M. Erler u.a. (Hrsg.): Die griechische Biographie

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Titel
Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des internationalen Kongresses vom 26.-29. Juli 2006 in Würzburg


Herausgeber
Erler, Michael; Schorn, Stefan
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 245
Erschienen
Berlin 2007: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 492 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Sonnabend, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Lange Zeit sowohl von Philologen, Literaturwissenschaftlern und Historikern vernachlässigt, rückt die antike Biographie in jüngster Zeit zunehmend in den Focus der Forschung. Die Aporie, immer noch auf das zwar verdienstvolle, jedoch partiell veraltete, 1901 publizierte Werk von Friedrich Leo als Primärreferenz verweisen zu müssen, besteht somit nicht mehr.1 Im Sog dieser Entwicklung ist auch das Interesse an der antiken Autobiographie gewachsen, zu deren Verständnis einst Georg Misch im Rahmen einer übergreifenden Darstellung wichtige Aspekte beigesteuert hatte.2 Gleichwohl herrscht nach wie vor Dissens über die Frage ihrer Definition und ihrer gattungsmäßigen Zuordnung. Der Autobiographie ist jedenfalls in der Antike nicht der Rang eines eigenständigen literarischen Genres zuerkannt worden. Und in Bezug auf die Biographie muss mangels konsensfähiger Alternativen immer noch das bekannte Diktum Arnaldo Momiglianos herhalten, der die Biographie prägnant als „account of the life of a man from birth to death“ charakterisiert hat.3

Der vorliegende Band dokumentiert die Vorträge, die 2006 auf einer internationalen Tagung in Würzburg gehalten wurden. Ins Visier genommen wurde bei dieser Veranstaltung die biographische und autobiographische Literatur der hellenistischen Zeit. Das ist an sich bereits ein verdienstvolles Unterfangen, präsentiert sich die hellenistische Biographie in ihrem Textbestand doch in einer sehr disparaten, häufig nur in Fragmenten greifbaren Form. Umso größer ist der Bedarf an kompetenter Präsentation, Auswertung und Analyse des tradierten Quellenmaterials. Das (zu?) bescheidene Ziel der Veranstaltung war es nach den Worten der Herausgeber (VI), „den Weg für weitere Forschungen“ aufzuzeigen, „die es vielleicht einmal ermöglichen werden, eine Geschichte der hellenistischen Biographie zu schreiben.“

Die 21 Beiträge sind auf fünf Rubriken verteilt. Unter „Vorformen und Anfänge“ behandelt Bernhard Zimmermann autobiographische Ansätze speziell in der homerischen Odyssee. Michael Erler, einer der beiden Herausgeber, diskutiert biographische Elemente bei Platon und in der hellenistischen Philosophie und schlägt dabei einen Bogen von den platonischen Dialogen zu den Anekdoten in späteren Philosophen-Biographien. Mit der ergiebigen biographischen Produktion Xenophons befasst sich Michael Reichel und kommt zu dem Schluss, dass die Affinität des Historikers zu biographischen Stoffen primär mit dessen persönlichen Begegnungen und Erlebnissen zu erklären sei. William W. Fortenbaugh widmet sich dem seit Leo virulenten Thema des Zusammenhanges zwischen der Entwicklung der Biographie und dem Einfluss der peripatetischen Schule.

In der zweiten Abteilung mit dem Titel „Themen und Arbeitsweise“ finden sich nur zwei Beiträge. Graziano Arrighetti untersucht, wie zuvor Erler, die Bedeutung von Anekdoten in biographischen Werken, setzt den Akzent dabei aber auf den literarischen Status und die literarische Qualität der Anekdote. Von den in der biographischen Tradition auffällig häufig thematisierten Besuchen von Gelehrten und Dichtern in Ägypten handelt der Beitrag von Mary R. Lefkowitz. Sie hält diese Besuche allesamt für unhistorisch und erklärt das Motiv unter anderem mit der Affinität der Biographen zur Intellektuellen-Metropole Alexandria. Zusätzlich dürfte allerdings der traditionelle Ruf Ägyptens als eines Zauber- und Wunderlandes eine Rolle gespielt haben.

