W. König: Wilhelm II. und die Moderne

Titel
Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt


Autor(en)
König, Wolfgang
Erschienen
Paderborn 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kohlrausch, Deutsches Historisches Institut, Warschau

„Das Bewusstsein, einen Kaiser zu haben, dem es nicht gleichgültig ist, ob sein Schnellzug 80 oder 82 Kilometer in der Stunde macht, das ist für Menschen, die selbst immer rechnen, wann sie dort sein können und wohin sie alles fahren wollen, ein Gefühl der inneren Gemeinschaft, was doch im Grunde nicht klein zu schätzen ist“, kommentierte die ‚B.Z. am Mittag’ zum Geburtstag Wilhelms II. 1908. Der vielreisende ‚Autokaiser’ erschien bereits zahlreichen Zeitgenossen als entschieden moderner Mensch. In unterschiedlich starken Betonungen findet sich dieses Urteil auch in der historiographischen Auseinandersetzung mit Wilhelm II. Dabei wurde regelmäßig mehr behauptet als belegt.

Wolfgang König, Professor für Technikgeschichte an der TU Berlin, widmet sich nun erstmals systematisch dem Thema „Wilhelm II. und die Moderne“. Dabei behandelt er vorrangig einen Ausschnitt des schillernden Begriffsfeldes Moderne – die „technisch-industrielle Welt“. Die Gliederung erfolgt entlang der – teils erwartbaren – kaiserlichen Aktivitätsfelder: Maritimes, Funk, Luftfahrt, Wasserbau, Technische Hochschulen. Eingerahmt werden diese eher berichtenden Abschnitte durch eine Einführung zur technischen „Sozialisation“ Wilhelms II. und Kapitel zu dessen Interessen, zur Rolle von Industriellen und Ingenieuren als Berater des Kaisers, „Technik in Wilhelms Lebenswelt“ sowie zu deren politischer Dimension.

Geradezu notorisch ist die Leidenschaft Wilhelms II. für alles Maritime, insbesondere den Ausbau der Kriegsmarine. Das „Problem des ‚konstruierenden’ Kaisers“ (S. 25), der eigenhändig Vorschläge für neue Schiffstypen anfertigte, verweist nicht nur auf die Fallstricke des persönlichen Regiments, sondern auch generell auf das Problem der politischen Steuerung technischer Innovationen in einer zukunftsoffenen Situation. Entscheidend ist für König weniger die Frage, ob bestimmte Vorgaben Wilhelms II. technisch vielversprechend oder dilettantisch waren, sondern dass dessen Interventionen den mehr oder weniger rationalen amtlichen Gang der Dinge durcheinanderwarfen und erhebliche Kommunikationsprobleme heraufbeschworen.

In Einzelfällen konnte Wilhelm II. weitreichende technische Weichenstellungen durchsetzen. Dies galt insbesondere dann, wenn der Kaiser auf ausländische Beispiele verwies bzw. von interessierten Parteien mit dem Hinweis auf die nationale Bedeutung einer Angelegenheit ins Spiel gebracht wurde. Dabei war, wie König zeigt, oft weniger die direkte kaiserliche Initiative entscheidend. Es reichte, dass strategisch agierende Unternehmer und Ingenieure sich auf den Kaiser als Parteigänger beriefen und damit den Widerstand staatlicher Stellen verringern oder überwinden konnten. Der Hinweis, Wilhelm II. habe sich ebenfalls einer Sache verschrieben, half aber auch ganz profan bei der Einwerbung von Risikokapital.

Dieses Muster galt auch für die anderen Technikfelder, etwa die eng mit der Schifffahrt verknüpfte Funktechnik. Die Rolle Wilhelms II. bei der Gründung der Telefunken, einem gemeinsam von der AEG und Siemens gegründeten Gegenspieler zur englischen Marconi-Gesellschaft, ist oft überschätzt worden. König macht deutlich, dass es eher die wirtschaftlich-technische Eigendynamik war, die eine Einigung der beiden Firmen erzwang. Wilhelms II. Interesse an der Funktechnik beruhte letztlich – und auch dies stellt König als typisch heraus – auf stark zufälligen und wechselnden Faktoren: Dem Gegensatz zu Großbritannien, persönlichem Interesse an einem deutschen Funknetz aufgrund der eigenen Reisetätigkeit und Kontakten zu wichtigen Akteuren. Adolf Slaby, Professor an der TH Charlottenburg, der die neue Funktechnik für die AEG vorantrieb, bietet hierfür das beste Beispiel. Slaby hatte der Kaiser kennen und schätzen gelernt, als dieser sinnreiche Vorschläge für die Installation elektrischen Lichts im Weißen Saal des Berliner Schlosses gemacht hatte. Da der Habitus des unakademischen Professors, der ein talentierter Wissenschaftspopularisierer war, Wilhelm II. menschlich zusagte, konnte Slaby eine Position einnehmen, die seinen wissenschaftlichen Leistungen kaum entsprach.

In ähnlicher, wenn auch schwächerer Form lässt sich dies auch für den Wasserbau beobachten. Hier stieg Otto Intze, Professor an der TH Aachen, zum entscheidenden Berater des Kaisers auf. Intze profitierte davon, dass Wilhelm II. große Wasserbauprojekte als Vehikel sah, sich in eine Reihe mit seinen herausragenden Ahnen zu stellen und dabei als technisch auf der Höhe der Zeit zu erscheinen. Für den Ruf des durchsetzungsfähigen Hohenzollern nahm Wilhelm II. sogar das Zerwürfnis mit erheblichen Teilen des preußischen Adels über das Mittellandkanalprojekt in Kauf.

