Chr. Müller-Goldingen: Xenophon

Cover
Titel
Xenophon. Philosophie und Geschichte


Autor(en)
Müller-Goldingen, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
132 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burkhard Meißner, Institut für Geschichtswissenschaften, Universität der Bundeswehr Hamburg

Christian Müller-Goldingen stellte seine Auseinandersetzung mit dem Denken des Sokratikers, dessen literarische Wirkung immer im Schatten Platons stand, unter zwei Stichworte, die wesentliche Inhalte des xenophontischen Werkes charakterisieren: Müller-Goldingen betrachtet Xenophon (um 430-350 v.Chr.) als Geschichtsschreiber, Philosophen und Theoretiker des Staates und des Herrschens. Als Geschichtsschreiber setzte Xenophon das Werk des Thukydides fort und gehört dadurch zur Generation derer, die en passant aus der Gattung der historischen Kriegsmonografie die fortlaufende Geschichte als literarische Gattung entstehen ließen. Xenophon war nun tatsächlich aber auch Anderes: Er war Abenteurer, Militärkommandeur, Jäger und Jagdschriftsteller, nicht zuletzt Kavallerist und Verfasser praktisch-technischer Schriften über die Kavallerie und das Reiten, über Wirtschaft und Hauswirtschaft. All dies tritt bei Müller-Goldingen zurück hinter der Analyse seines Denkens als Philosoph und Staatstheoretiker; auch seine Geschichtsschreibung wird weniger beleuchtet als – soweit möglich – in den Rahmen und zwischen die Eckpunkte seiner philosophischen Theorie gestellt, die Müller-Goldingen sorgfältig analysiert.

Das erste Kapitel bzw. die ersten 18 Seiten sind den Phänomenen von Macht und Herrschaft gewidmet. Müller-Goldingen beschreibt, inwiefern im griechischen philosophischen Denken der klassischen Zeit Genese und Legitimität von Macht und Herrschaft identifiziert wurden. Die Pointe dieses Gedankens lautet: Herrschaft, die auf den Konsens der Beherrschten gegründet ist, entsteht und besteht mit höherer Wahrscheinlichkeit als illegitime Machtausübung. Als Herrschen über Freiwillige (ethelonton archein) hat Hans Rudolf Breitenbach in seinem grundlegenden Lexikonbeitrag Xenophons Herrschaftsideal erfasst1, und Müller-Goldingens Darstellung zeichnet dieses Bild treffend nach. Xenophon spricht Sokrates vom Vorwurf der Gottlosigkeit (Asebie) frei, dessentwegen er hingerichtet wurde (S. 19-28); er schreibt Sokrates eine Auffassung von den Wissenschaften zu, die diesen – gemessen an weiteren Werten und religiösen Überzeugungen – einen nur relativen Wert zumisst (S. 29-36): Müller-Goldingen behandelt Xenophon als kongenialen Sokratiker neben seinem in der literarischen Tradition wirksameren Kollegen Platon und fragt zielgerichtet die Elemente unseres platonisch geprägten Sokratesbildes daraufhin ab, inwiefern Xenophons in diesem Zusammenhang oft etwas vernachlässigte Werke dieses plastischer zu zeichnen helfen.

Entscheidende Beobachtungen enthält das Kapitel über Xenophons Darstellung von Sokrates als Dialektiker (S. 37-44). Das für die Philosophiegeschichte wirksame Bild der Dialektik ist geprägt worden durch Platons Dialoge.2 Müller-Goldingen führt die berühmte Partie aus den "Memorabilien" an, in der Sokrates die von Sophisten wie Dionysodoros angebotenen Lehre der Strategie befragt auf Inhalt, Wert und Bedeutung hin, den Gesprächspartner die mangelnde Reichweite einer sich auf "Taktik" beschränkenden "Strategie" erkennen lässt und sich so als der wahre Wahrer athenischer Interessen erweist (Xenophon, Memorabilia III 1), um die apologetische Intention deutlich werden zu lassen, die Xenophons Darstellung der sokratischen Fragekunst bestimmt. Auch die "Kyropädie" (S. 45-50) liest Müller-Goldingen als "sokratischen" Text, der die praktisch-politische Bedeutung einer dialektischen Auseinandersetzung mit den Traditionen der politischen Theorie deutlich machen soll. Das positive Bild des spartanischen Erziehungsstaates (S. 51-56) sei in diesem Sinne nicht als xenophontisches Vorbild, sondern als Gegenbild zur freiheitlichen Prägung der athenischen Bildungstradition zu verstehen. Müller-Goldingen interpretiert Xenophon also als Dialektiker im Sinne Platons; auch Xenophons Verhältnis zu Veränderung und Fortschritt sei durch eine dialektische, Tradition und Fortschritt jeweils aufeinander beziehende Einstellung gekennzeichnet (S. 57-66).

