S. Krasmann u.a. (Hrsg.): Rationalitäten der Gewalt

Cover
Titel
Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert


Herausgeber
Krasmann, Susanne; Martschukat, Jürgen
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 26,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Springmann, Berlin

„Als alle Menschen frei und gleich waren, war niemand vor dem anderen sicher. […] Kein Gesetz bewahrte vor Übergriffen. […] So schließen die Menschen einen Bund zur gemeinsamen Sicherheit.“1 Mit diesen Worten beginnt Wolfgang Sofsky seinen „Traktat über die Gewalt“ und verweist damit auf ein seit Thomas Hobbes’ „Leviathan“ bekanntes Grundprinzip neuzeitlicher Staatlichkeit, nämlich den Schutz der Staatsbürger vor illegitimer Gewalt – ein Schutz, der notfalls gewaltsam zu gewährleisten ist. Mit dieser Staatsgewalt setzte sich Walter Benjamin in seinem berühmten Essay „Zur Kritik der Gewalt“ von 1921 auseinander und formulierte die Grundfrage, „ob Gewalt überhaupt, als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei“.2

Die Herausgeber des vorliegenden Aufsatzbandes, Susanne Krasmann und Jürgen Martschukat, möchten genau diesen Konflikt der modernen Staatlichkeit historisieren: dass jede Ordnung auf Gewalt zurückgreift, um Gewalt gleichzeitig eindämmen zu können. So ist es nur konsequent, dass der Band, der aus einer Tagung am Hamburger Warburg-Haus hervorgeht3, mit einer Reflexion von Judith Butler über Benjamins Essay beginnt. Der Band präsentiert elf weitere Aufsätze zu neuralgischen Punkten dieser Thematik: Folter (Susanne Krasmann, Andrew W. Neal, Frank Schumacher); Todesstrafe (Jürgen Martschukat, David Garland), Geschlecht und Gewalt (Ruth Stanley/Anja Feth), Darstellung von Gewalt im Film (Günter Riederer, Sven Kramer), Innere Sicherheit (Klaus Weinhauer), imperiale Gewalt (Christian Geulen) sowie Gefühlslagen der Beherrschten gegenüber dem Staat (Alf Lüdtke).

Susanne Krasmann und Andrew W. Neal reflektieren den Begriff und Bedeutungszusammenhang des Ausnahmezustands. Zwar ist der Titel von Andrew W. Neals Beitrag „Foucault in Guantánamo“ etwas plakativ gewählt, doch die Diskussion der „Politik der Ausnahme“ und Neals Vorschlag, die Gegenüberstellung von Ausnahme und Norm aufzubrechen, sind ausgesprochen anregend. Insbesondere über die Auseinandersetzung mit Foucaults Vorlesungsreihe „Zur Verteidigung der Gesellschaft“ (1975/76) sieht Neal in Guantánamo eine Synthese von altem souveränen Recht und neuen Disziplinartechniken (S. 70), die als Versuch gelesen werden könne, alltägliche Praktiken der Disziplinierung mit neuen Formen körperlicher Vergeltung zu verknüpfen.

In ihrem Beitrag zur „Repräsentation von sexualisierter und Gender-Gewalt im Krieg“ zeichnen Ruth Stanley und Anja Feth nach, wie das Sprechen von sexualisierter Gewalt zu Propagandazwecken genutzt wird. Frauen würden in dieser Debatte kaum mehr als Individuen wahrgenommen, sondern vielmehr als „Symbol der Nation“. Der Topos der sexualisierten Gewalt diene häufig als Beispiel, um „den Anderen“ als kulturell unterlegen zu markieren und damit die Kriegsführung gegen diesen Anderen zu rechtfertigen. Erläutert wird dies anhand der Debatten im Deutschen Bundestag (2001) zur Beteiligung der Bundeswehr in Afghanistan. Die diskursive Repräsentation sexualisierter Gewalt könne einer militärischen Interventionspolitik dienen. Neu ist dieser Befund nicht, doch zeigt er eindringlich, wie wichtig es ist, die tatsächlich begangene Gewalt sorgfältig und dicht zu beschreiben. Denn auch die kritische und wichtige Auseinandersetzung mit den Funktionalisierungen läuft Gefahr, die verübte Gewalt und deren Konsequenzen für die Opfer zu überschreiben.

