H. Kaelble u.a. (Hrsg.): Selbstverständnis und Gesellschaft

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Titel
Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
457 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Seit seiner bahnbrechenden Untersuchung über Besonderheiten und wachsende Ähnlichkeiten der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert 1 beschäftigt sich Hartmut Kaelble mit dem Problem einer Vereinheitlichung und Singularisierung national konstituierter Gesellschaften in Europa als Voraussetzung und Folge des politischen Einigungsprozesses, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. In diesem Band, den er zusammen mit seinem früheren Mitarbeiter Martin Kirsch herausgegebenen hat, präsentiert er Arbeiten zum Selbstverständnis der Europäer und zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa, die an seinem Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin oder im Kontext der dort angesiedelten Forschergruppen entstanden sind. Angesichts der Breite des hier angesprochenen Forschungsfeldes vermögen sie kein umfassendes Bild der „Europäisierung“ Europas im 20. Jahrhundert zu bieten. Gleichwohl sind eine Reihe wichtiger Beobachtungen zu verzeichnen, die in der weiteren Debatte über das Europäisierungsproblem beachtet werden sollten.

Hilfreich ist zunächst die eingangs vorgestellte Konzeptionalisierung des Europäisierungsbegriffs. Kaelble schlägt vor, darunter ein Zusammenspiel von sechs wesentlichen Entwicklungen zu verstehen: (1) die Entwicklung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, rechtlicher, politischer und kultureller Konvergenzen zwischen europäischen Staaten und Regionen, (2) die zunehmenden Verflechtungen und Transfers zwischen europäischen Ländern, vom Austausch von Waren und Kapital bis zur Entwicklung der Fremdsprachenkenntnisse und zum Kulturtransfer, (3) die Erfahrung des europäischen Raums, sowohl durch innereuropäische – freiwillige und erzwungene – Mobilität als auch durch den Rückzug der Europäer aus den außereuropäischen Kolonialgebieten, (4) das Aufkommen europäischer Besonderheiten in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, politischer und rechtlicher Hinsicht, (5) die Entwicklung der Selbstverständnisdebatte der Europäer, und (6) der Aufbau politischer und rechtlicher Institutionen auf europäischer Ebene. Zu Recht macht Kaelble darauf aufmerksam, dass die Identifizierung solcher Entwicklungen als europäisch immer den vergleichenden Blick auf außereuropäische Entwicklungen einschließen muss. Allerdings sind damit auch schon die Schwierigkeiten angedeutet, die eine Nachzeichnung von Europäisierungsprozessen in der Geschichte bewältigen muss. Ein Periodisierungskonzept, das alle sechs Entwicklungen berücksichtigt, liegt bislang nicht vor, und es wird auch hier nicht entwickelt.

Besonders aufschlussreich sind die Beobachtungen von Thomas Mergel zum Verhältnis von Migration und europäischem Selbstverständnis. Es ist natürlich komplex, allein schon weil Fremdheitserfahrungen auch ein Bewusstsein für die Vielfältigkeit europäischer Lebensformen schaffen konnten und es sehr viele unterschiedliche Formen von Migration gab, von den Arbeitsmigrationen über das politische Exil von Eliten bis zu den Massenvertreibungen. Aufs Ganze gesehen führte aber dauerhafte Migration zu einem Anwachsen europäischer Identitäten, vor allem im Sinne von multiplen Identitäten; hier kommt der migratorischen Konstruktion von Identitäten eine Pionierrolle in der gesellschaftlichen Entwicklung der Europäischen Union zu. Sabine Haustein und Regina Vogel zeigen in vergleichenden Untersuchungen zur Konsumdebatte bzw. zum Fortleben von Bürgertum und Bürgerlichkeit nach 1945 in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, dass die Diskussionen in diesen drei Ländern ganz ähnlich verliefen und auch eine gleichartige Kontinuität von Bildungssystemen und sozialer Reproduktion zu verzeichnen ist. Man wird hier von einer europäischen Gesellschaft avant la lettre sprechen können: einem bereits erreichten hohen Maß an Gleichförmigkeit, dessen sich die Zeitgenossen allerdings noch kaum bewusst sind. Ob das auch für den Bereich der industriellen Beziehungen gilt, wäre noch zu erforschen; Thomas Fetzer bietet hierzu mit seinem Plädoyer für eine Untersuchung transnationaler Arbeitsmärkte immerhin einen Forschungsansatz, der hohen analytischen Ertrag verspricht.

In den Beiträgen zum europäischen Selbstverständnis werden zunächst Beispiele für das Überlegenheitsmodell vorgeführt, das an der Wende zum 20. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte: Iris Schröder skizziert das „Europa der Geographen“, und Michael Stoyke zeichnet das Selbstverständnis deutscher Chinareisender nach, die sich in der Fremde als Europäer entdeckten. Hagen Schulz-Forberg berichtet über die Wahrnehmung Berlins als Vorboten einer gemeinsamen europäischen Zukunft in Berichten englischer und französischer Reisender; er bietet damit einen gewiss indirekten, dafür aber umso aufschlussreicheren Einblick in die Selbstwahrnehmung von Europäern in einem als gemeinsam gedachten Entwicklungsprozess. Susan Rössner und Martin Kirsch behandeln Europa-Vorstellungen von Historikern von den 1920er- bis zu den 1960er-Jahren: Sie stellen fest, dass Bestimmungen des „Europäischen“ in dieser Zeit nur sehr partiell und in Ansätzen erfolgten – zum einen infolge der historistischen Geschichtsauffassung, die die Singularität der einzelnen Nationen in den Vordergrund stellte, zum anderen aufgrund der Erfahrungen mit den Schattenseiten der europäischen Moderne. Priska Jones schließlich zeigt anhand von Karikaturen zur Maastricht-Debatte in Großbritannien, dass sich die traditionelle Europa-Distanz der Briten zu Beginn der 1990er-Jahre deutlich verringerte.

All dies sind nur Bausteine zu einer Geschichte des Europabewusstseins. Insofern stehen die Thesen zur Entwicklung des europäischen Selbstverständnisses, die Kaelble abschließend noch einmal vorträgt 2, nach wie vor auf empirisch unsicheren Grund. Dass die Anerkennung einer multiplen Moderne durch die Europäer auch mit einer Abschwächung von europäischen Besonderheiten zu tun hat, die eng mit der europäischen Expansion verbunden waren, mag man bezweifeln: Schließlich sind der europäische Typ der Kleinfamilie und die industrielle Arbeit, die Kaelble hier anführt, nicht dadurch verschwunden, dass sie unterdessen auch in vielen anderen Teilen der Welt auftreten. Die vielen Forschungsdefizite, die der Band indirekt deutlich werden lässt, regen freilich nicht nur zum Weiterarbeiten an. Die hier gewählten Ansätze und Verfahrensweisen schärfen auch das Bewusstsein für die notwendige begriffliche und konzeptionelle Präzision einer historischen Europäisierungsforschung.

Anmerkungen:
1 Kaelble, Hartmut, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980, München 1987.
2 Detaillierter werden sie entwickelt in: Kaelble, Hartmut. Europäer über Europa. Die Entstehung des modernen europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001.

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