G. Wagner: Eine Geschichte der Soziologie

Cover
Titel
Eine Geschichte der Soziologie.


Autor(en)
Wagner, Gerhard
Erschienen
Konstanz 2007: UVK Verlag
Anzahl Seiten
238 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Mergel, Humboldt-Universität zu Berlin

Das vorzustellende Buch, das als utb-Taschenbuch erschienen ist, zieht ein Resümee der langjährigen Beschäftigung des Autors mit der Geschichte der Soziologie. Der Titel ist dennoch irreführend und höchstens gerechtfertigt, wenn man das erste Wort betont. Sucht man Emile Durkheim, Talcott Parsons, Niklas Luhmann oder Pierre Bourdieu darin, wird man erst ganz am Ende fündig, wenn es um „hochprofessionalisiertes Epigonentum“ geht. Im Grunde ist es eine Vor-, bestenfalls eine Frühgeschichte der modernen Soziologie. Denn Wagner vertritt die These, dass die Grundprobleme der modernen Soziologie bereits in der Auseinandersetzung der Aufklärung mit dem mittelalterlichen Rationalismus entstanden sind, und dass sie sich auf die zwei Dimensionen „Teleologie“ und „Kausalität“ reduzieren lassen. Man kann also die menschliche Gesellschaft und ihre Handlungsformen mit Blick darauf beschreiben, woher diese Eigentümlichkeiten kommen, und man kann andererseits fragen, wozu Handlungsformen, Strukturen, Motive gut sind. Diese beiden Grundformen, die sich in der Trennung zwischen hermeneutischer Soziologie und Funktionalismus ausgeprägt haben, finden eine Analogie in der Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Geist, zwischen Sein und Sollen. Es handelt sich dabei um die beiden Grundhaltungen, die das okzidentale Denken und Handeln maßgeblich geprägt haben. Die moderne Soziologie, so Wagner, lässt sich verstehen als „gemeinsamer Nenner verschiedener möglicher Positionen“ (S. 20), die daraus destillierbar sind. Die typischen theoretischen Positionen, die in dieser Spannung zwischen Teleologie und Kausalität möglich sind, wurden seiner Ansicht nach in einer relativ kurzen Zeitspanne zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem beginnenden 20. Jahrhundert formuliert.

Im Klartext (den Wagner nicht immer spricht): Geschichte der Soziologie spielt sich für Wagner ab in einer langen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Ideengeschichte, die eng an historische Entwicklungen wie die Staatsbildung oder die Industrialisierung angebunden wird, und einer relativ kurzen Phase der theoretischen Konzeptionalisierung, verkörpert in Auguste Comte, Herbert Spencer, Georg Simmel und Max Weber. Alles, was danach folgt, also das, was man als das Zeitalter der Soziologie verstehen kann, ist für ihn Epigonentum, auf weniger als 20 Seiten abzuhandeln.

Die teleologische Grundposition wurde im Wesentlichen schon im Mittelalter, aus der Tradition des theologischen Rationalismus (und ihren aristotelischen Vorläufern) entwickelt. Sie fragt im Kern, in welcher Verbindung das Handeln der Menschen und die Strukturen ihres Lebens mit dem Gottesreich stehen, welchen „Sinn“ (man könnte auch sagen: welche Funktion) spezifische Handlungsformen im Bezug auf die civitas dei haben. Der neuzeitliche Rationalismus im Gefolge der lutherischen Revolution weist der Natur einen eigenständigen Platz zu und kann deshalb nicht nur in neuer Weise fragen, woher die Dinge kommen (anstatt: wofür sie gut sind), sondern er kann auch der Sinnlichkeit (als „Natur“) einen eigenen Platz im Konzept von Mensch und menschlicher Gemeinschaft zuweisen.

In dieser Spannung muss sich seither alle Wissenschaft vom Menschen als Gesellschaftswesen bewegen: Ist der Mensch im Wesentlichen ein Geistwesen, rational, nach Zwecken fragend, oder ist er Teil der Natur, mit Sinnen, immer suchend, was ihn von der anderen Natur unterscheidet? Die modernen Soziologen sind sich dieser Spannung bewusst und suchen sie zu vermitteln. Auguste Comtes Begründung der modernen Soziologie als einer sozialen Physik entspringt zunächst der Naturanalogie; neben die Physik des Himmels, der Pflanzen- und Tierwelt muss eine Physik des menschlichen Zusammenlebens treten, die nach dessen Gesetzmäßigkeiten fragt – und in dieser Perspektive nimmt Comte die teleologischen Ansätze auf, denn es geht ihm vor allem um Entwicklungsgesetze. Die Geschichte und gegenwärtige Form einer gegebenen Gesellschaft wird im Hinblick auf ihre (mögliche) Zukunft betrachtet. Hierin zeigt sich auch bereits eine instrumentalistische Zurichtung der Soziologie als einer angewandten Wissenschaft.

Herbert Spencer kommt ebenfalls von der Natur, wenn er die Gesellschaft als einen Organismus bezeichnet und nach dem Unterschied und dem Zusammenhang der einzelnen Glieder untereinander fragt. Das Prinzip der funktionalen Differenzierung, das er damit begründet, fragt wie Spencer nach dem Telos gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Strukturen. Er wie Comte und andere suchen nach Analogien zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft, und dabei entstehen auch interdisziplinäre Verknüpfungen, wie man am Milieubegriff sieht, der aus der Biologie in die Soziologie gewandert ist.

