K. Tenfelde u.a. (Hrsg.): Stimmt die Chemie?

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Titel
Stimmt die Chemie?. Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns


Herausgeber
Tenfelde, Klaus; Czikowsky, Karl-Otto; Mittag, Jürgen; Moitra, Stefan; Nietzard, Rolf
Erschienen
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Stremmel, Historisches Archiv Krupp

Die Chemie stimmt, zumindest zwischen den Wissenschaftlern und den „Praktikern“ (Vorwort, S. 8), die mit dem vorliegenden Sammelband eine interessante Gemeinschaftsproduktion erstellt haben. „Praktiker“ – das sind konkret Funktionsträger der heutigen Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie bzw. der vormaligen IG Chemie-Papier-Keramik, die zum größten Teil auch Ämter in Mitbestimmungsorganen des Bayer-Konzerns besaßen oder besitzen. Es handelt sich also um Mitgestalter von Mitbestimmung und um Zeitzeugen. Der Kreis der Wissenschaftler setzt sich ganz überwiegend aus Historikern zusammen, zu einem guten Teil aus dem „Institut für soziale Bewegungen“ an der Ruhr-Universität Bochum, dessen Direktor Klaus Tenfelde an der Spitze der Herausgeber steht und der einleitend einen höchst informativen Abriss über Mitbestimmung und Unternehmenskultur in der Chemieindustrie gibt. Tenfelde sorgt dabei für begehbare Schneisen im Dschungel der Ereignisse. Er macht insbesondere darauf aufmerksam, dass innerbetriebliche Mitbestimmung durch „staatliche Intervention“, „und zwar stets auf den Druck der Arbeiterbewegungen hin“ (S. 21), umgesetzt und durch die allgemeinen politischen Verhältnisse stark beeinflusst wurde.

Im Anschluss liefert Paul Erker einen konzisen Überblick über die Bayer-Unternehmensgeschichte zwischen der Gründung der Firma im Jahr 1863 und der unmittelbaren Gegenwart. Gemeinsam mit den folgenden historischen Beiträgen, die sich thematisch enger mit betrieblicher Sozialpolitik und Mitbestimmung im Bayer-Konzern bis in die frühen 1960er-Jahre beschäftigen, ist hier quasi eine Unternehmensgeschichte im Kleinen entstanden.

Das ist um so verdienstvoller, als es leider noch keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Bayer-Geschichte gibt.1 Die Quellen dazu wären vorhanden, gibt es doch das mittlerweile hundert Jahre alte Bayer-Archiv, von dem auch die Verfasser des vorliegenden Bandes stark profitiert haben. Ohne die Unterlagen im Archiv wäre das Buch gar nicht möglich gewesen.

Ebensowenig wie eine wissenschaftliche Unternehmensgeschichte Bayers existiert eine wissenschaftliche Biographie Carl Duisbergs, der das Unternehmen zwischen 1900/11 und 1925 maßgeblich lenkte und darüber hinaus im Reichsverband der Deutschen Industrie sowie beim Zusammenschluss deutscher Chemiefirmen zur IG Farben eine zentrale Rolle spielte. Wie prägend Duisbergs sozialpolitische Initiativen bis in die jüngste Zeit für die Unternehmenskultur bei Bayer waren, machen zahlreiche Beiträge deutlich.

Unter Duisbergs Leitung entstand ein ausgesprochen vielschichtiger Komplex aus „Wohlfahrtseinrichtungen“, wobei hier nicht das falsche Bild von den „großen Männern, die Geschichte machen“, wiederholt werden soll. Jürgen Mittag arbeitet in seiner instruktiven Studie jedoch heraus, dass die betriebliche Sozialpolitik im Bayer-Konzern „in erheblichem Maß auf Duisbergs persönlicher Initiative“ (S. 88) beruhte. Differenziert fächert Mittag die Motive zu diesen Initiativen auf. Insbesondere weist er auf das drängende Problem des Aufbaus einer Stammbelegschaft für die neu geplante, systematisch durchorganisierte Fabrik in Leverkusen hin, ohne jedoch das altruistische Grundempfinden und die innere Überzeugung Duisbergs zu vernachlässigen. Betriebliche Sozialpolitik hatte nach Mittag also ein Doppelziel: die wirtschaftliche Situation der Beschäftigten zu verbessern, zugleich aber auch den unternehmerischen Erfolg zu sichern und zu steigern. Mittags Forschungsergebnis widerspricht immer noch kursierenden Pauschalurteilen über betriebliche Sozialpolitik. Ein wenig verwundert freilich, dass ein weiterer Motivstrang betrieblicher Sozialpolitik im Kaiserreich kaum erwähnt wird: Hatte Bayers Sozialpolitik nicht auch überbetriebliche gesellschaftspolitische Ziele und Funktionen? Konkret: Ging es nicht auch darum, die Sozialdemokratie einzudämmen?

