P. Gautschi u.a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute

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Titel
Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte


Herausgeber
Gautschi, Peter; Moser, Daniel V.; Reusser, Kurt; Wiher, Pit
Erschienen
Bern 2007: h.e.p. verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Furrer, Universität Freiburg

Die Erkenntnis, dass sich die Geschichtsdidaktik nicht mehr länger mit dem Wohlklang großer Begriffe wie dem Reflektieren historischen Geschichtsbewusstseins oder dem „historischen Denken Lernen“ zufrieden geben könne, ist verbreitet und wurde durch PISA-Diskussion sowie Debatten um Bildungsstandards und Kompetenzmodelle weiter angestoßen, ja setzte die Fachdidaktik unter Zugzwang.1 So gelte es, „historisches Lernen als individuellen Wissenserwerb in organisierten Lernprozessen zu erforschen und daraus Leitlinien und Konzepte für das Lehrerhandeln zu entwickeln (…)“.2 Daraus resultiert ein erheblicher Nachholbedarf an empirischer Forschung, die über die bisher breit in unterrichtspraktischen Zeitschriften angebotenen methodologisch orientierten Handreichungen hinausgeht und historisches Lernen empirisch überprüft. Im Zentrum der Forderungen stehen empirische Untersuchungen, welche auf die unmittelbare Vermittlungsleistung von Unterricht abzielen. Im Vordergrund stehen Fragen, ob unter den gegebenen Voraussetzungen die von der Gesellschaft erwünschten und von der Geschichtsdidaktik vorgeschlagenen Zielsetzungen erreicht werden und welche Wirkungen die angewandten Vermittlungsmethoden besitzen.3 Zwei Stränge, die eng verflochten sind, lassen sich ausmachen: die Grundlagenforschung zu historischem Denken und Lernen auf der einen Seite sowie die auf Lehr- und Lernprozesse mit historischen Inhalten zielende Unterrichtsforschung andererseits.4 Übereinstimmung herrscht auch darin, dass die Geschichtsdidaktik nicht allein als Disziplin den Geschichtsunterricht sowie Lehr- und Lernprozesse erforscht und noch weniger über ein eigenes Methodenrepertoire verfügt5, sondern dieses anderen Wissenschaftsdisziplinen entlehnt und mit ihnen zusammenarbeitet.

Mit „Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Studie ausgewählter Aspekte“ legt eine Schweizer Forschergruppe eine Studie vor, die sich explizit an den Forschungsdesiderata ausrichtet und den Geschichtsunterricht zum Gegenstand nimmt. Angeregt wurde sie durch das weitgehende Fehlen von Forschung in der Schweiz, lag doch bis anhin für das schweizerische Schulsysteme, das in sich durch eine größere Heterogenität ausgezeichnet ist, kein forschungsgestütztes Wissen über die konkrete Praxis des Geschichtsunterrichts vor. Zwei Aspekte zeichnen die Studie aus: Einmal basiert sie auf einer Forschungskooperation und eröffnet so interdisziplinäre Zugänge, indem neben der Geschichtsdidaktik insbesondere auch Erziehungswissenschaften eingebunden sind. Weiter wirkten für den Mathematikunterricht entwickelte Videostudien anregend für die Anwendung auf den Geschichtsunterricht. Die Videostudien nehmen einen gewichtigen Teil in den Untersuchungen ein, wobei vier Hauptziele verfolgt werden: 1. Die Entwicklung einer differenzierten und möglichst repräsentativen Beschreibung des aktuellen Unterrichts im Schulfach Geschichte und Politik auf der Sekundarstufe I des 9. Schuljahres. 2. Die Erhebung eines differenzierten und möglichst repräsentativen Bildes des Wissens und des Verständnisses von Schweizer Jugendlichen im Bereich Geschichte und Politische Bildung. 3. Die Suche nach Bedingungen historischen Lernens im Kontext des Unterrichts. 4. Die Ausarbeitung und Erprobung neuer methodischer Zugänge und Analyseinstrumente, die ein tieferes Verständnis der Unterrichtsprozesse und der Unterrichtsqualität im Geschichtsunterricht erlauben sollen. Beeinflusst von Forschungsansätzen im englischsprachigen Raum, legt die Studie ihren Fokus auf die Geschichtsdidaktik im engeren Sinne mit einer primären Ausrichtung auf den Geschichtsunterricht. Peter Gautschi schlägt hier „Fragestellungen entlang eines Didaktischen Dreiecks“ (Gegenstand – Lernende – Lehrperson) vor.

