption von Gramscis Überlegungen war ein Weg, der es überraschenderweise ermöglichen sollte, Einflüsse des französischen Strukturalismus mit dem Kulturalismus der angloamerikanischen Tradition zu verbinden (S. 76-88).

Das dritte Kapitel nimmt ausgehend von der „Entdeckung der Jugend“ die Subcultural Studies in den Blick (S. 95). Immer noch aktuell und sicher fruchtbar für weitere Forschungen zu popkulturellen Phänomenen ist Marcharts Beschreibung der Debatte über die Konzeptionalisierung des „Stils“ in der Analyse von Jugend- und Subkulturbewegungen (S. 104ff.).

Eingangs des vierten Kapitels stellt Marchart fest, dass der politische Kulturbegriff der Cultural Studies auch auf ihren Medienbegriff durchschlagen musste. Er beschreibt verschiedene Konzepte, die sich von dem Paradigma, in dem Medien allein als manipulative Maschinerie begriffen wurden – wie sie beispielsweise in frühen Texten der kritischen Theorie konzipiert waren – verabschiedeten (S. 131ff.). Als einflussreichstes Konzept sei hier zunächst Stuart Halls Kodieren-Dekodieren-Modell genannt (S. 143). „Die Medien als Hegemonieapparate: Signifikationspolitik“ ist der letzte Unterpunkt des Medienkapitels überschrieben. Hier vertieft Marchart seine theoretische Betrachtung und zeigt unter anderem, wie in den Cultural Studies Louis Althussers Theorie Ideologischer Staatsapparate in den 1970er-Jahren rezipiert und von Hall oder auch Laclau in den 1980er-Jahren kritisiert wurde. Gleichzeitig wurde aber Althussers Konzeptionalisierung von Ideologie und Subjektbildung produktiv genutzt, um in Kombination mit Gramscis Hegemoniekonzept einen medien- und machttheoretischen Zugang zur Kulturproduktion zu entwickeln. An dieser Stelle finden sich beispielsweise Zusammenhänge, die für weitergehende Anwendungen äußerst nützlich sein können (S. 160-168).

Dasselbe gilt beinahe durchgehend für das auf die Medienbetrachtung folgende Kapitel. Zu diesem leitet Marchart über, indem er den von Stuart Hall repräsentierten Strang der Kulturtheorie hervorhebt, welcher sich in den 1980er-Jahren immer mehr mit semiotischen Ansätzen beschäftigte und sich der Diskursanalyse zuwendete. Dieses vorletzte Kapitel ist überschrieben „Diskurs und Identität: ‚race’, class, gender, etcetera“ und birgt Anregungen für weiterführende Fallstudien auf kulturellen oder auch historischen Untersuchungsfeldern (S. 169). Allerdings verwundert es, dass das Kapitel ins hintere Drittel des Buches gerutscht ist, denn es erläutert viele Zusammenhänge präziser, die auch bereits zuvor thematisiert worden sind. Marchart erklärt die Genese des „Mantras“ aus Klasse, „Rasse“ und Geschlecht innerhalb der britischen Cultural Studies (S. 178). Er verweist auf die Brüchigkeit der zunächst als stabil konzipierten Trias im letzten Unterpunkt des Kapitels, wo er sich dem berühmten „etcetera“ zuwendet, und in dem er vor allem die Queer Studies als neuere Forschungspraxis hervorhebt, welche gezeigt haben, wie Machtverhältnisse nicht in einzelne Kategorien aufzuteilen sind, sondern mehrere Grenz- und Konstitutionslinien das Subjekt selbst durchziehen bzw. es immer wieder hervorbringen (S. 209). Daneben sind die Betrachtungen der diskursanalytischen Richtung überzeugend, insbesondere dort, wo er das Konzept von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau erläutert, das in „Hegemonie und radikale Demokratie“ Mitte der 1980er-Jahre begonnen und immer weiter entwickelt wurde. 2 (S. 179, 183ff.)

Im sechsten und letzten Kapitel präpariert Marchart nochmals die politische Bedeutung der Cultural Studies heraus; in den Worten Lawrence Grossbergs: „[...] sie politisieren die Theorie und theoretisieren die Politik“ (S. 219). Das verdeutlicht das Kapitel nochmals anschaulich an Halls Analyse des Thatcherismus, in der sich offenbart, wie politische Verschiebungen in kulturellen Mechanismen und hegemonialen Zentrifugen Begründung und Ausdruck finden und daher dort aufgefunden, verortet und kritisiert werden müssen (S. 239ff.). Im Nachwort zu seinen Ausführungen plädiert Marchart für die Weiterentwicklung der Cultural Studies und für ihre Fortführung als „politisches Theorieprojekt“ (S. 253).

Natürlich fehlt immer an irgendwelchen Ecken ein Verweis auf den ein oder anderen Text oder Theoretiker/in.3 Aber das Buch ist konsequent diachron entlang der Entwicklungen der britischen Cultural Studies konzipiert und es fließen synchron in den einzelnen Stufen stets die wichtigsten Einflüsse und Kontexte ein. Oliver Marchart ist ein anregendes und gut lesbares Buch gelungen – empfehlenswert für alle, die sich für theoretisch und politisch entwickelte Kulturwissenschaften interessieren oder an kulturgeschichtlichen Forschungsfragen arbeiten.

Anmerkungen:
1 Thompson, Edward P., Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt am Main 1987 (1963).
2 Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991 (1985).
3 Vgl. zu einem weiteren Überblick zum Forschungsfeld, der die Frage nach dem Machtkonzept in den Cultural Studies zentriert: Gibson, Mark, Culture and Power. A History of Cultural Studies, Oxford u.a. 2007.

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