J. Glasenapp: Die deutsche Nachkriegsfotografie

Cover
Titel
Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern


Autor(en)
Glasenapp, Jörn
Erschienen
Paderborn 2008: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
413 S., 167 Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Springer, Deutsches Historisches Museum, Berlin

Die Abbildung auf dem Schutzumschlag lässt den Leser stutzen: Dort findet sich nicht etwa eine der bekannten und im Buch auch behandelten Ikonen bundesdeutscher Fotografiegeschichte – also beispielsweise der „Degendieb“ von Robert Lebeck oder ein „Förderturm“ von Bernd und Hilla Becher. Vielmehr ist es eine Aufnahme aus der deprimierenden, die städtebaulichen Sünden der 1960er-Jahre anklagenden, „düsteren Köln-Vision“ (S. 325) des Fotografen Chargesheimer – ein provokanter Auftakt also für eine Untersuchung, die sich mit Hilfe von Fotos der deutschen „Mentalitätsgeschichte“ nähern will.

Wie der Untertitel bereits andeutet, ist Jörn Glasenapps Studie keine Gesamtdarstellung der deutschen Fotogeschichte seit 1945. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Versuch, anhand exemplarischer Fotografien Aussagen über die jeweilige „mentale“ Verfasstheit der Gesellschaft zu treffen. In einem chronologischen Durchgang durch den westdeutschen „Bilderhaushalt“ (S. 22) – also durch die in der Öffentlichkeit präsenten Fotografien – greift Glasenapp ganz unterschiedliche und (jedenfalls im statistischen Sinne) keineswegs repräsentative Themenfelder auf. Sein Ziel ist „eine historisch perspektivierte, im hohen Maße kontextsensitive Annäherung sowohl an berühmte, dem kollektiven Bildgedächtnis einverleibte als auch an weniger berühmte Fotografien […] – eine Annäherung, die sich dem in der Fotoforschung noch immer weit verbreiteten Glauben an eine dem Bild immanente Aussage oder Message kategorisch sperrt und letzterem stattdessen ein bloßes Bedeutungspotenzial zuerkennt, dessen jeweilige Aktivierung ganz und gar kontextabhängig ist“ (S. 22). In den einzelnen Kapiteln geht Glasenapp meist den Weg von der Mikro- zur Makroperspektive: Eine genaue Bildexegese wird verknüpft mit der Veröffentlichungsgeschichte und der Einbettung des Fotografen in den Kontext seiner Zeit, bis schließlich verallgemeinerbare Aussagen getroffen werden. Der Autor ist nicht um Vollständigkeit bemüht, und doch entsteht eine erste, auch durch bereits vorliegende Untersuchungen gespeiste „Kartierung“ des in vielen Bereichen noch unbekannten „Kontinents“ der deutschen Fotogeschichte.

„Fotografie im Zeichen des Endes“ ist – nach der theoretischen Einleitung – der erste von insgesamt drei Hauptteilen der Untersuchung betitelt. Hier beschäftigt sich Glasenapp, basierend auf einer mittlerweile recht reichhaltigen Forschungsliteratur, einerseits mit den Aufnahmen alliierter Fotografen aus den befreiten Konzentrationslagern und andererseits mit den Bildern von „Trümmerlandschaften“ vorwiegend deutscher Fotografen. Überzeugend arbeitet er heraus, in welcher Weise die deutsche Öffentlichkeit die Fotos der zerstörten Städte nutzte, um in Abgrenzung zu dem von den Alliierten erhobenen Vorwurf der Täterschaft den eigenen Opferstatus zu unterstreichen. Die Trümmerfotografie, die laut Glasenapp einen beträchtlichen Beitrag zum „Beschweigen“ der nationalsozialistischen Vergangenheit leistete, kann demnach „als der deutsche Foto-Respons auf die alliierten KZ-Bilder gelten“ (S. 82). Insbesondere der Vergleich der beiden berühmten und in hohen Auflagen erschienenen Trümmer-Fotobildbände „Gesang im Feuerofen“ von Hermann Claasen und „Dresden – eine Kamera klagt an“ von Richard Peter – bei Glasenapp der einzige Blick auf die ostdeutsche Fotogeschichte – besticht durch die Verbindung von Fotoanalyse und historischer Kontextualisierung und belegt zugleich, dass die in den letzten Jahren vielfach behauptete erinnerungspolitische „Unterschlagung“ der deutschen Luftkriegsopfer so nie stattgefunden hat.

Im zweiten Hauptteil geht es um die „Fotografie im Wirtschaftswunder“. Nach einer Darstellung der ökonomischen Rahmenbedingungen – die Fotowirtschaft stand Anfang der 1950er-Jahre an der Spitze der Exportleistungen aller deutschen Industriezweige – thematisiert Glasenapp zunächst die „subjektive Fotografie“, also die fotokünstlerische Richtung um den Fotografen Otto Steinert, deren Schaffen bislang häufig – im Kontrast zu den Realismus-geprägten Bildern amerikanischer Fotografen der frühen 1950er-Jahre – als Ausdruck der Verdrängung deutscher Schuld interpretiert wurde. Für Glasenapp führt diese Kritik allerdings in die Irre, wollte Steinert mit seinen Arbeiten doch an die experimentelle Fotografie der Weimarer Republik anknüpfen. Ebenfalls in diesem Kapitel behandelt Glasenapp – als Beispiel für die angewandte Fotografie – die Modefotografie der 1950er-Jahre. Dieser bescheinigt er ein überaus hohes Maß an „Gestrigkeit“ (S. 199), denn auch die „revolutionären“ Kleider eines Christian Dior wurden von der deutschen Modefotografie im Stil der 1940er-Jahre präsentiert. „Zu nennenswerter Aktivität scheint keinerlei Drang vorhanden“, kommentiert Glasenapp die in Zeitschriften wie „Constanze“ oder „Film und Frau“ gezeigten Modeaufnahmen, „dafür aber […] das tiefe Bedürfnis, sich in einen Anblick zu verwandeln, das heißt, in einem Akt der bis ins letzte Detail kontrollierten ‚Dressur‘ des Körpers ebendiesen zur Schau zu stellen“ (S. 200). Der Grund für die bruchlose Fortführung der bereits vor 1945 verbreiteten Bildästhetik war nicht zuletzt die hohe personelle Kontinuität unter den Fotografen und Blattverantwortlichen der Frauenzeitschriften über das Kriegsende hinweg.

