Titel
Flexible Biografien?. Horizonte und Brüche im Arbeitsleben der Gegenwart


Herausgeber
Seifert, Manfred; Götz, Irene; Huber, Birgit
Erschienen
Frankfurt am Main u.a. 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ulrike Richter, Universität Marburg

Die kulturwissenschaftliche Arbeits- und Organisationsforschung wird maßgeblich durch die Aktivitäten der Kommission „Arbeitskulturen“ der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde geprägt. Der jetzt vorliegende Band versammelt Beiträge, die anlässlich der vierten Tagung dieses Netzwerks 2005 in Passau zur Diskussion gestellt worden waren.1 Die darin versammelten zehn Aufsätze sind drei Themenblöcken zugeordnet: „Lebensperspektiven im Gefolge sich wandelnder Arbeitsbedingungen“, „Umgang mit flexibilisierenden Beschäftigungsformen“ und „Transformationserfahrung und Lebenszufriedenheit“. Der erste wird mit einem kurzen Überblicksartikel von Irene Götz, der zweite von Birgit Huber und der dritte von Michael Hofmann eingeleitet. Der Schwerpunkt wird dabei darauf gelegt, diejenigen Aspekte herauszuarbeiten, die die Aufsätze verbinden. Allem vorangestellt ist eine Einleitung von Manfred Seifert, die ebenso Auskunft gibt über die Ziele und die Fragestellungen der Tagung wie über Forschungsdesiderate. Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, die kulturwissenschaftliche Forschung zu Biografie und Arbeit zu charakterisieren, wie sie sich in diesem Band darstellt. Besonderes Augenmerk lege ich dabei auf den Zuschnitt der besprochenen empirischen Studien, um daran anschließen einige Vorschläge zur weiteren Erforschung dieses Themenfeldes zu präsentieren.

Der Buchtitel „Flexible Biografien?“ enthält eine Anspielung auf Richard Sennett 2, der dem „flexiblen Menschen“ Ende der 1990er-Jahre einen viel beachteten Essayband widmete. Aber im Unterschied zu Sennett gibt sich der Tagungsband weitaus vorsichtiger; die Diagnose von der zunehmenden Flexibilität des „Arbeitslebens der Gegenwart“ – so der Untertitel des Tagungsbandes – wird als zu überprüfende Arbeitsthese formuliert. Anders als Sennett, der die derzeitige Arbeitswelt als Komplex von Zwängen beschreibt, die auf die arbeitenden Menschen wirken, werden in den Beiträgen die Vielschichtigkeit und die Ambivalenz des Vorgefundenen betont. Die Ablösung fordistischer durch postfordistische Produktionsverhältnisse wird weder als allumfassende Einengung der Handlungsspielräume von Subjekten, noch als deren uneingeschränkte Selbstermächtigung gedeutet. Vielmehr wird die Gleichzeitigkeit beider Tendenzen beschrieben. Der Handlungsspielraum wird jeweils für die im Fokus stehenden sozialen Gruppen ausgelotet. Eine verallgemeinernde Beurteilung 'der Arbeitswelt' wird auf diese Weise vermieden.

Abgesehen von diesem markanten Unterschied zwischen den beiden Publikationen gibt es aber auch eine verbindende Gemeinsamkeit, denn die grundsätzlichen Fragen, denen Sennett in seinem Buch nachspürt, bestimmen auch die Programmatik des Tagungsbandes. Gefragt wird hier wie da nach den Auswirkungen, die die Veränderungen der Arbeitswelt für die Arbeitenden haben: Welche konkreten Erfahrungen machen sie in ihrem Arbeitsalltag, wie gehen sie damit um und welche Handlungsstrategien entwickeln sie für sich?

Obgleich mit dieser biografischen Perspektive ein Zugang gewählt wurde, der zunächst die Selbstdeutungen Einzelner in den Mittelpunkt rückt, ist doch der Großteil der Texte nicht ausschließlich als eine Dokumentation lebensgeschichtlicher Details zu lesen. Vielmehr ergänzen alle Autorinnen und Autoren den biografischen Fokus um eine aufschlussreiche Kontextualisierung. Indem Biografien in Beziehung zu spezifischen Institutionen gesetzt werden, z.B. Familie und soziale Netzwerke (Michaela Heid), ökonomisches System (Diana Reiners, Albrecht Witte), ethnische Zugehörigkeit (Carina Großer-Kaya), Arbeitsorganisationen (Sönke Friedreich, Blanka Koffer, Kerstin Pietsch) sowie Leitbilder (Petia Genkova), wird die lebensweltliche Perspektive mit einer übergeordneten Ebene verbunden.

