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Titel
Solon - Begründer der Demokratie?. Eine Untersuchung der sogenannten Mischverfassung Solons von Athen und deren "demokratischer" Bestandteile


Autor(en)
Tsigarida, Isabella
Reihe
Europäische Hochschulschriften 1031
Erschienen
Bern u.a. 2006: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
169 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Bernett, Historicum, Abt. Alte Geschichte, Universität München / Seminar für Alte Geschichte, Universität Freiburg

Man kann zweifellos vieles zu Solon fragen wie auch infrage stellen – bis hin zur Historizität der überlieferten Person.1 Unstrittig ist ebenso, dass Solon schon in klassischer Zeit für vieles in Anspruch genommen worden ist, was weit mehr die Signaturen der eigenen Zeit trägt, als dass damit Handeln und Worte des berühmten Atheners authentisch bezeugt oder bezeichnet worden wären. Einer verhältnismäßig reichen Quellenlage muss deshalb zum einen mit hoher wissenschaftlicher Skepsis begegnet werden. Zum andern wird man aber auch nicht an der Frage vorbeigehen können, wie das überlieferte Solonische Denken und Handeln mit der „Dritten Position“ des archaischen politischen Denkens in Zusammenhang steht.2 An Solon kann und könnte sich die Wissenschaft anspruchsvoll abarbeiten – immer noch.

Tut dies die Studie von Isabella Tsigarida auch, wenn dort der vornehmlich von Aristoteles inspirierten Leitfrage nachgegangen wird, ob Solon Begründer der Demokratie in Athen gewesen ist (gestützt vor allem auf die Passage Aristot. pol. II 1273b–1274a 10)? Man könnte sich schon ausgiebig bei dem Problem aufhalten, was genau Aristoteles hier (und an anderen Stellen), im Kontext seiner „Politik“, Solon und der Solonischen politeia zuschreibt, wie sich bei ihm dabei Solonrezeption, politische Theorie und Empirie miteinander verschränken.3 Man kann es sich aber auch unnötig schwer machen und sich von (falschen) Fragen aufs Glatteis führen lassen. Dann wird ein kleines, stures Unternehmen daraus, bei Solon und seinen Gesetzen irgendwie Vorstufen, Kernbestandteile und Grundlagen der attischen Demokratie (ab Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. als „radikale Demokratie“ firmierend) und nur dieses aufzuspüren. Inhaltlich wird das Projekt durch die Vorgeschichte der Reformen (Kap. 2) und das lange Kapitel 3 („Die Verwirklichung der Eunomia durch Solons Reformwerk“, S. 67–125, mit der Abfolge seisachtheia, Wirtschaftsreformen, Verfassungsreform, Rechtsreform, jeweils als „demokratische Elemente der Reformgesetzgebung“ etikettiert) abgearbeitet. Wenn Tsigarida dann nach 130 Seiten resümiert, dass Solon Begründer der athenischen Demokratie in Form einer Mischverfassung gewesen sei (S. 126–139, besonders S. 135, 139), ist man zwar auch erleichtert, aber man fragt sich dennoch, was auf der ganzen Strecke schiefgelaufen ist, dass ein solches Ergebnis erzielt worden ist.

