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Titel
The Delirious Museum. A Journey from the Louvre to Las Vegas


Autor(en)
Storrie, Calum
Erschienen
London 2006: I.B. Tauris
Anzahl Seiten
246 S., 30 Abb.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Pieper, Berlin

Selten kommen kulturtheoretische Abhandlungen so erfrischend, so inspirierend, unterhaltsam und leichtgängig daher wie das “Delirious Museum” des Londoner Architekten und Ausstellungsdesigners Calum Storrie. Essayistisch verbindet Storrie Anekdoten, literarisch-philosophische Betrachtungen, museums- und kunsttheoretische Ausführungen und Architekturanalysen zu einer tour d’ horizon der zeitgenössischen Kunstwelt. Dahinter verbirgt sich ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue Perspektive auf das Museum: das Experiment des Delirious Museum. Storries Museum ist weder Kunsttempel noch Wissensort, nicht das vorbildhafte Archiv, das die Ordnung der Dinge präsentiert, wo Klassifikationssysteme der Welt eine strikte Einteilung in Schulen, Epochen und Kulturen zuweisen. Es ist ein Delirious Museum, dessen Grundlagen “Messiness, category confusion, theatricality, elaborate historical layering and museological fictionalizing (…)” sind (S. 3). Mit diesen Kräften gilt es, die Museen zu infizieren, um ihre “messy vitality” sichtbar werden zu lassen und ihre enggesteckten Grenzen zu sprengen.

Nicht um die Neudefinierung des Museums geht es Storrie, sondern um die Reklamation des Museums als urbanes Element. Nach seinen Vorstellungen soll ein Museum die barrierefreie Weiterführung der Straße sein und ganz selbstverständlich zum öffentlichen Raum dazugehören. Bewegen sich klassische Museumsdefinitionen zwischen den Metaphern “Tempel” und “Forum” (Duncan Cameron), plädiert Storrie gegen die Exklusivität der Institution und für eine Reintegration der Museen in den öffentlichen Stadtraum, wozu er auch ganz pragmatisch den Verzicht auf Eintritt und Erweiterungen der Öffnungszeiten rechnet.

Calum Storrie beginnt seine Ausführungen, seine – wie er sagt – nostalgische Rekonstruktion des Delirious Museum genau dort, wo es viele museologische Studien tun: beim Louvre als Ort und Chiffre der Öffentlichmachung und Demokratisierung des Museums zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters. Die Erfolgsgeschichte der Institution bleibt aber bei Storrie ungenannt. Vielmehr gilt sein Interesse dem Skandal: Anhand der Geschichte eines berühmten Diebstahls – der Entwendung der Mona Lisa aus dem Louvre 1911 – lässt Storrie wesentliche Konstanten des Delirious Museum auftreten: die Abwesenheit der Dinge, das Verschwinden, der Verlust, auch der eigene im Labyrinth des Museums. Da Vincis Mona Lisa wurde durch ihr Verschwinden weltberühmt, auf Postkarten millionenfach reproduziert. Besucher strömten herbei, um sich die Leerstelle an der Wand anzusehen. Zwar wurde sie zwei Jahre später in Italien sichergestellt und dem Louvre übergeben, doch, so Storrie, seitdem bleibe sie verborgen, wenn auch nur hinter dem Andrang der Besucher: “The crowds are still looking for the lost painting. But ‘Mona Lisa’ is forever missing. At the heart of the Ur-museum there is an absence.” (S. 15) So bildet den Auftakt des Delirious Museum das Anti-Museum, wo Abwesenheit und Verwirrung statt Ordnung und Systematik leitend sind.

Im Anschluss erweitert Storrie, ausgehend vom Benjaminschen Passagenwerk und der Figur des flâneur im modernen Roman, den Raum des Museums und integriert ihn programmatisch in die Vielfalt städtischer Aktivitäten. Seine Kritik an der gegenwärtigen Kunst- und Museumswelt richtet sich eben gegen die Abschottung und die Exklusivität, sichtbar z.B. in der Schaffung sakraler Architekturikonen. Denn Museen sind für ihn primär keine religiösen Stätten, sondern soziale Räume. Als diese werden sie oft zu anderen Zwecken besucht, als es sich vielleicht Kuratoren erhoffen. Ihre sozialen Funktionen als Cafés und Shops, als Regenzuflucht oder Wegabkürzungen sind ebenso wichtig wie ihre Rolle als Bildungs- und Präsentationsort. Museumsbesucher sind nicht steuerbar: “The counterpoint to the rigour of the organized visit is the random process of visual consumption in which the individual and the small group engage. (…) When the museum is (mis)read by the cat-lover or the occultist, the narrative may go beyond the unresolved to become deviant: a reading against the grain of the museum.” (S. 23)