Gelesen werden können die einzelnen Texte auch als Beiträge zu der grundsätzlichen Frage, ob und wenn ja, wie sich die bisherige Leitfunktion der (Lohn-)Arbeit verändert. Erodiert die soziale Bindekraft von Arbeit? Die entsprechende These stellt Irene Götz in ihrem einleitenden Text zur Diskussion. Wird die „vergesellschaftende Kraft“ (S. 26) von Arbeit wegen ihrer Prekarisierung geschwächt oder verfestigt sich ganz im Gegenteil die Bedeutung von Arbeit als sozialer Platzanweiser? Zu dieser zweiten Auslegung kommt Diana Reiners, die sich in ihrem Beitrag damit befasst, wie die „Spirale des sozialen Scheiterns“ (S. 58) entsteht.

Um zu einer Einschätzung der analysierten Tendenzen zu gelangen, erscheint mir die Analyse des hegemonialen Arbeitsparadigmas sinnvoll, für die Klaus Schönberger in seinem Aufsatz die theoretischen Grundlagen erarbeitet. Einige andere Aufsätze nähern sich dieser Frage empirisch, indem aufgezeigt wird, welchen Stellenwert (Lohn-)Arbeit für verschiedene Gesellschaftsangehörige wie SchulabgängerInnen (Michaela Heid), MigrantInnen (Carina Großer-Kaya) oder Ostdeutsche (Sönke Friedreich) hat. Verändern sich die Arbeitsauffassungen arbeitender und (lohn-)arbeitsloser Menschen derzeit tatsächlich signifikant? Für wen bleibt alles (noch) beim Altbekannten? Wo verschieben sich die Grenzen zwischen 'Arbeit' und 'Leben' maßgeblich? Sich diesen Fragen ausführlicher zu widmen, könnte ein Weg sein, der von Manfred Seifert eingangs formulierten Herausforderung gerecht zu werden, „die großen Linien bei Arbeitsauffassung und Lebensführung herauszuarbeiten“ (S. 15) und es nicht bei der – notwendigen – differenzierenden Bestandsaufnahme gegenwärtiger Problemlagen zu belassen.

Vielversprechend ist aus meiner Sicht zudem ein zweiter Fokus, der stärker noch als der auf den Arbeitsethos dem Verwobensein von 'Arbeit' und 'Leben' Rechnung trägt. Es ist die Analyse der Zeithorizonte, die den Sichtweisen und Deutungsmustern der Untersuchungsgruppen zugrunde liegen. Besonders deutlich zeigt sich die Relevanz der zeitlichen Dimension in Diana Reiners Studie; die von ihr beschriebenen 'Punks' richten ihr Leben radikal auf den Moment aus. In abgeschwächter Form zeigt sich das gleiche Phänomen jedoch auch bei den Schülerinnen und Schülern der schweizerischen Klasse, deren Lebensplanung Michaela Heid dokumentiert. Beide Beiträge legen die Vermutung nahe, dass sich die maßgeblichen Zeithorizonte, in denen Menschen ihr Leben wahrnehmen und gestalten, in signifikanter Veränderung befinden. Ein intergenerationaler Vergleich erscheint als besonders geeignet, dieser These empirisch nachzugehen.

Weiterer empirischer Untersuchung wert ist darüber hinaus, so meine ich, das Themenfeld 'Individuum/Kollektiv', insbesondere deshalb, weil sich die kulturwissenschaftliche Arbeitsforschung als „engagierte Ungleichheitsforschung“ (so Götz, S. 28) versteht. Sowohl bei Klaus Schönberger als auch bei Gerrit Herlyn findet dieses Thema Berücksichtigung. Während Schönberger in seinen abschließenden Überlegungen die Gewerkschaften als Adressaten lebensweltlicher Analysen ausmacht und ein Nachdenken über politische, kollektive Aktionsformen anregt, steht bei Herlyn das Spannungsfeld zwischen Individualität und Kollektivität von Beginn an im Mittelpunkt des Interesses. Mit seinem Beitrag belegt er die These empirisch, „dass das individuelle Anerkennen von 'Schuld' und Verantwortung gegenüber kollektiven Erklärungsmustern an Bedeutung stark zunimmt“ (S. 167). Anstatt sich beim Sprechen über Krisenerfahrungen auf strukturelle Faktoren wie z.B. technischen Wandel zu konzentrieren, stellten die Befragten individuelle Eigenschaften wie Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen und deuteten erlebte Krisensituationen positiv um. Der Beitrag von Kerstin Pietsch über Menschen, die ihre Erwerbsarbeit zeitweise zugunsten anderer Tätigkeiten wie Reisen oder Weiterbildung aussetzen, also bewusst Diskontinuitäten in ihrem Leben erzeugen, unterstreicht die Tragfähigkeit diese Lesart.

