Titel
Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930


Autor(en)
Gamper, Michael
Erschienen
München 2007: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
582 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Siemens, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Mit der Buchfassung der Habilitationsschrift des Züricher Germanisten Michael Gamper liegt ein gewichtiges Buch vor – haptisch wie inhaltlich. Auf über 500 Seiten zeichnet der Autor nach, welche Konzepte, Vorstellungen und Ängste von Menschenmengen in der westeuropäischen, primär deutschsprachigen Literatur zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Höhepunkt der „klassischen Moderne“ um 1930 verhandelt wurden. Für Gamper eignet sich die Literatur in doppelter Hinsicht als Sonde zur Erkundung des Phänomens „Masse“: als „Nachrichtenmedium“, das über eine nicht-präsente Sache Auskunft gebe, sowie als „Erfahrungsmedium“, das dem Leser „neue Bereiche des Verstehens und des Empfindens“ erschließe (S. 20). Der Verfasser hat dabei besonders kollektiv wirkende Vorstellungs- und Perzeptionsmuster im Blick. Ihm geht es darum, ein so diffuses Phänomen wie „Masse“ als einen „diskursiven Komplex mit starken imaginären Anteilen“ kenntlich zu machen, da dieser – so die Ausgangsüberlegung – „für die moderne westliche Kultur zugleich zivilisatorische und ästhetische Grenzerfahrungen thematisiert, zurichtet und teilweise verdrängt“ (S. 29).

Methodisch orientiert sich Gamper an Überlegungen Michel Foucaults sowie des griechisch-französischen Philosophen Cornelius Castoriadis. Mit Foucault nimmt Gamper den Massendiskurs als Disziplinierungs- und Ausschließungsinstrument in den Blick, mit Castoriadis hebt er den performativen Akt der Selbstschöpfung von Gesellschaft hervor. Nach Castoriadis wirken das „radikal Imaginäre“ und die darauf aufbauenden „Weisen der Instituierung“ stets zusammen. Eine Gesellschaft basiere nicht allein auf symbolischer Ordnung, sondern werde immer auch durch Vorstellungen des „Imaginären“ ergänzt (S. 34ff.). An dieser Stelle bringt Gamper die Literatur ins Spiel. Literarische Texte, so seine These, spielten für die Genese und Aktualisierung des Massediskurses die zentrale Rolle, weil sie sowohl „diskursbegründende und -affirmierende Zeugnisse“ als auch „die Diskursordnung unterminierende und transzendierende Redeformen“ darstellten (S. 31). Literarische Aussagen über die Form und Funktion von Menschenmengen, so lässt sich einfacher formulieren, können bestehende Herrschaftsverhältnisse sowohl stützten als auch stürzen, weshalb eine Analyse einzelner Bestandteile des Masse-Diskurses diese immer auch im Raum des Politischen zu verorten hat.

Auf denjenigen, der sich mit Erfolg durch die dichte, an manchen Stellen hermetische Einleitung gekämpft hat, warten sieben umfangreiche Kapitel, in denen Gamper in einer Art „Höhenwanderung“ den Kanon deutschsprachiger Literatur und ihrer Autoren auf seiner Suche nach der Menschenmenge in literarischen Konzepten und deren Ausformung in poetischen wie nichtfiktionalen Texten durchschreitet. Diese Kapitel sind weitgehend chronologisch angeordnet. Gamper orientiert sich an den eingebürgerten literaturwissenschaftlichen Epochenbezeichnungen; innerhalb der Kapitel differenziert er dann nach einzelnen Autoren. Zentrale Texte analysiert Gamper zumeist in der Tradition des close reading, bricht dieses hermeneutische Verfahren jedoch immer dann auf, wenn er ideengeschichtliche Kontinuitäten zwischen einzelnen Autoren herausarbeitet. Auch gelingt es dem Verfasser, die von ihm analysierten literarischen Texte in ein breites Diskursnetz einzubetten, indem er die Entwicklungen in Wissenschaft, Politik und Philosophie ausführlich berücksichtigt.