In den folgenden Passagen erläutert und entwirft Storrie Strategien der Eroberung musealen Raumes als subversive Aktion. Dazu gehören die Kunststrategien von Yves Klein, der mit Immaterialität und leeren Galeriehallen das Nichtdefinierbare zum Prinzip erhob, Arman, der Kleins Leere mit Müll auffüllte, und natürlich auch Duchamp, der mit dem Boîte-en-valise sein eigenes Museum schuf. In dem Kapitel “This is not a museum” kreiert Storrie ein fiktives Museum, ein eigenes “Wunschmuseum”, indem er Künstler, die in ihrer Arbeit die Rahmen und Bedingungen von Kunst und Ausstellung thematisieren, einem unsichtbaren Raumplan zuordnet. Dieses Kapitel ist das schwächste des Buches. Die Erstellung eines Who is Who? der Institutionenkritik langweilt, ebenso wie die langatmigen Beschreibungen, die – und das ist ein Manko der ganzen Publikation – nicht unter Zuhilfenahme von Abbildungen gekürzt wurden. In den Kreis der Erlauchten werden unter anderem Chris Burden wegen seiner Zerstörwut, Joseph Cornell wegen seiner Fundstücke, Marcel Broodthaers wegen seines fiktiven Museums, Fred Wilson wegen seiner ausgestellten Museumskritik aufgenommen. Weniger namedropping hätte vielleicht mehr Platz für Interpretationen jenseits der bloßen Beschreibungen gelassen.

Überwiegen im ersten Teil die theoretischen und manifestartigen Ausführungen, so besteht die zweite Hälfte zum einen aus Stadtspaziergängen, die fast in Form einer “radical walking tour”, eines alternativen Reiseführers zur Nachahmung einladen, zum anderen aus der Vorstellung und Analyse postmoderner Architekturen und Stadträume. In Fortführung des situationistischen Konzeptes einer “Psychogeographie”, wo jeder Spaziergänger einen individuellen Stadtplan entwirft, durchwandert Storrie London, verbindet Historisches und Aktuelles, Sichtbares und Unsichtbares, Street Art und Kunstmuseen, Filmsequenzen und Straßenschilder und schafft sich dadurch ein Delirious Museum. Es macht Spaß, Storries Textur der Stadt, seinen narrativen Entdeckungen zu folgen. Der Autor sieht die Stadt, wie auch nachfolgend die im Foucaultschen Sinne “anderen” Orte, nämlich Friedhöfe und Katakomben, als grenzen- und endloses Museum. Das Delirious Museum ist die Stadt, musealer und urbaner Raum sind eins.

Die nächste Sequenz des Buches erläutert mit den Museumsbauten der Architekten Carlo Scarpa, Le Corbusier, James Stirling, Frank Gehry und Daniel Libeskind allesamt unkonventionelle Projekte. Gemein ist ihnen die Distanz zur traditionellen Museumsarchitektur, die eher – wenn auch nicht nur – als neutraler Container der Präsentation der Dinge dient. Die postmoderne Architektur mischt sich ein, setzt Zeichen und unterwandert die Ausstellungen mit eigenen narrativen Deutungen der Geschichte. Die museumskritischen Konzepte der Architekten können zuweilen – wie bei Le Corbusier und Libeskind – nahezu zerstörerisch wirken und erzielen eben dadurch ihre subversive Kraft.

Zum Abschluss stellt Storrie das Museum of Jurassic Technology in Los Angeles vor, das in Abgrenzung zur konventionellen Museumspraxis mit einer Mischung aus plausiblen und unglaublichen Geschichten auf Verwirrung statt Aufklärung setzt. Fiktion und Fakten vermischen sich für den Besucher zu einem untrennbaren Konglomerat. 1

Ließ Storrie sein Delirious Museum mit dem Diebstahl und der Abwesenheit des berühmtesten Gemäldes beginnen, kommt es zum Schluss zur vollen Entfaltung – und zwar in der totalen Absurdität, in der Welt der Simulation und Hyperrealität, in Las Vegas. Dort, wo alles Echte unecht erscheint und das Spektakel die gesamte Stadt bestimmt, sind die Grenzen zwischen Museum und Stadtraum endlich aufgehoben.

Was also ist das Delirious Museum? Eine Definition des “Museums im Delirium” bleibt bewusst offen. Wie Storrie sagt, nehmen seine Architekturanalysen, Textsammlung und Anekdoten selbst die Form eines Delirious Museum an. Es ist ein ephemeres, schillerndes Projekt, das sich aus zwei Ideen speist. Zum einen geht es um die Wiederaneignung des Museums als sozialer, städtischer Raum. Zum anderen stellt das Experiment eine Wiederbelebung der Museumsidee mit utopischen, künstlerischen, kritisch-reflexiven Inhalten dar. In Storries fragmentarischen, montageartigen Narrative leuchtet ein Gegenmuseum auf, das Unordnung, Zweifel und Ungewissheit der progressiven Geschichte des modernen Museums zur Seite stellt: „(...) the Delirious Museum (…) is something both built and unbuilt. It inheres in certain buildings and museums, in some artworks, and some unplanned city spaces. (…) It is a parasitical idea found in the fabric of cities, in urban practices and fragments, that is, in space. But you also find it in narratives, both in and out of time – in fictional fragments, in historical anecdote and near-forgotten detail.” (S. 4)

Wer sachliche Definitionen und Ausführungen über die gesellschaftliche Rolle des Museums im 21. Jahrhundert sucht, der wird mit Storries Delirious Museum wohl nicht viel anfangen können. Jedem jedoch, der sich mit der Institution Museum und der Kritik an derselben beschäftigt, sei dieses Buch zur Lektüre empfohlen, das neue Einblicke in eine alte Geschichte garantiert.

Anmerkung:
1 Crane, Susan A., Memory, Distortion, and History in the Museum, in: History and Theory 36 (1997), S. 44-63.

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