Vorwegnehmend finden sich bereits in der Einleitung teils weniger erwartete Erkenntnisse: So wird entgegen einer verbreiteten Meinung der Geschichtsunterricht von den Schülerinnen und Schülern im Wesentlichen positiv erlebt und beurteilt. Gestützt wird hingegen die Annahme, dass Jungen ein stärkeres Interesse am Geschichtsunterricht zeigen als Mädchen. Aktuellen und gesellschaftlichen Themen wurde insgesamt eine größere Präferenz seitens der Schülerinnen und Schülern zugeschrieben. Der beobachtbare Geschichtsunterricht ist in seiner curricularen Ausrichtung eher stofforientiert. Auch ist der fragend-entwickelnde Unterricht als Unterrichtsmuster vorherrschend. Und ferner scheint das Schulgeschichtsbuch nach wie vor ein Leitmedium zu sein. Die Studie gliedert sich in sieben Teile, die meist von einem Autorenteam verfasst worden sind und in denen Teilstudien präsentiert werden.

Peter Gautschi eröffnet mit dem Kapitel „Geschichtsunterricht erforschen – eine aktuelle Notwendigkeit“ den Band und legt einen breit abgestützten und systematischen Überblick vor, indem er zu Beginn den Wandel des Schulfachs Geschichte (neue Inhalte, neues Lernverständnis, gewandelte Lehrerrolle, heterogene Schülerschaft, Ende der schulischen Dominanz in der Vermittlung zentraler historischer Themen) skizziert. Sein Vorschlag der Gliederung der Forschung zum Geschichtsunterricht in die Phänomenforschung, Ergebnisforschung, Wirkungsforschung, Interventionsforschung sowie Forschung zu historischem Denken und Lernen wurde bereits rezipiert. Wolfgang Hasberg hebt hervor, dass auf Grund der induktiven Ableitungen solche Zuordnung keinen abschließend gültigen Parameter darstellen können, bilde doch jede Zeit das Spektrum an empirischer Forschung aus, das ihren Erkenntnisinteressen entspreche.6 Dennoch stellen solche Zuordnungen hilfreiche Leitplanken dar, schaffen sie doch Übersichtlichkeit und zeigen die aktuellen unterschiedlichen Herangehensweisen auf. Damit verbindet sich auch ein Plädoyer für einen Methodenpluralismus.

Monika Waldis, Kurt Reusser und Daniel V. Moser führen anschließend in den „mehrperspektivischen Forschungszugang unter spezieller Berücksichtigung der Videomethodologie“ ein und halten Forschungszugang und Studiendesign fest. Neben Videoaufnahmen kamen die Lehrerbefragung im Anschluss an die videografierte Lektion sowie die Schülerbefragung im selben Rahmen wie auch allgemeine Fragebogen für Lehrpersonen und allgemeine Schülerfragebogen zum Einsatz. Offenkundig werden die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den drei untersuchten Kantonen Aargau, Bern und Zürich auf Grund der föderalistischen Struktur des Landes. Auch zielt die Untersuchung damit auf den deutschsprachigen Raum der Schweiz.

In einem weiteren Beitrag zu den „Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht“ weisen Jan Hodel und Monika Waldis auf die näheren Ergebnisse der Videoanalyse hin. Wie sie erwähnen, betrat man im Bereich der geschichtsdidaktischen Forschung mit diesem Zugang methodologisches Neuland. Ein großer Vorteil des Mediums liegt in der wiederholbaren Verwendung solch visuell festgehaltener Beobachtungen. Videoaufnahmen von Klassenunterricht ermöglichen die wiederholte Beobachtung sichtbarer Lehrerhandlungen und Schüleraktivitäten unter verschiedensten theoretischen Perspektiven. Die Ergebnisse stützen Vermutungen, machen aber auch bemerkenswerte neue Erkenntnisse sichtbar: So findet etwa das Vorlesen während des Unterrichts im 9. Schuljahr immer noch häufig statt. Hingegen kommen Lehrererzählungen in den gefilmten Lektionen praktisch nicht vor. Die dominierende Vermittlungsform lässt sich als materialgestütztes fragend-entwickelndes Lehrgespräch einstufen. Von Interesse kann auch der Befund sein, dass bei rund der Hälfte der Arbeitsaufträge die Bearbeitungszeit unter fünf Minuten liegt und folglich im Rahmen einer so knapp bemessenen Arbeitszeit eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand kaum umsetzbar sein dürfte. Während thematisch primär das 20. Jahrhundert im Fokus des Geschichtsunterrichts ist, weisen visuelle Lernmaterialien eine Dominanz im Unterricht auf, hingegen sind Texte von geringerer Bedeutung. Dabei wird jedoch sichtbar, dass elementare Kriterien der Quellenkritik im Unterricht nicht umgesetzt werden. Lektionen zeichnen sich ferner durch eine Standardisierung aus, indem eine rund zehn Minuten von der Lehrperson gestaltete Einleitungssequenz am Anfang steht. Ihr folgt eine Phase der Erarbeitung von neuen Inhalten, die im Rahmen eines Klassengesprächs oder als Präsentation der Lehrperson gestaltet ist. Daran schließen sich Lernaufgaben mit Arbeitsaufträgen. Eine kurze Sequenz mit Zusammenfassung und Ausblick beendet die Lektion.

