H. Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte

Cover
Titel
Diplomatische Tauschgeschäfte. "Gastarbeiter" in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953-1973


Autor(en)
Knortz, Heike
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
248 S., 23 SW-Abb.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrice G. Poutrus, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Heike Knortz, Privatdozentin am Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, hat kürzlich ein Buch vorgelegt, das dem Leser eine neue Sicht der „Gastarbeiter“-Anwerbepolitik der Bundesrepublik verspricht. Wie die Autorin wiederholt betont, beruhe ihre Arbeit auf bisher nicht zugänglichen bzw. nicht ausgewerteten Quellen. Aus deren Untersuchung und der Bezugnahme auf Debatten der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre leitet sie zwei sich gegenseitig stützende Thesen ab.

Erstens meint Knortz, aus der von ihr festgestellten „neuen“ Quellenlage eine veränderte Interpretation der Geschichte der Einwanderung in die Bundesrepublik entwickeln zu können. Sie argumentiert, dass die eigentlichen Impulse für die Anwerbung von so genannten „Gastarbeitern“ nicht von der bundesdeutschen Industrie und der steigenden Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausgegangen seien. Hauptverantwortlich sei vielmehr das Auswärtige Amt gewesen, das von Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und später auch der Türkei zu Anwerbeabkommen gedrängt worden und aus historisch bedingten Rücksichtnahmen im Anwerbeverfahren auch federführend geworden sei. Explizit spricht Knortz für dieses Politikfeld von einem Primat der Außenpolitik (S. 9, S. 140).

Zweitens sieht die Autorin Einwanderung schlechthin als eine Fehlentwicklung in der Volkswirtschaft oder besser Nationalökonomie der Bundesrepublik, durch welche lediglich veraltete Industriekomplexe wie der Kohlebergbau oder die kleinteiligere Textilindustrie mit billigen Arbeitskräften aus dem Ausland künstlich am Leben erhalten worden seien. Als Beleg für diese angebliche Verzögerung des langfristigen Strukturwandels führt sie kontrastierend, aber allzu knapp das Beispiel Japan an. Aus wirtschaftshistorischer Perspektive betrachtet Knortz die Geschichte der frühen Bundesrepublik nicht als Erfolg, sondern als Vorgeschichte der sich ab Mitte der 1970er-Jahre abzeichnenden Krise.

Die Autorin stützt sich auf Bestände des Bundesministeriums für Arbeit, des Auswärtigen Amts, des Bundeswirtschaftsministeriums und des Bundeskanzleramts. Nun gehören die Akten des Arbeitsministeriums inzwischen zum Standardmaterial der Forschung zur Geschichte der Arbeitsmigration in der frühen Bundesrepublik.1 Die als besonders bedeutsam angekündigten Quellen aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts verwendet Knortz demgegenüber vergleichsweise sparsam. Auf eine Diskussion ihrer Thesen im Verhältnis zum kursorisch angeführten Forschungsstand meint die Autorin weitgehend verzichten zu können, weil dort „die Dominanz der Außenpolitik übersehen“ werde (S. 16).

Was an diesem Buch verstört, sind nicht so sehr Knortz’ Thesen, sondern vor allem die angestrengten Versuche, diese als einzig gültige Interpretationen zu legitimieren. Entweder findet die Autorin für Erklärungen außerhalb der eigenen Position keine Belege in ihren Quellen, oder sie stellt schlicht fest, dass eine abweichende Position (sie) nicht überzeuge. Dies ist besonders auffällig in den beiden der eigentlichen Untersuchung vorangestellten Kapiteln, wo die Situation der Bundesrepublik als Einwanderungsland und die westdeutsche Wirtschaftsentwicklung bis 1973 verhandelt werden. Knortz meint, die Einwanderung in die Bundesrepublik hätte vermieden werden können, wenn die Politiker auf die National-Ökonomen gehört hätten. Diese Deutung mag man teilen oder auch nicht teilen – ein historisches Argument ist sie jedenfalls nicht.

In drei Hauptkapiteln werden die Entstehung und Entwicklung der bundesdeutschen Anwerbepolitik von den ersten Verhandlungen bis zum Anwerbestopp geschildert. Das ist durchaus nicht neu; auch die innerinstitutionellen Konflikte zwischen dem Bundesarbeitsministerium auf der einen Seite sowie dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt auf der anderen Seite sind im Wesentlichen bekannt.2 Bemerkenswert ist aber, dass Knortz die sich durchsetzende Politik der staatlichen Anwerbung als sachfremd und quasi wirtschaftsunfreundlich darstellt. Hierbei entsteht implizit das Bild eines omnipotenten Staats, der im Interesse der Volkswirtschaft und unter Verzicht auf tagespolitische Opportunitätserwägungen soziale Tatbestände wie Einwanderung hätte gezielt regulieren bzw. unterbinden müssen.

Die wiederholt über mehrere Seiten hinweg zitierten oder sogar komplett abgedruckten Dokumente sollen die Position der Autorin selbstredend bestätigen. Das ist aber nicht immer der Fall. Wenn etwa Willy Brandt als Außenminister in der Großen Koalition 1968 persönlich darauf dringen musste, die Federführung in Verhandlungen für ein Anwerbeabkommen mit Jugoslawien zu behalten (S. 151), spricht dies nicht zwangsläufig für ein Primat der Außenpolitik auf dem Feld der Arbeitsmigration. Sich daran anschließenden Fragen nach innenpolitischen Konfliktlagen und außenpolitischen Handlungszwängen während dieser Zeit weicht Knortz ebenso aus wie breiteren Einordnungen in die Geschichte der frühen Bundesrepublik. Erstaunlich ist auch, dass das Bundesinnenministerium – als ständiger und wesentlicher institutioneller Akteur auf dem Feld der Migrationspolitik – bei Knortz nur am Rande erwähnt wird.

Unter den Bedingungen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit ist die Ankündigung beliebt, dass die Geschichte neu geschrieben werden müsse, weil neue Quellen – mitunter sogar nur einzelne Dokumente – von Archäologen, Archivaren, Journalisten oder Historikern aufgefunden wurden. Diese Lust am historischen Revisionismus kann zu Erkenntnisfortschritten und neuen Perspektiven führen, endet jedoch gerade in der Zeitgeschichte nicht selten mit Enttäuschungen. So auch beim ansonsten handlichen Buch von Heike Knortz, das beim Rezensenten eine große Unzufriedenheit erzeugt, weil manche zutreffenden Einzelbeobachtungen zu dem verkürzten und letztlich falschen Gesamtbild synthetisiert werden, dass die Außenpolitik für die Einwanderung in die Bundesrepublik verantwortlich zu machen sei. Hoffentlich unbeabsichtigt, aber doch sehr deutlich entsteht bei der Lektüre zudem der Eindruck, dass es der Bundesrepublik ohne Einwanderung nur hätte besser gehen können – ein Eindruck, der politisch fragwürdig und zeithistorisch nicht plausibel belegbar ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Rieker, Yvonne, „Ein Stück Heimat findet man ja immer“. Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Essen 2003; Hunn, Karin, „Nächstes Jahr kehren wir zurück…“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005; Mattes, Monika, Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005.
2 Vgl. Steinert, Johannes-Dieter, Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee (1945–1961), Osnabrück 1995; Schönwälder, Karen, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch