W. Hofmann u.a. (Hrsg.): Fürsorge in Brandenburg

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Titel
Fürsorge in Brandenburg. Entwicklungen - Kontinuitäten - Umbrüche


Herausgeber
Wolfgang, Hofmann; Hübener, Kristina; Meusinger, Paul
Reihe
Schriftenreihe zur Medizingeschichte 15
Erschienen
Berlin 2007: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Universität Siegen

Als Fürsorge werden – dem im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff der Armenfürsorge entlehnt – in Deutschland Hilfeleistungen bezeichnet, die Not leidenden Menschen durch private und/oder öffentliche Einrichtungen gegeben werden. Das Zusammenwirken der privaten und öffentlichen Träger stellt dabei bis heute ein Grundprinzip der Sozialen Arbeit dar. Die Aufgabe, Bedürftige mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, wenn sie dazu selbst nicht in der Lage sind, ist somit zwischen Staat und Zivilgesellschaft aufgeteilt. Während der Begriff der Fürsorge als übergeordnete Bezeichnung der Hilfen in der Weimarer Republik durch den Begriff der Wohlfahrtspflege und später durch den Begriff Sozialarbeit (heute: Soziale Arbeit) ersetzt worden ist, hat er sich in den Spezialbereichen lange Zeit erhalten: z.B. in der Familienfürsorge, Jugendfürsorge, Säuglingsfürsorge, Gesundheitsfürsorge, Wohnungsfürsorge, Betriebsfürsorge, Erwerbslosenfürsorge oder Flüchtlingsfürsorge.

Insgesamt sind die sehr vielfältigen und wechselhaften Bezeichnungen in der Sozialen Arbeit weder logisch noch systematisch zu begründen, sondern nur historisch abzuleiten. Deshalb ist die historische Rekonstruktion der Sozialen Arbeit sowohl im Bereich allgemeiner disziplin- und professionsgeschichtlicher Darstellungen 1 ebenso wie im Bereich regionalhistorischer Studien 2 auch immer eine Beschäftigung mit der Bedeutung und Zuordnung bestimmter Begriffe und Bezeichnungen.

Die Publikation zur Geschichte der Fürsorge in der Region Brandenburg-Berlin von Hofmann, Hübener und Meusinger macht da keine Ausnahme, allerdings präsentiert sie durch die Betonung des eher ungebräuchlichen Begriffs der Daseinsfürsorge eine Besonderheit. In seinen einleitenden Worten stellt Wolfgang Hofmann die Daseinsvorsorge der Fürsorge gegenüber: Soziale Fürsorge wird als "Hilfe für einzelne Hilfsbedürftige" und öffentliche Daseinsfürsorge als "Vorsorge für die Lebensbedingungen aller" (S. 46) definiert. Damit grenzt er – wie üblich und angemessen – die Leistungen der Sozialpolitik und Sozialversicherung (Daseinsfürsorge) von den Hilfen der Sozialen Arbeit (Fürsorge) ab – ohne allerdings seine spezifische Wortwahl einer systematischen oder regionalen Begründung zu unterziehen.

In siebzehn Aufsätzen von zwanzig meist geschichtswissenschaftlich qualifizierten Autorinnen und Autoren werden diese beiden Begriffe – unterschiedlich akzentuiert – aufgenommen. Dabei stehen überwiegend medizinische Aspekte der Fürsorge im Vordergrund. In der Rubrik 'Institutionelle Vorläufer einer modernen Sozialfürsorge' werden folgende Einrichtungen vorgestellt: Der Umgang mit psychisch Kranken im strafrechtlichen Kontext, Arbeitshäuser und Heil- und Pflegeanstalten für "Unruhige und Kriminelle", Hebammenlehranstalten in Frankfurt/Oder bzw. Lübben und die Anfänge der Schwangerenberatung in Neukölln, "Krüppelfürsorge" und christliche Erziehung von Körperbehinderten, staatliche und kommunale Gesundheitspflege (einschließlich Tuberkulose-, Geschlechtskranken- und Trinkerfürsorge) sowie Fürsorgeerziehung von "auffälligen" Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendpsychiatrie). In der Darstellung dieser Fürsorgebereiche geht es – mit Detlev Peukert gesprochen – immer wieder um Sozialdisziplinierung 3 sowie um 'Auslese' und 'Ausmerze', aber auch um die Modernisierungsprozesse, welche die Fortschritte der medizinischen Behandlungsmethoden im 20. Jahrhundert geprägt haben.

Einige dieser Themen werden im folgenden Kapitel, das der konfessionellen, freien und privaten Fürsorge gewidmet ist, wieder aufgenommen. Neben der Darstellung der Vielfalt konfessioneller Fürsorge und Stiftungen sei auf zwei bemerkenswerte Beiträge von Annette Hinz-Wessels hingewiesen: Zunächst stellt sie die Geschichte jüdischer Wohlfahrtseinrichtungen des 1924 gegründeten Provinzialverbandes Brandenburg für jüdische Wohlfahrtspflege dar. Zu dem auf Initiative der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (heute: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) entstandenen Verband gehörten unter anderem ein Hospital in Frankfurt/Oder und mehrere Altersheime. Hinz-Wessels erinnert besonders an die Geschäftsführerin des Verbandes Hildegard Böhme, die 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet wurde, an das Jüdische Erziehungsheim in Lehnitz, die Israelitische Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder in Behlitz, die Jüdische Fürsorgeerziehungsanstalt in Wolzig 4 und das Jüdische Kinderlandheim in Caputh. 5 Die Existenz dieser Heime endete mit ihrer gewaltsamen Auflösung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938 bzw. – wie im Fall der Beelitzer Einrichtung – mit der Deportation der Bewohner 1943. Anhand dieser Beispiele verdeutlicht sie die unmenschlichen Bedingungen, die das Ende der jüdischen Wohlfahrt herbeiführten und deren Vermögen vom Reichsfinanzministerium übernommen wurde.