Mit Lehrerwissen und Lehrerhandeln befassen sich Helmut Messner und Alex Buff. Im Vordergrund der Teilstudie steht die „Wissensbasis von Lehrpersonen“, die nach Rainer Bromme unter fachliches Wissen, curriculares Wissen, Philosophie des Schulfachs, pädagogisches Wissen und fachspezifisch-pädagogisches Wissen kategorisiert wird. Von Interesse sind auch hier gewisse Befunde, indem etwa kaum statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den Lehrpersonen der verschiedenen Schultypen (die in der Regel auch unterschiedliche Ausbildungen – fachspezifische Ausbildung oder Allrounderausbildung einbringen) gemacht werde können. Dies wirft aus Sicht der Autoren ein Licht auf die Bedeutung der schulischen Praxis als berufliche Sozialisationsinstanz.

Monika Waldis und Alex Buff befassen sich anschließend mit der Sicht der Schülerinnen und Schüler und fragen auf der Basis einer Schülerbefragung nach Unterrichtswahrnehmung und Interessen (Wahrnehmung von Unterrichtsqualitätsmerkmalen, dem allgemeinen Interesse an Geschichte sowie den Zusammenhängen zwischen Unterrichtswahrnehmungen von Schülerinnen und Schülern und dem Interesse für das Fach). Überraschend ist der Befund, dass der Unterricht im Lernbereich „Geschichte und Politik“ von den Jugendlichen recht positiv wahrgenommen wird, wobei das Interesse am Fach im Mittel als eher mäßig einzustufen ist und auch keine allzu großen Differenzen zwischen den Schultypen bestehen. Von großem Interesse sind für die befragten Schülerinnen und Schüler Themen, die aktuell in den Medien besprochen werden (Wohlstand und Armut, Wandel der Familie, Migration und Zweiter Weltkrieg). Hingegen stoßen Themen wie die Entwicklung des Handels, Alltagsleben im Ersten Weltkrieg, die Zwischen- und Nachkriegszeit sowie Staatskunde auf untergeordnetes Interesse.

Daniel V. Moser und Pit Wiher besprechen die Ergebnisse einer Schülerbefragung, die im Rahmen der eingesetzten Instrumente erste Hinweise liefern kann. Gefragt wurde nach dem historisch-politischen Wissen von Jugendlichen, das die Autoren in Orientierungswissen, Begründungswissen, Verfahrenswissen und Wissen zur politischen Bildung gliedern. Aus dem Befund, dass die Ziele und damit auch die Vorstellungen, was Jugendliche von der Geschichte wissen müssten, bei Weitem nicht erreicht seien, leiten die Autoren einen größeren Entwicklungsbedarf ab und stellen Forderungen an das Bildungssystem.

In einem abschließenden Beitrag loten Kurt Reusser, Monika Waldis und Peter Gautschi die Chancen einer fachdidaktischen Arbeit mit Unterrichtsvideos in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung aus, die dank ihrer hohen Anschaulichkeit und der so genannten „Zeigefunktion“ eine Reflexion über „guten Unterricht“ ermöglichen und so als innovative Werkzeuge und Medien in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden können. Für die Autorengruppe führt der Einsatz des Mediums zu einem Quantensprung in der Ausbildung und Weiterbildung von Lehrpersonen.

Die Studie liefert einen interessanten und gewichtigen Beitrag für die fachdidaktische Forschung. Insbesondere setzt sie für den deutschsprachigen Raum der Schweiz erste und neue Akzente und liefert mit ihren Erkenntnissen einen fruchtbaren Beitrag für das Schulfach Geschichte.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu: Günther-Arndt, Hilke; Sauer, Michael, Einführung: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Fragestellungen – Methoden – Erträge, in: dies. (Hrsg.), Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 7-28.
2 Ebd., S. 9.
3 Vgl. Beilner, Helmut, Empirische Geschichtsdidaktik, in: Mayer, Ulrich; Pandel, Hans-Jürgen; Schneider, Gerhard; Schönemann, Bernd (Hrsg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2006, S. 45-47, hier S. 46.
4 Vgl. Hasberg, Wolfgang, Im Schatten von Theorie und Pragmatik – Methodologische Aspekte empirischer Forschung in der Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts 2007, S. 9-40, hier S. 18.
5 Ebd., S. 24-25.
6 Ebd., S. 18.

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