Echte institutionalisierte Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer strebte Duisberg nie an. Er arrangierte sich aber nach 1918 sehr schnell mit den neuen gesetzlichen Gegebenheiten, auch weil es gewisse Anknüpfungspunkte zum Verwaltungsmodell „seiner“ Wohlfahrtseinrichtungen gab. Wie sich betriebliche Sozialpolitik und Mitbestimmung im Bayer-Konzern bis in die frühen 1960er-Jahre fortentwickelten, stellen fünf weitere wissenschaftliche Aufsätze vor. Hans-Hermann Pogarell und Michael Pohlenz beschreiben faktengesättigt den Weg der betrieblichen Sozialpolitik von Improvisation und Mangelverwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum systematischen Wiederaufbau der „Wohlfahrtseinrichtungen“. Werner Plumpe behandelt Aufstieg und Fall institutionalisierter Mitbestimmung bis in die Zeit des „Dritten Reiches“, während Valentina Maria Stefanski schwerpunktmäßig über den Einsatz von (polnischen) Zwangsarbeitern berichtet. Kirsten Petrak widmet sich den Jahren vor und nach der Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes (1952) und akzentuiert einen persönlichen Faktor für die „gute“ Umsetzung der Mitbestimmung bei Bayer: das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Betriebsratsvorsitzenden Walter Hochapfel und dem Vorstandsvorsitzenden Ulrich Haberland. Ruth Rosenberger schließlich kommt zu dem Fazit, seit den 1990er-Jahren seien die Handlungsspielräume der einzelnen Beschäftigten gewachsen und deren direkte Beziehungen zur Geschäftsleitung für die Ausgestaltung von Mitbestimmung bedeutsamer geworden. Einem allgemeineren Aspekt, nämlich dem Arbeitgeberverband der Chemieindustrie und der besonderen Form der Tarifpartnerschaft nach dem großen Arbeitskampf von 1971, nimmt sich Walther Müller-Jentsch aus soziologischer Sicht an.

Fast die gesamte restliche Hälfte des Bandes stammt von den „Praktikern“. Der Fokus ihrer Beiträge liegt auf der jüngsten Vergangenheit. Das Themenspektrum ist vielfältig und deckt zahlreiche Aspekte von Mitbestimmung ab: die Einbeziehung der Angestellten und der Leitenden Angestellten, die Jugendvertretungen, die ausländischen Arbeitnehmer, die Frauenarbeit, Kulturarbeit, den Europäischen Betriebsrat und das Bayer-Europa-Forum. Mitherausgeber Karl-Otto Czikowsky stellt die Betriebsratswahlen und die handelnden Akteure seit Ende des Zweiten Weltkrieges vor, und Erhard Gipperich gibt einen anschaulichen Bericht aus seinem Alltag als Betriebsratsvorsitzender.

Ganz überwiegend zeichnen die „Praktiker“ die jüngere Geschichte der Mitbestimmung im Bayer-Konzern als Erfolgsgeschichte. Das wirkt gelegentlich ein wenig eindimensional, und auch in den „historischen“ Beiträgen hätte man sich gewünscht, den spätestens seit den 1970er-Jahren zu beobachtenden fundamentalen Wandel betrieblicher Sozialpolitik und innerbetrieblicher Mitbestimmung konkreter zu benennen und zu reflektieren. Die mannigfaltigen Ursachen für diesen Wandel – beispielsweise der Trend zur individualisierten Freizeitgesellschaft, die Vergrößerung der materiellen Gestaltungsspielräume der Beschäftigten, Rentabilitätsüberlegungen, Wettbewerbsdruck und ökonomische Strukturkrisen – kommen zu wenig zur Sprache. Wenn davon die Rede ist, „eine neue Zeit“ habe begonnen (S. 281), erwartet man tiefergehende Information.

Dass die Darstellung der hier vertretenen „Praktiker“ von anderen Zeitzeugen und Beteiligten an der einen oder anderen Stelle nicht geteilt werden mag, bedarf keiner näheren Begründung. Die Sicht der Arbeitgeber, der Eigentümer und leitenden Manager des Konzerns wird in dem Sammelband lediglich durch ein Interview mit Werner Wenning, dem derzeitigen Vorstandsvorsitzenden der Bayer AG, repräsentiert. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass der Band erfolgreich versucht, auch die Perspektive der nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten immer wieder aufzugreifen und Konflikte innerhalb des Betriebsrates keineswegs ausspart. Das Buch ist also keinesfalls betriebs- oder besser gewerkschaftsblind: In einem fast dreißigseitigen Beitrag stellt Stefan Moitra die „oppositionelle Betriebsratsarbeit“ und die teils tiefreichenden Konflikte innerhalb der Arbeiterbewegung analytisch und auf breiter Quellengrundlage dar.

Noch einige Worte zu formalen Dingen: Die Auswahlbibliographie ist höchst sinnvoll, obwohl man sich über das ein oder andere Auswahlprinzip streiten könnte. Unbedingt hilfreich ist der tabellarisch-statistische Anhang. Das Autorenverzeichnis ist nicht vollständig. Der fast 500 Seiten starke Band ist reich und teils großformatig bebildert, und die Qualität des Druckes ist durchweg ausgezeichnet. Die Eigenschaften des Papiers und die Typografie erschweren jedoch leider die Lesbarkeit, und viele Abbildungen wirken eher willkürlich eingestreut. Man vermisst häufig den Bezug zum Text. Sehr ernst genommen wird das Foto als Quelle allerdings in dem Beitrag von Valentina Stefanski (S. 133, Anm. 53 beispielsweise mit entsprechender kritischer Einordnung).

Diese erbsenzählerischen Einwürfe sollen den positiven Gesamteindruck des Bandes aber nicht verwischen. Letztendlich ist es sehr lohnenswert, den Wert und Nutzen von Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern darzustellen, deren Entwicklungsfaktoren über mehrere Jahrzehnte hinweg zu analysieren, die dahinter stehenden Interessen klar zu benennen, Belastungen nachzuweisen und die mannigfaltigen Verknüpfungen mit allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Prozessen zu erklären. So konkret, so anschaulich und so sorgfältig wie in der vorliegenden Mikrostudie zu Bayer ist dies zuvor selten geschehen. Dass sie erscheinen konnte, ist nicht zuletzt der Unterstützung durch die Bayer AG und die Hans Böckler-Stiftung zu verdanken. Auch dabei stimmte die Chemie.

Anmerkung:
1 Dagegen gibt es für andere Chemiekonzerne bereits umfassende Darstellungen, vgl. beispielsweise Abelshauser, Werner (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002.

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