Titel
Foto-Ethnographie. Die visuelle Methode in der volkskundlichen Kulturwissenschaft


Herausgeber
Hägele, Ulrich
Anzahl Seiten
420 S., 353 Abb.
Preis
€ 36
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Nora Mathys, Universität Basel

Die Fotografie wurde von den Wissenschaften früh als ideales Arbeitsinstrument zur Visualisierung von bisher nicht beobachtbaren Phänomenen sowie zur Dokumentation, Inventarisation und Illustration aufgenommen. Seit dem iconic oder pictorial turn in den Geisteswissenschaften mehren sich die Studien, die den wissenschaftlichen Gebrauch von Bildern und insbesondere der Fotografie in den Blick nehmen.1 Ulrich Hägeles „Foto-Ethnographie“ reiht sich in diesen Forschungsstrang ein und verbindet ihn mit der aktuellen Debatte rund um die Bildwissenschaft.2 Die Publikation beruht auf zahlreichen Forschungsdesideraten aus einer Jahre langen Beschäftigung mit Fotografie und Fachgeschichte3 und verbindet diese nun in einer Großerzählung von den Anfängen der Volkskunde im 19. Jahrhundert bis heute. Geleitet wird diese von den Thesen, dass die Volkskunde „erst zu einem systematisierenden wissenschaftlichen Arbeiten gefunden hat, indem sie Vergangenheit umfassend visualisierte“ (S. 19) und dass die Fotografie „stärker auf die ethnologischen Disziplinen [wirkte] als umgekehrt“ (S. 27). Ziel der Publikation ist es, anhand dieser Fotografiegeschichte(n) „die Möglichkeiten und Grenzen der ikonologischen Methode für die Volkskunde / Empirische Kulturwissenschaft / Europäische Ethnologie im Rahmen einer Visuellen Kulturwissenschaft auszuleuchten“ (S. 20).

Nach der theoretischen, stellenweise etwas sprunghaften und schwer nachvollziehbaren Einführung in die Themen Fotografie, Volkskunde und Spezifik der kulturwissenschaftlichen Perspektive folgen die drei Großkapitel Sinnstiftung (bis 1914), Ideologisierung (1914 bis etwa 1950) und Professionalisierung (seit den 1950er-Jahren). In diesen Kapiteln führt Hägele seine Überlegungen zum volkskundlichen Umgang mit dem Medium Fotografie in chronologischer Weise aus und lässt sie in seinem Konzept der „visuellen Kulturwissenschaft“ kulminieren, indem er das Fach im Bereich Bildforschung/Visuelle Kultur neben der Kunstgeschichte an zentraler Stelle positioniert: Unter dem Schlagwort Sinnstiftung zeigt Hägele auf, wie sich die formierende Disziplin Volkskunde in ihren Anfängen noch unsystematisch der Fotografie als Dokumentations- und Illustrationsinstrument bediente, um mit ihrer Hilfe die schwindenden traditionellen ländlichen Kulturen visuell zu bewahren und ihre Themen zu popularisieren. Die zweite Phase steht unter dem Zeichen der sich etablierenden Wissenschaft mit ihren engen Verbindungen zu Museen sowie ihrer ideologischen Vereinnahmung und Parteinahme vor und während des Nationalsozialismus. Dabei wurde die volkskundliche Fotografie intensiv zur „flächendeckenden Infiltrierung der ‚Volksgenossen’ mit dem Rassengedanken“ (S. 219) genutzt. Die Professionalisierung schließlich erfolgte durch die Erweiterung des Bilderkanons und eine verstärkte Quellenkritik sowie einen reflektierten und zunehmend systematischen Einsatz der Fotografie in der Feldforschung.