Hier ist nicht der Platz, die zahlreichen Themen und Ergebnisse der Arbeit umfassend zu diskutieren. Ein Schnelldurchgang durch das Buch möge aber eine erste, notgedrungen geraffte Orientierung ermöglichen: Folgt man Gamper, dann war das Reden über „Menschenmengen“ zunächst ein Problem politischer Herrschaftsausübung. Die Lenkung und Disziplinierung vermeintlich „wilder“ und allezeit zu emotionalen und damit „unvernünftigen“ Handlungen bereiten „Massen“ dominierte noch in den Texten der Aufklärung, bis sich mit dem deutschen Idealismus und der Romantik eine positivere Vorstellung von „Masse“ durchsetzte, die in einen emphatischen Begriff von „Volk“ mündete. Die französische Revolution schürte diesen Antagonismus: „Konservative“ Autoren beschrieben die Menschenmenge zumeist als aufgepeitschten, mit weiblichen und „barbarischen“ Eigenschaften versehenen Volkshaufen, während ein „reformfreudiger“ Autor wie Heinrich Heine zwar auch grundlegende Ängste vor der „Masse“ teilte, daraus jedoch die Dringlichkeit der Beseitigung sozialer Missstände ableitete.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verlor der Diskurs über „Masse“ seine alarmistischen Tendenzen. Statistiker, Physiker und Bevölkerungswissenschaftler brachten die Vorstellung eines homme normal hervor und halfen damit, das einzelne Individuum in der Menschenmenge zu identifizieren. Im Ergebnis verlor die „Masse“ an Gefährlichkeit. Die Literatur des Realismus war diesem Paradigmenwechsel insofern verpflichtet, als sie Durchschnittlichkeit und „Normalität“ zunächst positiv konnotierte, als „guten“ Normalfall. An die Stelle schwärmerischer Konzepte der Romantik trat nun eine dezidiert anti-idealistische „Sehnsucht nach Realität“ (S. 339). Gamper spricht bei Gustav Freytag von der „Poesie bürgerlicher Mittellage“, die etwa in dessen Roman ‚Soll und Haben’ mit seinem „deutlich akzentuierten nationalistischen und kolonialistischen Impetus“ einhergegangen sei (S. 347). Aus der romantischen Idee der Gemeinschaft aller Völker wurde bei einem solchen Autor zunehmend eine um die vermeintlich eigenen nationalen Besonderheiten herum konstruierte Volksgemeinschaft.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dominierten weitreichende Visionen einer grundlegenden „Verbesserbarkeit“ der „Menschenmassen“. Literaten wie Zola und Nietzsche markierten hier zwei unterschiedliche, im Ergebnis jedoch ähnliche Ansichten. Während sich der „Realist“ Zola eugenische Überlegungen als Mittel zur Aufrechterhaltung der „guten Mitte“/Normalität propagierte, basierte Nietzsches Wille zur Auslese gerade auf der Sorge vor einer alles trivialisierenden „Vermassung“. Um die Jahrhundertwende entwickelten sich dann die modernen Naturwissenschaften verstärkt zu Stichwortgebern des literarischen Masse-Diskurses. Das „energetische Paradigma“, dass (die physikalische) Masse als Träger von Energien identifizierte, fand etwa Eingang in die Metaphorik von Autoren des literarischen Expressionismus wie Georg Heym und Carl Sternheim. Sie erinnerten an die vitalistischen Potentiale der „Menschenmassen“, die bei Heym in ein neues Pathos mündeten, das die energetische Entladung der Masse als Selbstzweck feierte. Die fundamentalen Umwälzungen des Ersten Weltkrieges, sprachlich ablesbar etwa im Bild einer „entfesselten“ Kriegsführung, stützten solche grundlegenden, meist emphatischen, stets aber auch die Möglichkeit zur Selbstzerstörung beinhaltenden Vorstellungen von „Masse“.

Bald darauf warfen die Autoren der „Neuen Sachlichkeit“ einen neuen Blick auf die Menschenmengen. Sie warnten vor den Gefahren einer zunehmend durchkapitalisierten Welt, in der „Massen“ zum Ornament erstarren und menschliche Individualität zugunsten wirtschaftlich profitabler Normierungsprozesse unterdrückt würde. Zugleich kündigte sich eine „Krise der Literatur“ an, denn die von Gamper besprochenen Siegfried Kracauer und Erich Kästner waren nicht zufällig auch Journalisten, die ihrem Selbstverständnis nach einem vermeintlich objektiven Beobachterstatus verpflichtet waren, wie er in der Wertschätzung der damals aufkommenden Pressefotografie paradigmatisch zum Ausdruck kam. Seit den 1920er-Jahren, so Gamper, sei die Literatur dann vom Kino als wichtigstem Reflexions- und Darstellungsmedium von bzw. über „Masse“ abgelöst worden (S. 505ff.). Der Autor schließt damit an ältere Überlegungen etwa in Jürgen Habermas’ ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ an, freilich ohne diesen explizit zu nennen. Ob das drohende Ende der gesellschaftlichen Orientierungsfunktion bürgerlicher „Hochkultur“ durch eine „radikale Neuausrichtung“ der Literatur auf dem Stand der modernen Kommunikationstechnik abgewendet werden kann – wie seinerzeit der aufmerksame Beobachter Walter Benjamin vermutete – ist auch im Zeitalter des Hörbuchs eine aktuelle Frage. Gamper greift sie in seinen Schlussüberlegungen auf. Entgegen der Meinung von Autoren wie Ernst Jünger, der in seiner Programmschrift ‚Der Arbeiter’ von 1932 Vorstellungen alten Stils von „Masse“ mit radikalem Gestus für nicht mehr zeitgemäß erklärt hatte, hebt er hervor, dass sich das Thema am Ausgang des 20. Jahrhunderts keinesfalls erledigt habe. Dass sich Literatur und Theater als „Diskursformen und Medium“ (S. 524) erneut als relevante Orte des Diskurses über „Masse“ profilieren könnten, versucht Gamper anhand zweier kurzer Analysen von Texten aus den 1990er-Jahren zu belegen. Bei Rainald Goetz und Elfriede Jelinek entdeckt er Ansätze, die kritisch nach den Folgen fragen, die eine seit 1945 vorherrschende Nicht-Thematisierung von Masse für das Individuum in der postindustriellen Welt hat.

Leider muss der Leser auf eine präzise und hoch verdichtete Zusammenfassung der Einzelergebnisse verzichten. Es bleibt ihm überlassen, die analytischen und im Einzelnen oftmals sehr interessanten Teilergebnisse der Arbeit, die in den Kapiteln tendenziell in knappen Passagen zwischen den jeweiligen Textinterpretationen „versteckt“ sind, gedanklich auf ihre Stimmigkeit im Hinblick auf Gampers Hauptthese zu prüfen. Mag eine solch indirekte Aufforderung zum kritischen Weiterdenken in der Anlage der Arbeit auch intendiert sein, so trägt sie doch nicht zur Lesefreundlichkeit bei.

Diese Anmerkung ändert jedoch nichts an der Gesamtbewertung von Gampers Arbeit. Der Autor hat eine empirisch umfassende, analytisch tiefgehende und methodisch anregende Forschungsarbeit vorgelegt, die mit ihrem interdisziplinären Zugang über den Kreis der Literaturwissenschaften hinaus anschlussfähig ist.