J. Herzberg u.a. (Hrsg.): Vom Wir zum Ich

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Titel
Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich


Herausgeber
Herzberg, Julia; Schmidt, Christoph
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekaterina Emeliantseva, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich

Klischees oder der Tagespolitik geschuldete Annahmen und Rückprojektionen aus dem Arsenal des „Ost-West-Paradigmas“ des Kalten Krieges – so etwa von der amorphen russischen Bauernmasse oder dem sowjetischen kollektiven Menschen – haben die Osteuropäische Geschichte lange geprägt. Der vorliegende Sammelband hat zum Ziel, diese Vorstellungen zu hinterfragen. Aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens des Kölner Seminars für Osteuropäische Geschichte (1955-2005) stellen sich die Absolventen und aktuellen Mitarbeiter des Lehrstuhls die Aufgabe, die Stimmen des Selbst anhand autobiographischer Äußerungen quer durch die Geschichte Russlands deutlicher erklingen zu lassen.

Elf Selbstzeugnisse werden (bis auf eine Ausnahme) jeweils einzeln analysiert. Der Band ist chronologisch aufgebaut: die frühesten ausführlich behandelten autobiographischen Texte stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die jüngsten aus der frühen Sowjetzeit. Die soziale Breite reicht dabei von einer Leibeigenen bis zum Provinzadligen; jüdische Autobiographik ist ebenso ein Thema des Bandes. Damit unterscheidet sich dieser Band wesentlich von früheren historischen Versuchen über die russländischen Artikulationen des Selbst, die den Beginn des autobiographischen Schreibens in Russland erst auf die 1830er-Jahre datierten und stärker auf die russischen Eliten fokussierten.1

Der Quellenanalyse sind theoretische und historiographische Bemerkungen der Herausgeber vorangestellt. Die Entwicklung der russischen Diskussion zum Thema ‚Ich’ und Autobiographien fand unter anderen Voraussetzungen statt als im westlichen Europa: Nach Herzberg sind es die stärkere Betonung der Hybris in der orthodoxen Tradition, wenn es um die Hervorhebung der eigenen Person geht, die fehlenden bzw. weniger wirksamen Institutionen, Begriffe und Diskurse, die im westlichen Europa das ‚Individuum’ definierten, eine stärker dokumentarische Funktion des Autobiographischen, die ein Gegengewicht zum Korsett der russischen und sowjetischen Zensur bieten wollte, sowie eine andere Wissenschaftstradition, die seit den 1860er-Jahren stärker auf das Erklären statt auf das Verstehen setzte. Dies alles führte aber keineswegs zum Verschwinden des Individuellen in autobiographischen Texten, wie dies die einzelnen Analysen des Bandes verdeutlichen.

Insbesondere die bäuerlichen Selbstzeugnisse sind von großer Bedeutung. So bildet der Aufsatz von Julia Herzberg über die bäuerlichen Traumaufzeichnungen des späten Zarenreiches und der frühen Sowjetunion einen der Höhepunkte des Bandes. Die Autorin betritt in vielerlei Hinsicht Neuland, wurde doch die bäuerliche Autobiographik bis dahin kaum ins Blickfeld der historischen Forschung genommen. Herzberg kann durch ihre präzise Analyse der Traumaufzeichnungen des nordrussischen Komi Iwan Rassychajew (1878-1968) aufzeigen, wie sich das bäuerliche Selbstverständnis in der Traumdeutung und der Schreibpraxis konstituierte: Die an der biblischen und apokryphen Tradition orientierten Muster der Traumdeutung dominierten bei jenem Bauern und waren insbesondere nach 1917 für die fromme Selbstvergewisserung – als „nächtliche Gegenwelten zur sowjetischen Wirklichkeit“ (S. 289) – von tragender Bedeutung.

Am Rhythmus und Umfang des Schreibens – deutlicher Rückgang zwischen 1917 und 1920, Zunahme während der NEP und erneuter Rückgang seit der Kollektivierung bis 1940 – macht Herzberg zudem ihre These fest, dass das Selbstverständnis als Haus- und Hofherr für die Artikulation des bäuerlichen Selbst und die autobiographische Praxis entscheidend war. Denn die Zeiten, als die Eigenverantwortlichkeit des Bauern stark angegriffen wurde, korrespondieren mit einem Rückgang des Tagebuchschreibens – ein wichtiger Befund, den die zukünftige Forschung unbedingt überprüfen sollte.

Einzig die These, die Forschung zur bäuerlichen Frömmigkeit im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts sei immer noch auf die Kirchengeschichte statt auf die Mentalität der Gläubigen konzentriert (S. 272), macht hier stutzig, kann dieses mittlerweile sehr dynamische Feld doch gerade für das ausgehende Zarenreich mit mehreren einschlägigen neueren Arbeiten aufwarten, die sich von der reinen Geschichte der kirchlichen Strukturen längst verabschiedet haben.2 In dieser Hinsicht wäre es auch interessant gewesen, diese Befunde in die aktuelle Kontroverse über das Verhältnis der bäuerlichen Frömmigkeit zu den kirchlichen Strukturen bzw. über die bäuerliche Wahrnehmung der Kirche und des Klerus einzuordnen. Es bleibt die Frage, ob hier eher die These von der mehr oder weniger eigenständigen Glaubenspraxis – zuletzt von Chris J. Chulos wieder stark gemacht – oder die von Vera Shevzov, die mit der neuen These von einer engeren Bindung der Bauern an ‚ihre Kirche’ aufgetreten ist, bestätigt wird.