„Einzelne Biographen“ der hellenistischen Epoche werden in der dritten Rubrik unter die Lupe genommen. Mit-Herausgeber Stefan Schorn interpretiert im längsten Beitrag des Bandes das biographische Schaffen des Neanthes von Kyzikos. Tiziano Dorandi bemüht sich um die Identifizierung biographischer Fragmente, die bei Diogenes Laertios Aristippos zugeschrieben werden. Die Philosophen-Biographien des Hippobotos stehen im Mittelpunkt der Darlegungen von Johannes Engels. Gregor Steeb beschäftigt sich unter Verwendung des Untertitels „Wundermann oder hellenistischer Literat?“ mit der Zuverlässigkeit jenes Apollonios, der in Pythagoras-Viten als Quelle und Informant auftaucht. Francesca Longo Auricchio unterzieht die philosophischen Papyri aus Herculaneum einer auf dem aktuellen Forschungsstand basierenden Revision.

Fünf Beiträge enthält die vierte Rubrik zum Thema „Biographische Traditionen über einzelne Personen“. Klaus Döring erörtert die biographischen Angaben zu Sokrates im Corpus Aristotelicum. Aristoxenos und seine Angaben zu Pythagoras und den Pythagoreern analysiert Luc Brisson. Michele Corradi untersucht die Anfänge der Tradition über den Prozess gegen den Sophisten Protagoras. Die vielschichtige biographische Überlieferung über Aspasia, die aus Milet stammende Partnerin des Perikles, ist, unter besonderer Berücksichtigung von Philosophie und Komödie, Gegenstand der Darlegungen von Mauro Tulli. Den Schlusspunkt setzt in dieser Abteilung Klaus Geus mit Anmerkungen zu einer Vita des Mathematikers und Ingenieurs Archimedes.

Ebenfalls fünf Artikel umfasst die abschließende Themengruppe „Beziehungen zu anderen Gattungen und Rezeption“. Ausführlich befasst sich hier Guido Schepens mit der grundlegenden Frage des Verhältnisses von Biographie und Historiographie in der hellenistischen Zeit. Irmgard Männlein-Robert beleuchtet das Phänomen der Selbstepitaphien hellenistischer Dichter, die Grabgedichte auf die eigene Person zu verfassen pflegten und damit auch autobiographisch auswertbares Material lieferten. Peter Scholz schlägt einen Bogen von den Autobiographien hellenistischer Potentaten zu den Selbstzeugnissen römischer Aristokraten der republikanischen Zeit und stellt dabei einige signifikante, auf den divergierenden politischen und sozialen Verhältnissen beruhende Unterschiede heraus. In den Bereich des frühen Christentums führen die Betrachtungen von Bernhard Heininger, der das in der Apostelgeschichte vermittelte Paulusbild vor dem Hintergrund der antiken Biographie betrachtet. Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Jørgen Mejer, der anhand von Diogenes Laertios einige grundlegende Fragen zum Thema Biographie und Doxographie erörtert.

Insgesamt liefert der Band einen instruktiven Einblick in die vielschichtigen Probleme der biographischen und autobiographischen Produktion der hellenistischen Zeit. Ein differenzierter Index der Quellen sowie ausführliche Literaturhinweise am Ende eines jeden Beitrages bilden eine wichtige Dokumentation des Textbestandes und der Forschungssituation. Die Zusammenstellung der Beiträge macht allerdings einen etwas heterogenen Eindruck. Neben Aufsätzen, die fundamentale und substanziell bedeutsame Themen zum Gegenstand haben (etwa Zimmermann, Reichel, Schepens, Scholz, Heininger), stehen andere, die eher von marginaler Relevanz sind, weil sie doch – jedenfalls gemessen an einem Band, der sich als Vorstufe zu einer Geschichte der hellenistischen Biographie begreift – zu spezielle Fragen aufgreifen. Offenbar haben die Herausgeber, als sie die Tagung konzipierten, die nicht ungewöhnliche Erfahrung machen müssen, dass das Wünschenswerte hinter dem Machbaren zurücktreten musste. Diese Kritik soll jedoch den Wert des Bandes nicht grundsätzlich schmälern. Keine Diskussion über die hellenistische Biographie wird in Zukunft ohne die Referenz auf „Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit“ auskommen können.

Anmerkungen:
1 Leo, Friedrich, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form, Leipzig 1901 (NDr. Hildesheim 1990).
2 Misch, Georg, Geschichte der Autobiographie, Frankfurt am Main ³1949.
3 Momigliano, Arnaldo, The Development of Greek Biography, Cambridge/Mass. 1971, S. 11.

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