Vieles hängt an der recht starren und an einem – trotz einiger Ausführungen (siehe S. 9ff., 126ff., 137) – unreflektierten Demokratiebegriff aufgehängten Frage nach Solon als Demokratiebegründer. Schon um das, was man seit Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. in Athen unter der „Herrschaft des demos“ verstand und warum (!), wird wenig Aufhebens gemacht. Aber auch die nachfolgende politische Theorie zur Bestimmung und Voraussetzung von Herrschaftsformen (und ihrer „Verfertigung“) hat die Autorin offenbar für irrelevant gehalten. Auf diesem Problem- und Informationsniveau schleichen sich dann die (falschen) Kriterien ein, ab wann oder weshalb eine politische Ordnung als demokratisch zu gelten hat (beispielhaft der Argumentationsgang S. 112f. zur aristotelischen These, dass ‚Freiheit‘ Grundlage der Demokratie sei wie auch die Teilnahme der „Staatsbürger an der Regierung“ [Wortlaut Tsigarida]; die seisachtheia mit dem Verbot der Schuldknechtschaft, die Einrichtung des Rats der 400 und die Mitsprache in der Volksversammlung für alle Bürger sind dann schon – irgendwie – Demokratie). Die begrifflichen Schwächen beschränken sich nicht nur auf das Verständnis von „Demokratie“. Zur Beschreibung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Archaik respektive des vorsolonischen Athens wird munter mit „Staat“, „Bürger“, „Staatsbürger“, „Bürgerrecht“, „Verfassung“, „Mittelschicht“, „Kollektiv“, „Kapital“, „Poliswirtschaft“ als „gewinn- und marktorientierte Verkehrswirtschaft“, „Monopolstellung adeliger Gerichtsbarkeit“ (nur eine markante Auswahl) operiert, was beim weniger immunisierten Leser laufend zu falschen Vorstellungen führen muss. Darüber hinaus vermengen sich die unangemessenen Begrifflichkeiten mit groben sachlichen Fehlern (besonders dicht S. 35f. zur Funktion der Phratrien und Phylen; S. 39–41 zu Bevölkerungsüberschuss, Laureion, Umgang mit weiblichen Familienmitgliedern und Alten, Großgrundbesitz, Monokultur; S. 56f. zu Drakon).

Hinzu kommt die seltsame Vorstellung Tsigaridas, sich methodisch von anderen Forschern dadurch abzusetzen, eine „quellennahe Interpretation als Methode zur Durchdringung des Themas“ (S. 7) durchzuführen bzw. eine „detaillierte und tief gehende Quellenanalyse“ (ebd.) zu tätigen. Schon solcher Freimut überrascht angesichts vieler kluger, gründlicher (Quellen-)Arbeiten zu Solon. Doch das, was dann als derartige Quellenanalyse geboten wird, lässt einen erschaudern, drängt sich doch der Eindruck auf, die hehre Methode ad fontes hat letztlich dazu gedient, sich manche Arbeit zu ersparen. Schon Studierenden im Grundstudium schärft man doch eigentlich ein, nicht den Übersetzungstext zu interpretieren (wenn man mit dem Lateinischen oder Griechischen noch nicht recht zurechtkommt). Für eine wissenschaftliche Arbeit verbietet sich dies; eine philologische Analyse am Originaltext ist erste Voraussetzung. Dies hat Tsigarida gründlich ignoriert; so kommt es z.B. nicht nur zur tautologischen Füllung des eunomia-Begriffs (S. 57–66), sondern auch zu seltsamen Reflexionen, die allein dem Wortlaut der Übersetzungen (Fränkel; Chambers; Gigon) geschuldet sind: z.B. S. 83f. zum Begriff der „Harmonie“, den Solon mit „Gewalt“ (bia) in Verbindung bringe (in der „Rechenschaftselegie“ F 36, 24 W); S. 75 zum Ausdruck „das Volk vereinigen“ (ebd. 4); der schwierige Begriff horos/horoi wird der Übersetzung folgend als „Schuldsteine“ erläutert (S. 75f.). Unterschiede zwischen nomos und thesmos (Solons Selbstbezeichnung für seine „Gesetze“, F 36, 26 W) und das Verhältnis zur eu-nomia bleiben unerörtert.