Im letzten Abschnitt widmet sich Glasenapp unter der Überschrift „Zwischen Life-Fotografie und musealer Konsekration“ der Fotogeschichte von den 1960er-Jahren bis heute. Der Aufstieg der Fotografie in einen der bildenden Kunst vergleichbaren Rang bildet den Hintergrund für die von Glasenapp in diesem Abschnitt hauptsächlich anhand einzelner Fotografen beschriebene Entwicklung. Zunächst jedoch vergleicht er die beiden epochalen Fotoausstellungen der 1950er- bzw. 1960er-Jahre: „Family of Man“ von Edward Steichen und die „Weltausstellung der Fotografie“ von Karl Pawek. Ohne Paweks hochgradig NS-belastete Vergangenheit zu verschweigen, nimmt Glasenapp Paweks Ausstellung gegen den wiederholt vorgetragenen Vorwurf des Plagiats in Schutz und weist auf die gesellschaftskritischen Aspekte der Ausstellung hin, die bei Steichens Schau, einer den Erwartungen des „harmonie- und sicherheitsbedürftigen Publikums“ entgegenkommenden Ausstellung (S. 250), völlig gefehlt hätten.

Im Folgenden beschäftigt sich Glasenapp mit den Werken höchst unterschiedlicher, auf dem deutschen Markt sehr erfolgreicher Fotografen, darunter Chargesheimer und der Modefotograf Juergen Teller. Intensiv thematisiert er Leni Riefenstahls Aufnahmen vom sudanesischen Volk der Nuba aus den 1960er- und frühen 1970er-Jahren, bekräftigt in diesem Zusammenhang die beispielsweise von Susan Sontag geäußerte Kritik an Riefenstahl und weist in deren Werken und Äußerungen detailliert das Fortleben nationalsozialistischen Gedankenguts nach – insbesondere antisemitischer Stereotype. Ebenfalls zu Recht sehr kritisch und erstmals auf der Basis einer wissenschaftlich fundierten Bild-Text-Analyse setzt sich Glasenapp mit den Arbeiten des britischen Fotografen David Hamilton auseinander, eines „Profiteurs der neuen Freizügigkeit“ der 1970er-Jahre (S. 284), der mit weich gezeichneten Aktfotos weiblicher Jugendlicher auch in Deutschland kommerziell enorm erfolgreich sowie zugleich wegen des Vorwurfs der Kinderpornographie höchst umstritten war und ist. Glasenapp konzentriert sich auf das Frauenbild Hamiltons und kommt zu der – nicht überraschenden – Erkenntnis, dass Hamilton Teil eines Diskurses gegen den „immer deutlicher vernehmbaren Anspruch auf weibliche Selbstbestimmung“ sei (S. 308). Schließlich beschäftigt sich Glasenapp auch mit Bernd und Hilla Becher, „den Erneuerern der neusachlichen Fotografie“ (S. 345), deren Bilderreihen von Fördertürmen, Gasbehältern und Fachwerkhäusern aus der Perspektive der bisherigen fotokunsthistorischen Forschung (und des Kunstmarkts) zu den wichtigsten Arbeiten deutscher Fotografie nach 1945 zählen. Glasenapp hält das Werk der Bechers allerdings für völlig überschätzt, kulminiere es doch letztlich in der „Nullaussage“, dass „Bauten gleicher Funktion in ihrer grundlegenden Form gleich“ seien (S. 348) – zumal die Bechers die Arbeit oder die Arbeitsbedingungen der Industriebeschäftigten völlig ausgeklammert hätten. „Etwas Substantielles zu sagen“, so Glasenapp, „haben sie uns […] nicht.“ (S. 351)

Insgesamt liefert Glasenapp mit seiner Darstellung, für die der Terminus „Mentalitätsgeschichte“ sicherlich zu hoch gegriffen ist, eine sehr gut lesbare, fundierte und pointiert formulierte Untersuchung. Problematisch erscheint neben der völlig unzureichenden Qualität der im Buch reproduzierten 167 Fotos die Auswahl seiner Analysebeispiele – so fehlt eine intensivere Auseinandersetzung mit der Knipserfotografie, und die Darstellung der Zeit seit 1970 bleibt zu stark auf die „großen Namen“ der Fotografie beschränkt. Leider verzichtet Glasenapp auf eine nähere Definition dessen, was er mit „Bilderhaushalt“ umschreibt. Nichtsdestotrotz dürfte sich seine Studie als wichtiger Beitrag zur weiteren Erforschung der westdeutschen Fotogeschichte erweisen.

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