M. Behmer u.a. (Hrsg.): Radiotage, Fernsehjahre

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Titel
Radiotage, Fernsehjahre. Interdisziplinäre Studien zur Rundfunkgeschichte nach 1945


Herausgeber
Behmer, Markus; Hasselbring, Bettina
Erschienen
Münster 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Hilgert, DFG-Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“, Justus-Liebig-Universität Gießen

Radio und Fernsehen haben das 20. Jahrhundert, das „Jahrhundert der Massenmedien“1 deutlich geprägt. Die umfassende Medialisierung von Gesellschaft und Kultur ist wesentlich mit der Entwicklung und massenhaften Verbreitung des Rundfunks verbunden. Gleichwohl ist die geschichtswissenschaftliche Erforschung der komplexen Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Massenmedien, die „Erkundung der Massenmedien als Kern menschlicher Weltaneignung“2, bekanntlich zunächst nur schleppend in Gang gekommen. Mittlerweile dürfte sich die Analyse von unterschiedlichsten Formen, Phänomenen und Begleitumständen historischer (Massen)Kommunikation – auch nach diversen kulturwissenschaftlichen „turns“ – aber zu einem überaus lebendigen Forschungsfeld entwickelt haben.

Da sich hier seit jeher nicht nur Historiker tummeln, sind die „Ansätze und Zugänge der rundfunkhistorischen Forschung“ sehr vielfältig, wie die Herausgeber des bereits 2006 erschienenen Sammelbandes „Radiotage, Fernsehjahre“ richtig bemerken (S. 11). Sicherlich hat die Medien- und Kommunikationsgeschichte das Potenzial, sich zu einem weitgehend transdisziplinären Forschungsfeld zu entwickeln. Trotz aller Bemühungen ist es aber noch nicht soweit. Das ist zum einen den spezifischen, nur bedingt kompatiblen Erkenntnisinteressen und den sich daraus ergebenden Methoden der unterschiedlichen medien- und kommunikationsgeschichtlich arbeitenden Fachrichtungen geschuldet. Zum anderen scheint es auf allen Seiten noch häufig an der nötigen Sensibilität für die Forschungsleistungen der anderen Disziplinen zu mangeln. Ein Missstand, dem sich unter anderem diese, auf einer Tagung beruhende Publikation annehmen möchte. „Das Feld ist weit – und Foren der interdisziplinären Begegnung gibt es nur wenige“, heißt es daher etwas pathetisch in der Einleitung (S. 11).

Die „Begegnung“, auf die der Band „Radiotage, Fernsehjahre“ zurückgeht, fand auf Einladung des Historischen Archivs des Bayerischen Rundfunks (BR) im Januar 2004 in München statt. Veranstaltet wurde die Tagung von der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) in Kooperation mit dem Studienkreis Rundfunk und Geschichte sowie dem Münchner Arbeitskreis öffentlicher Rundfunk. Absicht war es, „ForscherInnen unterschiedlicher Fächer (…) und Rundfunkarchive zusammenzubringen, um einen Austausch über den gegenwärtigen Forschungsstand wie auch über Forschungsperspektiven aus der Sicht der verschiedenen Disziplinen anzuregen sowie durch den Dialog zwischen Forschung und Archiven zu fördern.“ (S. 11-12).

Diesem Anspruch folgt auch der Tagungsband. Er dokumentiert 13 Vorträge sowie das Transkript der öffentlichen Podiumsdiskussion am Eröffnungsabend. Der Bogen reicht von einer reichlich medieninstitutionsgeschichtlich geratenen annotierten Bibliografie der bis dato maßgeblichen Forschungsliteratur zur Rundfunkgeschichte nach 1945, über unterschiedlichste programmbezogene Untersuchungen, Aspekte der Rundfunkrezeption und des interkulturellen Austauschs bis hin zu einer architekturgeschichtlich angelegten Studie über den Wandel von Öffentlichkeitsvorstellungen und deren Auswirkungen auf Funkhaus-Bauvorhaben in Köln zwischen „Drittem Reich“ und früher Bundesrepublik.