Der Einbezug der Sammlungstätigkeit von der Volkskunde nahe stehenden Archiven, Instituten und Museen, der den Blick auf die Verwendung der Fotografie in Publikationen um foto-theoretische und -methodische Texte ergänzt, zeigt sich für die Beleuchtung des volkskundlichen Gebrauchs der Fotografie als ertragreich. Am Beispiel der Dissertation von Klaus Beitl, der im Sinne Marcel Magets fotoethnographischer Methode die Fotografie im Feld einsetzte, wird das Ungleichgewicht der Bedeutung der Fotografie im Forschungsprozess und in der Publikation deutlich: „In der Dissertation erwähnte Beitl das visuelle Instrumentarium allerdings nicht.“ (S. 253) Die zahlreichen „Kurzbiographien“ zu Forschern und Forscherinnen, Zulieferern, Forschungs- und Foto-Projekten sowie zu Museums- und Archivaktivitäten aus dem näheren und weiteren Umfeld der Volkskunde sind besonders lesenswert und erhellend. Zum Beispiel die frühen, von der Fotografie bestimmten ikonographisch-ethnographischen Feldforschungen zu schweizerischen Trachten von Julie Heierli (S. 72-77), Jean Bruhnes geographisch-ikonographische „Géographie humaine“ (S. 77-88), die Inanspruchnahme von Amateurfotografen zur Dokumentation der Schafschur in den 1930er-Jahren (S. 186f.) oder zur gleichen Zeit in der Schweiz durchgeführte Forschungsprojekt zu Votivbildern (S. 229-232). Durch den steten Wechsel von Biographien, Bildbeschreibungen, Bildinterpretationen und Wissenschaftsgeschichten entsteht ein vielschichtiges Bild vom Zusammenspiel des Sichtbarmachens von Menschen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sowie deren Interpretation und Inanspruchnahme durch die Wissenschaften und deren Popularisierung.

Die Aufnahmen sind mehrheitlich, wie in vielen Publikationen zur Fotografiegeschichte üblich, kunstgerecht, vom ursprünglichen Kontext losgelöst dargestellt – bei den wenigen Ausnahmen handelt es sich zumeist um auf Kartons zusammengestellten „Originalfotografien“ aus Museen und Archiven. In die zahlreichen Bildbeschreibungen und -interpretationen hat Hägele die Inszenierungen der Fotografien auf Kartons oder in Publikationen kaum einbezogen; die Bilderkartons sind rein illustrativ verwendet worden. Der Karton zu „Schwaben“ aus der Europaabteilung des Berliner Museums (S. 55, Abb. 44 S. 57) ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Bildinszenierung einen wichtigen Teil der visuellen Argumentation ausmacht: Hier werden die Schwaben im Porträt einer jungen, lächelnden Trachtenträgerin durch das circa achtfach größere Format als die übrigen vier Aufnahmen, das Ausschneiden entlang der Silhouette und als Einzelporträt gegenüber den Mädchengruppenbildern symbolisiert. Wünschenswert wäre es daher, wenn die von Hägele mehrfach betonte Notwendigkeit der Kontextualisierung der Bilder nicht nur auf der sprachlichen Ebene, sondern auch bei den Abbildungen selbst umgesetzt worden wäre, indem beispielsweise ganze Seiten aus Bildbänden oder Forschungsarbeiten und nicht nur isolierte Aufnahmen abgebildet werden.

Dank seines offenen Blicks auf die verschiedenen Ebenen des Faches gelingt es Hägele, die Grenzen und Möglichkeiten der Verwendungsweisen der Fotografie und ihre Rezeption innerhalb der Volkskunde facettenreich, wenn auch manchmal etwas weitläufig, darzustellen. Sein Fokus liegt auf der deutschsprachigen Fachgeschichte, wobei die Schweizer und österreichischen Entwicklungen nicht durchgehend systematische berücksichtigt wurden. Ergänzt werden diese durch zahlreiche Seitenblicke auf wichtige Entwicklungen in Frankreich und in den USA, so dass die Studie mit ihrer umfangreichen, chronologisch geordneten Bibliographie eine solide Basis für alle weiteren Arbeiten zur Fotografie in der Europäischen Ethnologie bietet.

Anmerkungen:
1 Wolf, Herta (Hrsg.), Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2002–2003; Geimer, Peter, Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2004; Hessler, Martina (Hrsg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006 und Kümin, Beatrice: Expedition Brasilien. Von der Forschungszeichnung zur ethnographischen Fotografie, Bern 2007.
2 Mirzoeff, Nicholas, An Introduction to Visual Culture, London, New York 1999; Belting, Hans, Bild-Anthropologie, München 2001 und Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt am Main 2005.
3 Unter anderen Hägele, Ulrich, Visuelle Tradierung des Popularen. Zur frühen Rezeption volkskundlicher Fotografie, in: Zeitschrift für Volkskunde 2 (1997), S. 159-188; ders., Volkskundliche Fotografie 1914 bis 1945, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 1 (2001), S. 263-312 und ders., Visualisierung zwischen Folklore, völkischer Wissenschaft und ethnografischem Forschungsfeld. DFG-Projekt „Fachgeschichte der volkskundlichen Fotografie“ in: Rundbrief Fotografie 32 (2001), S. 30-37 (Tl. 1); 33 (2002), S. 32-36 (Tl. 2) und 34 (2002), S. 35-38 (Tl.3).

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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