In dem anderen Beitrag geht Hinz-Wessels auf den Strafprozess gegen Erzieher der evangelischen Erziehungsanstalt Waldhof-Templin der Inneren Mission aus dem Jahr 1932 ein. In dem von Pfarrer Heinrich Grüber geleiteten Heim war es zu körperlichen Misshandlungen der Zöglinge durch unqualifizierte 'Erzieher' gekommen. Auch der Leiter selbst hatte keine pädagogische Ausbildung und keine Erfahrungen im Umgang mit Fürsorgezöglingen. Der Skandal 'Waldhof-Templin' ist im Zusammenhang zu sehen mit ähnlichen Ereignissen dieser Jahre. Vorausgegangen waren das 1929 publizierte Buch 'Jungen in Not' von Peter Martin Lampel, der als Hospitant in der Erziehungsanstalt 'Struves Hof' bei Berlin Erlebnisberichte von Fürsorgezöglingen gesammelt hatte. 6 Auf diesem Buch beruhte das damals viel diskutierte Theaterstück 'Revolte im Erziehungshaus'. Große mediale Aufmerksamkeit fanden ebenso zwei 1930 stattgefundene Prozesse um das Landerziehungsheim Scheuen der Stadt Berlin und die Erziehungsanstalt Rickling 7 in Schleswig-Holstein. Ausgelöst wurde der 'Fall Waldhof-Templin' drei Tage nach dem Urteilsspruch im Scheuen-Prozess durch die kommunistische Tageszeitung 'Berlin am Morgen' vom 27. Juni 1931. Es war nicht das erste Mal, dass die Anstalt wegen fragwürdiger Erziehungsmethoden öffentlich kritisiert wurde. Der Prozess gegen die acht Erzieher endete mit Geldstrafen wegen Körperverletzung und einer Haftstrafe wegen 'Verbrechens gegen die Sittlichkeit' von einem Jahr Gefängnis.

Der letzte Abschnitt des Sammelbandes geht mit dem Thema 'Das Soziale im Wandel' auf die geschichtlichen Kontinuitäten und Veränderungsprozesse unter den unterschiedlichen politischen Bedingungen in Brandenburg zwischen Weimarer Republik, NS- und DDR-Zeit ein. Die besonders aufschlussreiche Darstellung von Marcel Boldorf zeigt anhand der Brandenburger Statistiken, wie sich die Umsetzung der unterschiedlichen sozialpolitischen Vorgaben ausgewirkt hat. Dabei stehen vor allem die ideologischen Unterschiede zwischen den bedürfnisorientierten Hilfeprinzipien der Weimarer Republik und den restriktiven Strategien der NS-Volkswohlfahrt im Vordergrund. Sehr deutlich werden auch die Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Abbau sozialer Unterstützung und dem Bruch, den die DDR mit der Professionalisierung vollzog. Trotzdem kann Boldorf auch auf Kontinuitäten aufmerksam machen: "Aus der Perspektive der brandenburgischen Unterstützten erfuhr die Fürsorge von 1920 bis 1952 in dreifacher Hinsicht nur geringfügige Änderungen" (S. 410) – in Bezug auf die niedrigen Richtsätze, den Zwang zur Arbeit und den großen Einsatz Ehrenamtlicher in der 'Außenfürsorge'. Vor allem durch diesen Beitrag erfüllt der Band seinen Anspruch, mit regionalem Datenmaterial die grundsätzliche Diskussion über die Kontinuitäten und Brüche der Geschichte Sozialer Arbeit im 20. Jahrhundert zu bereichern.

Ein ausführliches Personenregister – leider aber kein Ortsregister und kein Sachregister – runden den bedauerlicherweise mit vielen Rechtschreibfehlern gespickten wichtigen Band ab. Zukünftige Forschungen zu den noch vorhandenen Leerstellen, wozu Untersuchungen zur lokalen Geschichte und biographische Studien gehören, können an dieses Werk anknüpfen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Hering, Sabine; Münchmeier, Richard, Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, 4. Auflage, Weinheim 2007; Sachße, Christoph; Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, 2., verbesserte und erweiterte Auflage Stuttgart 1998; Dies., Band 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988; Dies., Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 3, Stuttgart 1992.
2 Vgl. z.B. Hüppe, Barbara; Schrapper, Christian (Hrsg.), Freie Wohlfahrt und Sozialstaat. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband in Nordrhein-Westfalen 1949-1989, Weinheim 1989.
3 Peukert, Detlev, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986.
4 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Studie von Prestel, Claudia, "Jugend in Not": Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft (1901-1933), Wien 2003, S. 313ff.
5 Vgl. Feidel-Mertz, Hildegard; Paetz, Andreas, Ein verlorenes Paradies. Das Jüdische Kinder- und Landschulheim Caputh (1931-1938), Frankfurt am Main 1994.
6 Vgl. Lampel, Peter Martin (Hrsg.), Jungen in Not. Berichte von Fürsorgezöglingen, Berlin 1929.
7 Vgl. die aktuelle Studie von Banach, Sarah, Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930. Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand, Opladen 2007.

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