Weit entfernt von einem reflektierten Konzept lag Wilhelm II. in diffuser Weise daran, als moderner, zeitgemäßer Monarch zu erscheinen. Neben den genannten Feldern, zu denen vor allem die Luftfahrt und der „Automobilismus“ als öffentlichkeitswirksame Themen hinzukamen, diente Wilhelm II. die Schul- und Wissenschaftspolitik als Profiliierungsfeld. Wilhelm II. positionierte sich früh als Parteigänger des sogenannten Realismus, das heißt der Aufwertung der Oberrealschule und des Realgymnasiums gegenüber dem humanistischen Gymnasium. Diese Mission war ebenso erfolgreich wie das vom Kaiser unterstützte Drängen der Technischen Hochschulen auf das Promotionsrecht und auf Vertretung im Preußischen Herrenhaus. So wichtig diese Akte praktisch und symbolisch waren, darf nicht übersehen werden, dass Wilhelm II. hier einem strukturellen Trend folgte, den grundsätzlich auch die Universitäten nicht mehr in Frage stellten.

Eine elitengeschichtlich interessante Frage ist, inwieweit die gesellschaftlich aufgewerteten Ingenieure dem Kaiser dessen Engagement durch besondere Loyalität dankten – und in letzter Konsequenz eine neue Basis der Monarchie anstelle der zunehmend irritierten alten Eliten bildeten. König beurteilt diese Frage angesichts der Politikferne der Gruppe eher skeptisch. Allerdings sieht er durchaus Indizien für eine spezifische Affinität zwischen technischen Eliten und Monarch. Hemmend wirkte zweifellos, dass Wilhelm II. auch im Umgang mit dieser Gruppe nicht systematisch agierte. Slaby und Intze etwa saßen als Vertrauenspersonen des Kaisers, nicht als Vertreter einer Fachrichtung, in zahlreichen Kommissionen, die sich mit technischen Zukunftsfragen beschäftigten. Für diese Einzelpersonen konnte sich die Nähe zum Thron auszahlen, wie insbesondere die bekannten Beispiele Alfred Krupp, Walter Rathenau (AEG) und Albert Ballin (HAPAG) zeigen. Wirtschaftlichen Vorteilen aus Staatsaufträgen stand dabei allerdings immer das Risiko erratischer Vorschläge entgegen, mit denen sich Wilhelm II. in die laufenden Geschäfte einmischte. Mit zunehmender Internationalisierung galt für die Firmen eine allzu enge Identifikation mit dem Kaiser ohnehin eher als Hemmschuh.

König präsentiert diese Entwicklung wohltuend nüchtern, ohne die teilweise frappierenden Belege – etwa die Tankstellen und Werkstätten, die einzelnen Schlössern angegliedert wurden – als Beweise einer generellen Modernität Wilhelms II. misszuverstehen. Schließlich beschränkte sich die Affinität Wilhelms II. zu modernen Lösungen auf Technik im engeren Sinne. Der Kaiser setzte auf die Themen der Zeit, bestimmte besonders populäre Technikfelder – oft diejenigen, die wie die Luft- und Schifffahrt spektakuläre Bilder lieferten und gleichzeitig mit der engeren Lebenswelt des Monarchen verbunden waren. Das Verständnis Wilhelms II. für den Charakter technischer Entwicklungen war hingegen gering. Kaiserliche Machtworte konnten der Komplexität dieser Prozesse kaum entsprechen. Letztlich zeigten sich auch hier die Aporien des persönlichen Regiments und die charakterliche Überforderung, die John Röhl für die politische Aktivität Wilhelms II. beschrieben hat.

Überzeugend ist schließlich, dass König sich nicht auf die letztlich kaum aussagekräftige Formel eines Kaisers, der sowohl romantisch als auch modern veranlagt gewesen sein soll und hierin irgendwie seiner Zeit geglichen habe, zurückzieht. Wie im politischen Bereich war der Monarch auch bei technischen Projekten als ‚Clearingstelle’ gesucht. Hier boten sich neue Chancen für die Monarchie. Gleichzeitig lag in der Identifizierung der Institution Monarchie mit hochgradig unsicheren Projekten wie etwa dem Zeppelin ein erhebliches Risikopotential. Generelle Probleme einer Technologie- und Industriepolitik potenzierten sich hier, weil negative Folgen nicht in die Anonymität parlamentarischer oder administrativer Prozesse abgeleitet werden konnten.

Zweifellos hatte das stark herausgestellte technische Engagement Wilhelms II. einen bedeutenden symbolischen Effekt in einer Zeit, in der zwar die Entwicklung vom Agrar- zum Industriestaat längst unumkehrbar war, die politischen Debatten dieses Faktum aber noch nicht nachvollzogen hatten. Inwieweit dies zur Modernisierung Deutschlands beigetragen hat, wie König mit Einschränkungen argumentiert, muss angesichts der letztlich doch strukturellen Natur der behandelten Prozesse zurückhaltend beurteilt werden. Die Frage nach einer spezifischen, durch die monarchische Staatsform und deren wilhelminische Ausprägung induzierten technik- und industriepolitischen Entwicklung müsste in weiteren Studien international vergleichend untersucht werden. Sowohl eine kulturell erweiterte Technikgeschichte als auch eine strukturgeschichtlich angelegte Geschichte der wilhelminischen Monarchie wird dabei von den Ergebnissen der so soliden wie anregenden Pionierstudie Königs in erheblichem Maße profitieren.