Anhand eines Grenzfalls zwischen Selbst- und Fremdzeugnis – den „Erinnerungen“ der Leibeigenen Awdotja Chruschtschowa (1786-1872), die von der Gutsherrentochter aufgezeichnet wurden – rekonstruiert Anna Veronika Wendland das Selbstverständnis der leibeigenen Hausangestellten innerhalb der Herrenfamilie und schildert eine erstaunliche Fähigkeit, auch ein strukturell vorgezeichnetes Leben in eigener Regie zu gestalten.

Neues berichtet der Band auch über die frühen Selbstentwürfe in Russland: Ein wahrlich rares Selbstzeugnis analysiert Pjotr Stefanowitsch – den privaten Briefwechsel zwischen einem Pskower und einem englischen Kaufmann aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Gerade für diese Zeit gibt es kaum Quellen über die alltäglichen interkulturellen Kontakte der Moskowiter jenseits der höfischen Etikette, die in den Reiseberichten ausländischer Diplomaten eher zur Sprache kommen.3 Stefanowitsch kann damit nicht nur feststellen, dass trotz der angestrebten Abschottung der Ausländer seitens der Machteliten Moskowiens ein reger Kontakt möglich war, sondern auch zeigen, wie sich dieser gestaltete: Ohne Vorbehalte spricht der Pskower den Engländer in den Briefen, die zugleich als Russischlektionen für den Ausländer fungierten, als „Freund“ an.

Die religiösen Schranken dienten dem Pskower erstaunlicherweise gerade als Brücke: Die christliche Nächstenliebe war für ihn ein universelles Gebot und Grundlage für die Freundschaft mit dem Protestanten. Ebenso erstaunlich ist die Reaktion des Engländers, der diese Idee teilte. Relativieren konnte Stefanowitsch zudem die früheren Annahmen über den Stellenwert des Lesens weltlicher Texte im Russland des 17. Jahrhunderts, das selbstverständlich für die lesekundigen Russen war und nicht vordergründig und alleine ein „unheiliges Zaubermittel“ (Gabriele Scheidegger). Der Kontakt zwischen einem nichtadligen Moskowiter und einem englischen Kaufmann erscheint in dem Briefwechsel von gegenseitigem Verständnis, Interesse und Respekt getragen – welch ein Kontrast zu den gängigen Bildern aus den ausländischen Reiseberichten jener Epoche.

Adlige Selbstentwürfe im 18. Jahrhundert zwischen literarischen Vorlagen und sozialen Vorgaben untersuchen Christoph Schmidt und Alexander Kraus an Beispielen von Provinzadligen sowie Angelika Schmähling anhand der Aufzeichnungen einer Freimaurerin. Schmidt thematisiert die säkularen Tendenzen in der Selbstdarstellung des Adligen Iwan Annenkow (ca. 1711-1784) anhand seines Kirchenbaus und seiner „modernen“ Beschreibung von Himmelserscheinungen und plädiert für eine klare Unterscheidung zwischen Eliten- und Volksfrömmigkeit der Aufklärungszeit. Hier wäre eine Präzisierung nötig, inwiefern es um eine diskursive Normsetzung oder um die Praxis geht, waren doch Adlige der Magie auch um diese Zeit nicht abgeneigt.4 Der theoretisch überaus reflektierte Aufsatz von Alexander Kraus über den Lebensbericht des Kleinadligen Andrei Bolotow (1738-1833) aus dem Gouvernement Tula widmet sich vordergründig der Historizität des Emotionalen 5 und zeigt auf, wie die „erlesenen Gefühlswelten“ (S. 109) in die Selbstentwürfe eingingen.

Wie sich weiblichen Freiräume und das Selbstverständnis als aktives Mitglied einer Loge unter dem oberflächlichen Schleier einer konventionellen Frauenrolle konstituierten, demonstriert Schmähling überzeugend an den Aufzeichnungen von Anna Labzina (1758-1828).

Insgesamt ist nicht nur die Vielfältigkeit des ausgewählten Materials zu loben, sondern auch die gelungene Komposition des Bandes, der sich wie eine Einheit liest. Beeindruckend sind die Sorgfalt und Tiefe der Analysen einzelner Selbstzeugnisse. Mit der vorliegenden Publikation ist es den Kölner OsteuropahistorikerInnen gelungen, einen diachronen Längsschnitt durch Selbstrepräsentationen von Menschen in Russland zu schaffen, der neue Wege für die zukünftige Forschung aufzeigt und zur unbedingten Fortsetzung und vergleichenden Analyse auf gesamteuropäischer Ebene anregt.

Anmerkungen:
1 Hellbeck, Jochen; Heller, Klaus (Hrsg.), Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland, Göttingen 2004.
2 Vgl. Kizenko, Nadieszda, A Prodigal Saint. Father John of Kronstadt and the Russian People, University Park 2000; Chulos, Chris J., Converging Worlds. Religion and Community in Peasant Russia 1861–1917, DeKalb/IL 2003; Shevzov, Vera, Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution, New York 2004.
3 Vgl. Scheidegger, Gabriele, Perverses Abendland - barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993.
4 Vgl. Lavrov, Aleksandr S., Koldovstvo I religija v Rossii, 1700-1740, Moskau 2000, S. 326-327; Smiljanskaja, Elena B., Volšebniki. Bogochul'niki. Eritiki. Nadodnaja religioznost' i „duchovnye prestuplenija” v Rossii XVIII v., Moskau 2003.
5 Bei der Übersicht der unterschiedlichen Zugänge zur Geschichte der Emotionen hätte der theoretische Beitrag von William Reddy eine ausführlichere Würdigung verdient als nur in einer Fußnote erwähnt zu werden.

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