In seinem materialreichen Beitrag „Strafgewalten und Zivilisationsentwürfe in den USA um 1900“ schildert Jürgen Martschukat die Verdrängung der Lynchjustiz durch die Einführung des elektrischen Stuhls als Instrument der Durchführung gesetzlich geregelter, staatlicher Todesstrafen in Georgia. Die Etablierung dieser neuen, staatlich sanktionierten Tötungspraxis interpretiert er nicht nur als Überwindung volksstaatlicher, unkontrollierter und unzivilisierter justizieller Praktiken, sondern ordnet sie zugleich in die Diskurse und Praktiken der Moderne ein (S. 240). Möglicherweise habe gerade die Technisierung zur vermeintlichen Legitimität der Todesjustiz beigetragen. Weiter konstatiert Martschukat, dass sich mit der Einführung des elektrischen Stuhls, einer Maschine also, die Vorstellung bekräftigen ließ, in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben und gleichzeitig ein probates Mittel gegen die „empfundene Gefahr schwarzen Verbrechens“ zur Verfügung zu haben (S. 250).

David Garland spricht sich explizit dagegen aus, die Todesstrafe als eine Form von Lynchmord zu verstehen. Sein Fokus liegt auf der heutigen Erscheinungsweise der Todesstrafe (in den USA), die er weniger als Ausdruck des Verhältnisses zwischen souveränem Staat und Untertan begreift, sondern als das „Ergebnis einer komplexen Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen [...], des Drucks der Bevölkerung auf staatliche Akteure, der Machtkämpfe zwischen Bund und den Einzelstaaten und den strategischen Entscheidungen politischer Akteure“ (S. 281). Folgerichtig plädiert er für eine Analyse unter der Leitfrage, wie die Forderungen nach ungezügelter Bestrafung und Mäßigung immer wieder austariert werden.

Alf Lüdtke historisiert in seinem Beitrag „Gewalt des Staates – Liebe zum Staat“ das Verhältnis von Individuum und neuzeitlichem Staat. Mit den Vorstellungen von Institutionen (wie Schulen oder Armenhäusern), Formen der Lebensführung durchzusetzen, das Individuum zu erziehen und zu korrigieren, gehen Möglichkeiten der Partizipation am Staat einher. So macht Lüdtke sichtbar, dass Herrschaft in der Moderne nicht allein auf einem Gehorchen gründet, sondern vielmehr ein „kreatives Mitwirken“ benötige (S. 210). „Herrschaft und Staat sind erst möglich durch Gefühle der Zuwendung der Vielen für das ‚große Ganze’ und ihr aktiv-alltägliches Streben nach Teilhabe.“ (ebd.)

Der Band gibt einen anregenden Überblick zum aktuellen Stand der Diskussionen über das Verhältnis von Staatlichkeit und Gewalt. Angelehnt an Foucault weisen Susanne Krasmann und Jürgen Martschukat in ihrer Einleitung darauf hin, dass das Verhältnis von Staat und Gewalt immer wieder neu ausgehandelt wird. Um staatliche Gewaltordnungen zu analysieren, braucht es einen Blick auf die Rationalitäten der Gewaltpraktiken, die in ihrer historischen Spezifik und jeweiligen Institutionalisierung begriffen werden müssen. Diesem Anliegen kommen die Autoren und Autorinnen des Bandes nach, und es finden sich Analysen der leisen Transformationen der als legitim betrachteten „Rationalitäten der Gewalt“. Der Untertitel „Neuordnungen“ verweist somit weniger auf radikale Umbrüche, sondern auf den „permanenten Prozess der Austarierung“ (S. 10). Neben und in Verbindung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen verfolgen die Herausgeber auch eine politische Agenda, nämlich die Warnung vor einer Verselbstständigung staatlicher Gewalt: „Es ist die Verstetigung der Ausnahmen, die den ‚Exzess’, das Übermaß, das Ungebotene zur Alltäglichkeit und Normalität werden lässt.“4 (S. 14)

Anmerkungen:
1 Sofsky, Wolfgang, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 7.
2 Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 29.
3 Die Tagung trug den Titel „Gewalt, Ordnung und Staatlichkeit“; sie fand vom 30. März bis zum 1. April 2006 statt. Siehe das Programm unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4843>.
4 Vgl. zu diesem Themenfeld jüngst auch Lüdtke, Alf; Wildt, Michael (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008.