Die Leser erhalten in den drei kapiteleinleitenden Texten bedenkenswerte Hinweise auf übergreifende Fragestellungen und aufschlussreiche Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen und auch kapitelübergreifend. Die Suche nach verbindenden Momenten erschöpft sich mit den oben kurz erläuterten übergeordneten Fragestellungen zu Arbeitsparadigmen, Zeithorizonten und dem Verhältnis von Individuum/Kollektiv keinesfalls.

Der Tagungsband führt nicht nur explizit, sondern auch implizit einige Forschungsdesiderate vor Augen. Obwohl Seifert in seinem einleitenden Text die Forschungsmethode des Historisierens als Merkmal kulturwissenschaftlicher Beschäftigung mit Arbeit herausstellt, findet sich im Tagungsband kein Beitrag, der diese Perspektive realisiert. Gleiches gilt für die multi-sited-ethnography. Die gendersensible Forschungsperspektive, die Seifert im Einleitungstext als dritten fachspezifischen Zugang akzentuiert, wird meiner Meinung nach nur unzureichend berücksichtigt. Denn in der Mehrzahl der Artikel werden die Forschungsergebnisse nicht nach Geschlecht differenziert vorgestellt, mit zwei Ausnahmen. Blanka Koffer problematisiert die fehlenden Zugänge ostdeutscher Volkskundlerinnen in westdeutsch-männlich dominierte Netzwerke. Albrecht Witte kommt zu dem Schluss, dass die „Partnerressourcen [...] einer der zentralen Erfolgsfaktoren bei Zuerwerbsgründungen“ (S. 137) sind. Interessanterweise finde sich in diesem Bereich ein Modell, welches das klassische Zuverdiener-Modell umkehre; nicht Frauen, sondern Männern komme in seinen Fallbeispielen der zuverdienende Part in der Beziehung zu. Sollte sich die Verallgemeinerbarkeit dieses Befundes erweisen, dann würde dies eine Korrektur des von Günter Voß und Hans Joachim Pongratz 3 vorgeschlagenen Konzepts des Arbeitskraftunternehmers gestatten – eine Figur, welche die beiden Soziologen geschlechtsneutral und nicht als in eine (heterosexuell verfasste) Beziehungsstruktur eingebettet denken.

Abschließend ist zu konstatieren: Der Tagungsband vermag es, neben der Dokumentation von Ausschnitten aktueller kulturwissenschaftlicher Arbeitsforschung wichtige Impulse für zukünftige Forschungsvorhaben zu geben.

Anmerkungen:
1 Voran gingen die Tagung im Jahr 1998, bei der die Umbenennung von „Arbeiterkultur“ in „Arbeitskulturen“ vorgenommen wurde, vgl. Götz, Irene; Wittel, Andreas (Hrsg.), Arbeitskulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation, Münster u.a. 2000 sowie zwei weitere Tagungen 2001 bzw. 2002, die sich mit dem Innenleben der Organisation sowie mit Neuen Medien und Arbeitswelt befassten. Siehe Beck, Stefan; Kaschuba, Wolfgang; Bachmann, Götz (Hrsg.), Das Innenleben der Organisation (Tagung der Kommission Arbeitskulturen), Berlin 2001, nur online verfügbar unter <www.arbeitskulturen.de/texte.htm> (Zugriff: 12.2.2008). Zu Neuen Medien und Arbeitswelt siehe Hirschfelder, Gunther; Huber, Birgit (Hrsg.), Die Virtualisierung der Arbeit, Frankfurt am Main u.a. 2004.
2 Sennett, Richard, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2006 (englischsprachige Erstauflage 1998).
3 Voß, Günter G.; Pongratz, Hans Joachim, Der Arbeitskraftunternehmer, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1 (1998), S. 131-158.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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