Ein drittes Problem liegt in der unzureichenden Selbstinformation der Autorin. Hier ist nicht die Rede von diesem oder jenem Titel, der übersehen wurde, dessen Position aber in der eigenen Forschungsdiskussion implizit mitbehandelt ist. Für vieles wird bei Tsigarida auf Handbuchwissen und (veraltete) Lexikonartikel verwiesen. Substantiell scheinen mir Eberhard Ruschenbusch und Michael Stahl stark zu überwiegen; auf übrige einschlägige Literatur wird meist nur in den Anmerkungen verwiesen, auch wenn sich dort ganz unterschiedliche Haltungen finden (z.B. die Kommentare von Peter J. Rhodes und Mortimer Chambers zur Athenaion Politeia). Zentrale Literatur hat Tsigarida zum Teil nur sehr oberflächlich rezipiert (vor allem Christian Meier und Kurt Raaflaub; sogar Robert Wallace, der Solon als Begründer der Demokratie verteidigt und bei dem sich die Autorin Schützenhilfe hätte holen können 4) oder beiseite gelassen (vor allem Winfried Schmitz zum archaischen oikos und seiner Integration in die Gesellschaft; Geoffrey de Ste Croix und Christoph Mülke zu Solon; Karl-Wilhelm Welwei zur Situation der Bauern in Attika um 600 v.Chr. 5). Hieraus hätten sich erhebliche Einsichten für die Grundfrage der Autorin ergeben können: nach dem Stellenwert des oikos in Solons Reformen und dem Zusammenhang zwischen Stabilität der oikoi und dem Zustand von eunomia in der polis; nach dem materiellen Gehalt der Reformen und damit der Annäherung an die Frage, was Solon darunter verstanden hat, dass er dem demos soviel Anteil (geras) gab, wie ihm zukam, nichts an time wegnahm und die Mächtigen und Reichen weiterhin ihre gebührende Stellung behielten (F 36, 7–11 W); nach den langfristigen intellektuellen und politischen Wirkungen des Solonischen Konzepts der „Rechten Ordnung“, in der der demos seinen Platz hatte – aber ohne zu herrschen. Macht und Führung – wenn auch in gehegten Formen, eben nach Maßgabe der eunomia – lagen auch für Solon noch selbstverständlich beim Adel (siehe auch F 36, 16–19 W). Warum Solon über all dies Lieder gesungen hat, warum man diese, nachdem man die Gesetze schon nicht mehr zitieren oder sehen konnte, weiterhin sang oder wenigstens vorlas und ob dies nicht auch etwas mit dem Gehalt und der Wirkmächtigkeit, die der eunomia nach Solon zukommen sollte, zu tun hat, hat Tsigarida nicht beschäftigt. Marie Theres Fögen hat hierzu jüngst eine Antwort begonnen 6; auch ihre Stimme sollte von jemand fortgesetzt werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. als jüngstes Unternehmen historischer Solon-Dekonstruktion die Beiträge in: Blok, Josine H.; Lardinois, André P.M.H. (Hrsg.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden u.a. 2006.
2 Zu Terminus und inhaltlicher Bestimmung siehe Meier, Christian, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 2001 [Erstausg. 1980], S. 73–80, 320f.; ders, Die Entstehung einer autonomen Intelligenz bei den Griechen, in: ders., Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, Berlin 1989, S. 70–100. Vgl. jetzt auch einschlägige Passagen bei Jochen Martin („Zur Anthropologie des politischen Denkens“) und Christian Meier („Antworten“) in: Bernett, Monika; Nippel, Wilfried; Winterling, Aloys (Hrsg.), Christian Meier zur Diskussion, Stuttgart 2008.
3 Vgl. dazu einiges bei Hans-Joachim Gehrke in seinem Beitrag in Blok/Lardinois (wie Anm. 1).
4 Siehe jetzt den jüngsten Beitrag „Revolutions and a New Order in Solonian Athens and Archaic Greece“, in: Raaflaub, Kurt A.; Ober, Josiah; Wallace, Robert W., Origins of Democracy in Ancient Greece, Berkeley u.a. 2007, S. 49–82; dort in der Bibliographie S. 221f. die früheren einschlägigen Titel.
5 Schmitz, Winfried, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004; de Ste Croix, Geoffrey, Athenian Democratic Origins and Other Essays, in: Harvey, David u.a. (Hrsg.), Oxford 2004, S. 5–128; Mülke, Christoph, Solons politische Elegien und Iamben (Fr. 1–13; 32–37 West). Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, München u.a. 2002; Welwei, Karl-Wilhelm, Ursachen und Ausmaß der Verschuldung attischer Bauern um 600 v.Chr., Hermes 133 (2005), S. 29–43.
6 Fögen, Marie Theres, Das Lied vom Gesetz, München 2007, S. 117–132 (zu Solon).

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