Auf die einzelnen Beiträge kann hier nicht ausführlich eingegangen werden – sie sind jedoch in thematischer, empirischer und darstellerischer Hinsicht mitunter recht disparat.3 Während etwa die Historikerin Monika Boll schlüssig und kenntnisreich darstellt, welche Bedeutung die Nachtprogramme des Hörfunks in den 1950er-Jahren für die intellektuelle Selbstverständigung hatten, begnügen sich andere Beiträge damit, lediglich bestimmte Programmstrukturen, Inhalte oder spezifische Gestaltungselemente einzelner Sendungen deskriptiv zu erfassen, ohne sich ernsthaft um eine historische Kontextualisierung zu bemühen (insbesondere Barbara Schmied). Entsprechend blass und vorläufig erscheinen dann manche Schlussfolgerungen. Die Kommunikationswissenschaftler Jürgen Wilke und Jutta Spiller identifizieren in ihrem Beitrag über die Entwicklung der Wahlkampfberichterstattung im westdeutschen Fernsehen beispielsweise bestimmte Themenkonjunkturen bzw. -verschiebungen (S. 120f.). Zudem machen sie einen Trend zur Personalisierung und „Privatisierung“ aus (S. 121) und stellen fest, dass die Berichterstattung im Verlauf der Jahre diskursiver geworden sei, wobei dem ZDF eine gewisse Innovatorrolle zukomme (S. 120). Hier würde der Historiker eigentlich auch eine Einordnung der empirischen Befunde und Deutungsangebote in den historischen Kontext erwarten. Die statistisch, deskriptive Kärrnerarbeit ist wichtig, sollte aber Ausgangspunkt für weitere Analysen sein. Dass dies keine überzogene Forderung ist, zeigt der Beitrag von Kristina Wied, die ebenfalls Kommunikationswissenschaftlerin ist. Sie weist explizit darauf hin, dass die von ihr vorgestellten Teilergebnisse zur formal-ästhetischen Gestaltung von Wahlabendsondersendungen noch durch andere Zugriffe ergänzt und historisch kontextualisiert werden müssen (S. 143).

Das ist zugegebener Weise leichter gesagt, als getan. Immer wieder arbeiten sich kommunikationsgeschichtliche Arbeiten an einer notorisch schwierigen Quellensituation4 und der Suche nach einer adäquaten Methode ab. So ist es ein Dilemma, wenn die grundsätzlich ambitionierte Untersuchung Wilkes und Spillers sich im Wesentlichen auf die Auswertung einer Programmzeitschrift stützt, weil Aufzeichnungen der eigentlich benötigen Sendungen größtenteils nicht mehr überliefert sind. Bestimmte Aussagen zu Inhalt, Gestalt und Qualität der – insbesondere tagesaktuellen – Berichterstattung lassen sich somit fast gar nicht mehr treffen oder bleiben notgedrungen vage. Besonders problematisch sind erfahrungsgemäß seriöse Aussagen zur historischen Rezeption von Medienangeboten.

Im besten Fall wird aus der (Quellen-)Not eine Tugend gemacht. Die Kombination unterschiedlicher Quellen soll helfen, den wenigen Überlieferungen Antworten abzuringen. Michaela Maier bemüht sich etwa, die einschlägigen Ergebnisse von Michael Meyen zur Mediennutzung in der DDR durch die Auswertung eines neuen Quellenkorpus, nämlich zeitgenössischen Erhebungen der United States Information Agency, zu überprüfen. Auch wenn der empirische Ertrag in diesem Fall eher gering ist und einige quellenkritische Anmerkungen zu ihren Befunden gemacht werden könnten, ist dies ein viel versprechender Schritt. Insbesondere um dem historischen Rezeptionsverhalten auf die Spur zu kommen, ist es zudem üblich geworden, Erinnerungen von Zeitzeugen einzubeziehen. Wichtige Anmerkungen zum Stellenwert von Zeitzeugenerinnerungen und den Umgang mit diesen gewissermaßen erst im Forschungsprozess erzeugten Quellen finden sich im „medienwissenschaftlich-ethnomethologischen“ Beitrag von Karin Falkenberg (S. 215ff.).