Kausale Fragen werden anhand von Max Webers Rationalisierungstheorie entwickelt, die Wagner, nicht sehr überraschend, auf eine lange Tradition klassischer und idealistischer Positionen zurückführt. Gesellschaft ist – anders als in der teleologischen Position – nicht vernünftig, ordentlich, sondern unendlich mannigfaltig, und wenn wir menschliche Gesellschaften begreifen wollen, müssen wir diese in ihrer Eigenart verstehen – und das heißt wiederum: was sie ausmacht und wo sie herkommen. Die Frage, die Weber umtreibt, ist besonders, wie sich der enorme Erfolg des okzidentalen Rationalismus erklären lässt, der weit über Europa ausgegriffen und andere Gesellschaftsmodelle marginalisiert hat. Die sich daraus entwickelnde vergleichende und prozessuale, das heißt historische Betrachtungsweise fragt in der Tat nach Regelmäßigkeiten, aber nicht im Comteschen Sinne, sondern sie fragt nach Typen des Handelns, die nicht nach der Funktion, also dem Zweck, zu betrachten sind, sondern nach dem gemeinten Sinn, den subjektiv zugeschriebenen Bedeutungen.

In diesem Sinn versteht auch Georg Simmel Soziologie, mit dem wichtigen Unterschied, dass er sich für den Adressaten dieser bedeutungsvollen Handlungen interessiert und insofern menschliche Gesellschaft als Interaktion zwischen (im idealtypischen Falle) zwei Gegenübern konstruiert. Gesellschaft als Wechselwirkungskommunikation, in der die sinnliche Wahrnehmung des Anderen, das Hören und das Sehen, zu Typisierungen führt, die ihrerseits erst Individualisierung ermöglichen. Insofern denkt Simmel ebenso wie Weber Grundmotive der interaktionistischen Soziologie vor, die Gesellschaft nicht „von oben“, als Konglomerat von Strukturen und Funktionen, sondern „von unten“, als Institutionalisierung von bedeutsamer Kommunikation versteht. Und in beiden Fällen führt das Insistieren auf der Differenz zwischen menschlichen Gesellschaften und „Natur“ dazu, sinnliche, interpretative, kontingente Motive einzuführen. Um wieder auf Weber zurück zu kommen: Soziologie als die Wissenschaft, die „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“, fragt nach der Eigenart von Ordnungen, erklärt diese aber von den Bedeutungen her, die die Subjekte ihrem Handeln gegenseitig geben, und nicht mit naturähnlichen Gesetzen.

Mit Weber endet nach Ansicht Wagners die Geschichte der Soziologie (S. 212). Die Soziologen des 20. Jahrhunderts formulieren die Ansätze des Heroenzeitalters nur mehr um. Durkheim, Parsons, Luhmann, auch Habermas und Foucault: Sie reformulieren lediglich die teleologischen Ansätze Spencers und Comtes. Foucault, Rational Choice, Pierre Bourdieu: alles nur Brosamen vom Feld der sinnverstehenden Soziologie. Nach den Meistern nur noch Epigonen.

Ist das eine Geschichte der Soziologie? Nein. Eher ist es eine Geschichte von Gesellschaftskonzeptionen, die just an dem Punkt aufhört, da die Soziologie sich als professionelle Wissenschaft ausdifferenzierte, eine Art Archäologie soziologischer Denkfiguren. Das kann man machen, sollte es aber so nennen, anstatt auf Käufer zu schielen, die nur den Titel lesen und nicht das Inhaltsverzeichnis. Ohne dass man bestreiten könnte, dass mit Wagners „Großen Vier“ zentrale Denkfiguren der modernen Soziologie gedacht wurden, die nicht mehr dispensierbar sind, ist doch die These, dass mit Weber die Soziologie endet, sachfremd. Sie unterstellt nämlich, dass „die“ Gesellschaft damals so war wie heute, und blendet völlig aus, dass „Gesellschaft“ im 20. Jahrhundert einem rapiden Wandel unterworfen war, und naturgemäß auch andere Beschreibungsformen benötigt (lassen wir einmal die Frage beiseite, ob tatsächlich alle Gesellschaften, westliche wie nichtwestliche, nach denselben Kriterien untersucht werden können). Die großen Meister von 1900 konnten die Instrumente gar nicht bereitstellen, mit denen man eine soziale Wirklichkeit von heute begreifen könnte, denn Phänomene wie die Konsumgesellschaft, die umgekehrte Alterspyramide, erst recht die mediale Virtualisierung der Realität stehen für neue Entwicklungen, die Weber, Simmel, Spencer, oder gar Comte, auch als Prinzip nicht bekannt waren. Im Grunde folgt Wagner einem metaphysischen, selber sozialphysikalischen Begriff von „der“ Gesellschaft. Sie ist bei ihm immer schon als ein Prinzip da, und sie wandelt sich nicht historisch. Eigentlich haben wir es nicht mit Soziologie, sondern mit einer Art analytischer Sozialphilosophie zu tun, die die Geschichte so lange wirken lässt, bis vier Helden die Bühne betreten, und sie danach stillstellt.

Einer der von Wagner belächelten großen Epigonen, Robert Merton, hat vor über 40 Jahren ein Büchlein veröffentlicht, in dem er sein eigenes Erkenntnisstreben in einen ironischen Zusammenhang mit den großen Meistern, die vor ihm wirkten und auf die er aufbaute, setzt: „Wir sind nur Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen – aber weil wir da oben stehen, sehen wir weiter als jene.“1 Wie weit sieht man von Wagners Schultern aus?

Anmerkung:
1 Merton, Robert, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit (1965), Frankfurt am Main 1989.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension