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Titel
Perikles. Staatsmann und Stratege im klassischen Athen


Autor(en)
Lehmann, Gustav A.
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Will, Historisches Seminar, Abteilung für Alte Geschichte, Universität Bonn

Für eine Vita des Perikles scheint auf den ersten Blick ausreichendes antikes Material vorhanden zu sein. Wir besitzen eine Biografie Plutarchs, die Weltgeschichte Diodors, Fragmente von Geschichtsschreibern und Komödiendichtern, Inschriftensplitter und vor allem Thukydides und Aristophanes. Der Eindruck trügt jedoch. Wer eine Biografie schreiben will, stößt schnell an seine Grenzen. In den erhaltenen Komödien des Aristophanes kommt Perikles nur zweimal vor, Thukydides hat außer kurzen Erwähnungen Essentielles nur für die letzten drei Lebensjahre und Plutarch stochert allzu häufig im Dunkeln. So hat sich gegen die überzogene Perikles-Gläubigkeit, die von Wilhelm Adolf Schmidt bis zu dem politisch recht durchsichtigen Buch von Donald Kagan reicht, eine berechtigte Skepsis breit gemacht. Es schien Konsens zu werden, dass eine Basis für eine biografische Arbeit über Perikles nicht gegeben ist. Wie schon in seinem Demosthenes-Buch, welches das Bild des 19. Jahrhunderts vom Freiheitskämpfer wieder aufgreift, versucht Lehmann nun mit seinem „Perikles“ das Rad wieder zurückzudrehen. Es ist, um es vorwegzunehmen, ein vorzügliches Buch, doch nur bedingt die angekündigte Biografie des Perikles.

Der Autor beginnt mit einem Kapitel Rezeptionsgeschichte, das unter der Thematik der Kriegsschuld, die Plutarch expressis verbis und Thukydides indirekt in den Mittelpunkt stellt, auch eine kurze Quellenkritik einschließt. Von Werner Jäger stammt die, wie er sagt, „merkwürdige Feststellung“, Demosthenes sei der erste Mensch seit Erschaffung der Welt, über dessen Jugendgeschichte wir etwas Genaueres wüssten.1 Lehmann versucht das zu korrigieren. Seine ersten beiden großen Kapitel (nach der Einführung) handeln laut Titel von den „dramatischen Kindheitsjahren“ (S. 30–51) sowie den jugendlichen „Lehrjahren“ des Perikles. Das Vorhaben will jedoch nicht so recht gelingen. Am Ende erfährt der Leser außer von der inschriftlich bezeugten Choregie von 472 v.Chr. über den Protagonisten nur, dass der junge Perikles von der Niederlage des Vaters in der Ostrakismos-Abstimmung von 484 v.Chr. „stark und nachhaltig beeindruckt“ (S. 44) war und dass der schon etwas ältere Perikles im Jahre 480 v.Chr. von der Insel Salamis aus „den Feuerschein über der Stadt Athen erblickte“ (S. 56), als die Perser die Stadt nieder brannten.

So bleibt noch die Geburt des Perikles, die Lehmann „mit einiger Wahrscheinlichkeit“ (S. 30) ins Jahr 494 v.Chr. (Archontenjahr 94/3) datiert. Er begründet das damit, dass „von einer Teilnahme des Perikles an den Kämpfen gegen die Perser […] nichts bekannt ist“ (S. 273). 494 v.Chr. mag richtig sein, doch ist das, was Lehmann anführt, kein Beleg. Bezeichnenderweise hat Kagan in seiner Perikles-Biografie gleich zwei Geburtsdaten: 494 v.Chr. und 493 v.Chr. (S. 34, S. 66). Es lässt sich nur davon sprechen, dass 490 v.Chr. aufgrund von IG II2 2318 Z.10 den terminus ante quem bildet. Überhaupt scheint es sehr schwierig, hinter die politischen und militärischen Kulissen zu blicken. Lehmann behauptet „Einblicke in Perikles` Privatsphäre gewinnen“ zu können (S. 341), doch das ist ein Wunschbild. Bei dem, was einschlägig überliefert ist, handelt es sich um zeitgenössischen Klatsch (Stesimbrotos) oder episodenhafte Erinnerungen (Ion), die von Plutarch gefiltert wurden und auch dadurch nicht an Glaubwürdigkeit gewinnen, dass sie von Biograf zu Biograf weitererzählt werden (siehe die Wanderanekdoten über Perikles und Elpinike bzw. Sophokles [S. 95, S. 187], die für Lehmann authentische Gespräche wiedergeben).

Das Kapitel „Perikles` Einstieg in die Politik“ (S. 83–114) behandelt die sechziger Jahre. An Gesichertem lässt sich nur sagen, dass Perikles 463 in einem Rechenschaftsprozess gegen Kimon auftrat und 461 v.Chr. in Verbindung mit Ephialtes stand. Die „von Perikles seit 461/60 v. Chr. [!] eingebrachten Gesetzesvorlagen“, mit denen „die institutionelle Ausformung der athenischen demokratia, als Selbstregierung des Volkes, in ihr entscheidendes Stadium getreten ist“ (S. 102), sind eine Chimäre. Das erste datierbare Gesetz, das mit Perikles` Namen verbunden ist, ist das Bürgerrechtsgesetz von 451/0 v.Chr. (Aristot. Ath. pol. 26.4). Isoliert bleibt Lehmann, wenn er die ins 4. Jahrhundert zu datierende Einführung der staatlichen Schaugelderkasse „nachweislich [!] auf eine Initiative der Perikles“ zurückführt. Bleicken, Hansen, Chambers, Ruschenbusch sind nur einige Namen, die die gegenteilige communis opinio repräsentieren. An der Feststellung von Manfred Clauss, dass die Gestalt des Perikles erst nach 451 v.Chr. etwas an Kontur gewinnt, kommt kein Biograf vorbei.2 Wenn Lehmann glaubt, Perikles sei bereits ab 460 v.Chr. „mehrfach in das Strategenkollegium gewählt worden“ (S. 100f.), so ist das eben nur ein Glaube. Die erste sichere Strategie datiert frühestens in das Jahr 455/4 v.Chr. Robert Develin hat außer diesem Jahr zwar noch 463/2 v.Chr. angeboten, doch beruht dieses Datum auf einer irrigen Auslegung Plutarchs und Develin setzt selbst auch ein Fragezeichen.

Mit der Darstellung der 450er-Jahre v.Chr. und der umfassenden Präsentation des Bürgerrechts betritt der Biograf zum ersten Mal sicheren Boden. Der Mär, Perikles habe die künstlerische Leitung der Akropolis-Bauten gehabt, hängt Lehmann nicht an. Gleichwohl behauptet er, dass Perikles „von Anfang an“ die „führende Rolle“ beim Parthenon-Projekt übernommen habe (S. 140). Das mag zutreffen. Was aber nicht stimmt, ist die weitergehende Behauptung, „unsere Quellenzeugnisse“ würden daran „keinen Zweifel“ lassen. Plutarch hatte, als er rund ein halbes Jahrtausend später die Akropolis besuchte, keinen Beleg für seine Meinung, dies alles seien die Werke des Perikles (Plut. Per. 13,4.). Er glaubte einfach, alles, was zwischen 461 v.Chr. und 430 v.Chr. geschah, gehe auf Perikles zurück. Dass Perikles in den Kommissionen für den Parthenonbau und die Erstellung der Athena Parthenos saß (nach Develin nur für das Jahr 438/7 v.Chr. u. 432/1 v.Chr. belegt), ist kein Beweis. Das taten viele andere auch. Dessen ungeachtet wird man Perikles eine führende Rolle nicht absprechen können. „Nachweislich“ ist sie aber mitnichten. Wozu die großen Bauanstrengungen letztlich dienten, wird bei Lehmann nicht ganz klar. Mit Vehemenz jedenfalls lehnt er die Möglichkeit ab, bei den monumentalen Propyläen handle es sich um Einschüchterungsarchitekur einer Stadt, die ihre Verbündeten mit immer härteren Methoden zum Verbleib in der „Symmachia“ zwang. Das ist freundlich gedacht, aber die Athener bauten nicht allein zum ästhetischen Wohlgefallen von Zeitgenossen und Nachwelt.

Mit der Vorgeschichte und den Anfängen des Peloponnesischen Krieges erreicht die Perikles-Vita ihren best dokumentierten Teil, ja eigentlich beginnt sie dann erst. Nun wird der Historiker Thukydides zum Gewährsmann. In seinen Erga, der Faktengeschichte, beschränkt sich Thukydides jedoch auf relativ wenige Daten: Das Bild des Perikles, das über Jahrhunderte wirken sollte, entsteht nicht dort, sondern in den drei großen direkten Reden, die der Historiker seinem Helden gibt. Diese aber sind keine gekürzten Paraphrasen und entstammen auch nicht dem ersten Entwurf des Werkes (vermutlich) aus der Zeit des Nikias-Friedens, sie vermitteln allein die Sicht des Thukydides, die dieser nach Kriegsende gewann und welche die Neukonzeption von 404 v.Chr. bestimmte. Wie z.B. aus der Friedensrede des Archidamos nur so viel auf diesen zurückzuführen ist, dass er gegen den Krieg war, so kann aus den Reden des Perikles nur so viel als gesichert gelten, dass dieser für die Demokratie und für den Krieg war. Obwohl es immer wieder versucht wurde, so ist es ganz unmöglich aus den Reden „authentische“ Vorstellungen des Perikles zu destillieren oder die Reden auf „authentische Äußerungen“ zurückzuführen. Wenn Lehmann behauptet, in der sogenannten Trostrede seien die „Hauptargumente (des Perikles) zusammengefaßt“ (S. 240), muss er den Beweis schuldig bleiben. Schon gar nicht lassen sich einzelne Passagen, wie es der Autor von Thuk. 2,40,1 glaubt, als „wortwörtliche“ Wiedergabe isolieren (S. 235).

Der ungewöhnlich umfangreiche Apparat dieses hervorragend lektorierten Buches (in dem nur das Literaturverzeichnis fehlt) bietet eine Fülle von Hintergrundinformationen, die allerdings oft nichts oder wenig mit Perikles oder seinem Umfeld zu tun haben. So referiert der Autor z.B. eine knappe Seite über Leonidas, das Grabepigramm und seine Rezeption von Cicero bis Göring, durchaus interessant, doch die Verbindung zu Perikles besteht allein darin, dass dieser damals (vielleicht) 14 Jahre alt war. Gleichwohl erfährt der Leser viel über den Stand der Forschung, und zwar auf pädagogische Weise. Im Umgang mit seinen Fachkollegen schlüpft Lehmann ein wenig in die Rolle eines Lehrers, wie er sie bei seiner Beschreibung einer „frühklassischen“ Vase des Duris in etwa selbst darstellt: "Sittsam in lange Mäntel gehüllt legen halbwüchsige Knaben ihre Schreibarbeiten auf der Tafel dem Lehrer vor; dieser kontrolliert aufmerksam auch ihre Rezitationen und Gedichtvorträge." (S. 283) Der Lehrer verteilt wenig Lob (z.B. Charlotte Schubert: „verdienstvoll“ S. 267) und muss viel tadeln. Insgesamt scheint es in der Perikles-Forschung namentlich der deutschen Althistorie nicht zum Besten zu stehen. Die vorgebrachten Meinungen sind meist „unverständlich“, „schwer begreiflich“, gelegentlich auch „apart“ oder „wunderlich“, die Argumente „unhaltbar“, „fragwürdig“, „ohne Anhaltspunkte“ oder „stellen einen Rückschritt dar“. Georg Peter Landmann, von dem die Jahrhundertübersetzung des Thukydides stammt, muss sich sagen lassen, dass er den wichtigsten Satz des Werkes missverstanden hat, aber erhält dann noch eine achtbare Gesamtnote („sonst sehr respektabel“). Die so Kritisierten mag das stören, doch sind Zensuren auch Wegweiser für den Leser.

Die Geschichte der (erhaltenen) Perikles-Biografien beginnt mit Plutarch. Bereits er hatte mit der Grundschwierigkeit unzureichender Quellen zu kämpfen. Sein Genie löste das Problem. Wir können das dort exemplarisch sehen, wo er Thukydides als direkte Quelle benutzt. Plutarch wechselte in seiner Vorlage nur das Subjekt aus, aus dem Ethnikon (bei Thukydides) wurde (bei ihm) der Personenname, was die Athener getan hatten, war plötzlich eine Tat des Perikles geworden. Die Moderne übernahm Plutarchs Methode. Miltner schrieb so seine Biografie, ebenso Bengtson, Kagan und jetzt auch Lehmann. Dass solches Vorgehen nicht ganz korrekt ist, war nicht zu übersehen und so machte es Donald Kagan einfach zum Prinzip: „Eine Eigentümlichkeit, die ich nicht besonders erläutern muss, ist meine Angewohnheit, zahlreiche Handlungen des athenischen Volkes Perikles zuzuschreiben, als hätte er für das ganze Volk die Entscheidungen treffen können.“ (S. 9) Zweifellos hätte Lehmann, einer der großen Althistoriker der Nachkriegszeit, ein veritables Athen-Buch geschrieben. Er hat sich aber dafür entschieden, es eine Biografie des Perikles zu nennen. Plutarch ist daran gescheitert und alle Nachahmer ohne Ausnahme sind es. Nun hat Lehmann sich dieser Aufgabe gestellt. Wie der biblische Moses versucht er Wasser aus dem harten Fels zu schlagen. Aber es tröpfelt nur. Dem mutigen Versuch ist Respekt zu zollen. „Was bleibt“ (S. 246–256) ist dennoch nur die Entschiedenheit, mit welcher der Autor ihn unternimmt.

Anmerkungen:
1 Jaeger, Werner, Demosthenes, Berlin 1963, S. 22.
2 Clauss, Manfred, Große Gestalten der griechischen Antike, München 1999, S. 330.

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