Überhaupt wird der Frage, wie mit den unterschiedlichen Quellen empirisch umzugehen ist, im Band immer wieder Aufmerksamkeit geschenkt. Auch wenn das zugrunde liegende Untersuchungsdesign manchmal vage oder, wie bereits erwähnt, aus geschichtswissenschaftlicher Sicht hin und wieder unterkomplex erscheint, plädieren die Autoren unabhängig von ihrer spezifischen Fragestellung einhellig für eine Kombination verschiedener Analyseebenen und -verfahren. Hinter diesen Standard wird die Forschung nicht mehr zurückfallen dürfen. Was im Einzelnen unter einem Methoden-Mix zu verstehen ist, wird freilich je nach disziplinärem Hintergrund unterschiedlich beantwortet. Die Skepsis der meisten Historiker gegenüber quantitativen Verfahren beziehungsweise der historischen Repräsentativität der damit gewonnenen Ergebnisse – gerade vor dem Hintergrund der problematischen Überlieferungssituation – wird jedenfalls nicht immer geteilt. Eine interessante Anregung zur Systematisierung von Analyseebenen, Quellentypen und Analysemethoden liefert der Kommunikationswissenschaftler Edzard Schade (S. 86ff.). Er entwickelt seine konzeptionellen Überlegungen am Beispiel einer Untersuchung des publizistischen Angebots der „Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft“. Die scheinbar simple Frage, was eigentlich das „Programmhafte“ an den publizistischen Angeboten sei, erweist sich als zentral für die Diskussion, welche Kriterien programmgeschichtliche Arbeiten im besten Falle eigentlich erfüllen sollten. Idealerweise sollten sie nämlich die komplexen Zusammenhänge zwischen publizistischem Output und die darauf einwirkenden Umweltbedingungen berücksichtigen. Einmal davon abgesehen, inwieweit man systemtheoretische Erklärungsansätze goutiert, beinhalten Schades Darlegungen erhebliches heuristisches Potenzial. Die praktische Umsetzung bleibt er jedoch in diesem Band noch schuldig.

Alles in allem hinterlässt die Lektüre von „Radiotage, Fernsehjahre“ einen gemischten Eindruck. Zweifelsohne unterstreicht die Fülle der darin dokumentierten Themen, Perspektiven und methodischen Zugriffe die Breite des Forschungsfeldes. Allerdings stehen die Beiträge trotz des Anspruchs der zugrundeliegenden Tagung weitgehend unverbunden nebeneinander. „Das Feld ist weit“ – bleibt zu hoffen, dass den interdisziplinären Begegnungen hin und wieder auch ein fruchtbarer Austausch folgt.

Anmerkungen:
1 Schildt, Axel, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 177-206.
2 Ebenda, S. 206.
3 Vgl. das Inhaltsverzeichnis unter <http://www.gbv.de/dms/bs/toc/50526062x.pdf>. Mittlerweile liegen einzelne Arbeiten, die während der Tagung und im Sammelband nur in Ausschnitten vorgestellt wurden, als Monografien vor; zum Teil wurden diese auch bereits für H-Soz-u-Kult besprochen.
4 Die historische Rundfunkforschung stößt vor allem deshalb immer wieder an Grenzen, weil lange Jahre zunächst die technischen Voraussetzungen für eine Aufzeichnung von Sendungen fehlten oder dies zu aufwändig erschien. Zudem bildete sich meist erst in den 1960er-Jahren ein Bewusstsein für die Archivwürdigkeit von Originalaufzeichnungen, Manuskripten und anderen Unterlagen aus. Darüber hinaus gestaltet sich der Zugang zu den unterschiedlichen in aller Regel betriebsinternen Archiven nicht immer einfach und ist mitunter kostenpflichtig.

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