Als Problem behandelt wird auch Xenophons Einstellung zum Verhältnis von Theorie und Praxis (S. 67-76): zu einem Problem also, das in seiner verschärften Form als Grundsatzfrage erst die neuzeitliche Philosophie kennt, und das die antike Philosophie als Frage der Höherbewertung zweier Lebensformen diskutierte. Xenophon, so Müller-Goldingen, vertrete einen Utilitarismus des Wissens, und er habe mit der "Kyropädie" eine Monarchiekonzeption vorgelegt, die weit in die hellenistische Epoche vorausweise. In diesem Zusammenhang wird Selbstbeherrschung als Voraussetzung der Fremdbeherrschung als sokratisches Ideal erkannt (S. 77-83) und die Rolle von Tugenden und Werten allgemein verfolgt (S. 84-94). Willensstärke wie Fähigkeit zum Ausgleich, Gerechtigkeit, Freundschaft usw. – Müller-Goldingen zeichnet Xenophons Ethik als eine solche, die im Kern dialektischen Charakters ist, weil sie "teilweise sehr individualistisch, zum Teil aber auch sehr staatsorientiert war" (S. 93).

Die Staatstheorien, das heißt Monarchietheorien des Hellenismus kurz skizzierend, schreibt Müller-Goldingen Xenophon, vor allem seiner „Kyropädie“, eine größere Rolle für die Ausformung dieser Theorien zu als Platons Philosophie sie ausgeübt haben kann (S. 95-109). Den Herrscher als Euergeten zu verstehen und Euergetismus von ihm zu erwarten und das paternalistische Modell des Herrschers seien direkt auf Xenophon zurückzuführen. Dieses Werk, die „Kyropädie“, stehe im Kern einer zumeist unterschätzten Wirkungsgeschichte, die aus dem Philosophen den Historiker und vernachlässigbaren Sokratiker machte (S. 110-119). Wie die besprochenen einzelnen Kapitel, so ist auch der kurze Forschungsüberblick (S. 120-124) recht knapp geraten und reißt mehr an als dass er beschreiben könnte. Müller-Goldingens Buch regt an, weiter zu lesen und die knapp zusammengefassten Motive der xenophontischen Schriften (S. 125-130) weiter zu verfolgen.

Das Buch ist nützlich und wertvoll als Einleitung in die Beschäftigung mit dem Autor. Als solche muss sie sich vergleichen lassen mit älteren Einführungen, wie der von Rainer Nickel oder der von John K. Anderson.3 Beide verfolgten ähnliche Motive und Themen. Die Diktion des Buches von Nickel ist knapper, dadurch übersichtlicher und vollständiger dokumentiert durch Paraphrasen und wörtliche Zitate, das Buch von Anderson ist stilistisch intensiver durchgestaltet. Müller-Goldingen stellt diesen Einführungen nun eine neue an die Seite, die deutlicher als die älteren Xenophon als Philosophen vorführt und die Xenophons politische Urteile (z.B. über Sparta) in diesen Kontext stellt.

Anmerkungen:
1 Breitenbach, Hans Rudolf, s.v. Xenophon, RE IX A 2, Stuttgart 1967, Sp. 1567-2052, besonders 1744ff.
2 Vgl. Bubner, Rüdiger, Dialog und Dialektik oder Plato und Hegel, in: ders., Zur Sache der Dialektik, Frankfurt am Main 1980, S. 124-160; Gadamer, Hans-Georg, Hegel und die antike Dialektik (1961), in: ders., Gesammelte Werke 3, Tübingen 1987, S. 3-28.
3 Nickel, Rainer, Xenophon, Darmstadt 1979; Anderson, John K., Xenophon, London 1974.

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