J. Sémelin: Säubern und Vernichten

Titel
Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien


Autor(en)
Sémelin, Jacques
Erschienen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für INOGS und H-Soz-Kult von:
Mathias Gsponer, Historisches Institut, Universität Bern / Stiftung Universitäre Fernstudien, Schweiz

Seit der polnische Jurist Raphael Lemkin den Begriff Genozid in seinem während des Zweiten Weltkrieges veröffentlichten Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ eingeführt hat, wurde ‚Genozid’ (im Deutschen mit Völkermord übersetzt) zu einem wichtigen Forschungsobjekt. Das dergestalt juristisch geprägte Konzept von Genozid – nichtsdestotrotz eine sehr wertvolle Errungenschaft Lemkins und seiner Nachfolger – ist aber vor allem für die Sozial- und Geisteswissenschaften nicht operabel, da es deren wissenschaftliche Anforderungen nicht erfüllen kann. Dies hat verschiedentlich zu Verwirrung in der Forschergemeinschaft geführt, und es hat zur Folge, dass bis heute keine allgemein akzeptierte Definition von Genozid existiert. Die einzig richtige Definition wird auch in Zukunft nicht gefunden werden – weil es sie aus methodischen Gründen nicht geben kann. Erfreulicherweise beglückt Sémelin den Leser nicht mit einer weiteren neuen Definition. Und allein schon dieser Umstand deutet darauf hin, dass es sich bei 'Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde' um einen äußerst gelungenen Beitrag zur Genozidforschung handelt.

Sémelin hat sich in der Vergangenheit intensiv mit dem Begriff Genozid auseinandergesetzt.1 „Säubern und Vernichten“ ist das Resultat und gleichzeitig auch die Quintessenz seiner bisherigen Beschäftigung mit dem Thema. Hält man sich die zentralen Aussagen von Sémelins früheren Artikeln vor Augen, so ist es keine Überraschung, dass er in seinem neuen Buch zügig auf eine befriedigende Lösung im Definitionswirrwarr hinarbeitet. Ziel bleibt dabei das Herausarbeiten eines Idealtypus von Genozid bzw. das Aufzeigen eines grundlegenden Rasters, welches auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften gewinnbringend einsetzbar ist.

Seltsamerweise hat Sémelins Buch etwas Ermutigendes und Klärendes, obwohl Massaker und Genozide und deren politische Dimensionen im 20. Jahrhundert eigentlich äußerst entmutigend sind. Dies rührt daher, dass „Säubern und Vernichten“ sich in wesentlichen Punkten deutlich von anderen Publikationen der Genozidforschung unterscheidet. Und es ist ein Buch, das mit Weitsicht und Mut geschrieben worden ist. Anders ist es vor allem, weil – wie der Autor auch ausdrücklich betont (S. 13-15) – es sich durch zwei Grundzüge auszeichnet: Erstens ist das Buch keine reine Fallstudie, vielmehr ist es eine vergleichende Analyse von Genoziden auf einer Metaebene. Sémelin ist überzeugt, dass Verstehen immer auch Vergleichen ist – und damit hat er Recht. Zweitens ist es als multidisziplinäre Studie konzipiert – eine Herangehensweise, welche nicht nur profundes Fachwissen und methodische Kenntnisse verlangt, sondern auch ein sehr breites und dichtes Allgemeinwissen und eine aktuelle Übersicht über die Forschungsbeiträge verschiedener Studienrichtungen zum Thema Genozid voraussetzt. Und zu guter Letzt stellt der Autor die Fähigkeit zu synkretistischem Denken unter Beweis, ohne dass er zu banalen Schlussfolgerungen gelangen würde. Weitsichtig und kühn ist das Buch bezüglich des Dreh- und Angelpunktes, auf welchen Sémelin unsere Aufmerksamkeit lenken will: die ,Vernichtungsmacht’ (In der englischen Ausgabe: the power to destroy). Die Vernichtungsmacht als auslösender (oder zumindest stark mitbestimmender) Faktor von genozidalen Prozessen ist wesentlicher Bestandteil der aktuellen Debatte über idealtypische Vorstellungen von Genoziden und die Bedeutung der expliziten Absicht zur Zerstörung und Vernichtung.2 Die Frage, die den Autor umtreibt, ist weniger die nach der Art und Weise wie ein Regime die verfolgte Gruppe eliminiert; er will vielmehr die Frage nach den Beweggründen, nach dem ‚Warum’ beleuchten.

Sémelin beschreibt die Eigenschaften und die Funktionen der Vernichtungsmacht in sechs Kapiteln. Aus methodologischer Sicht ist sein Buch eine exzellente Balance zwischen einer kunstvollen Verstrickung vieler Denkfiguren bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Erklärungsansätzen aus verschiedenen Disziplinen. Dies erlaubt ihm ein Modell zu entwickeln, anhand dessen er die genozidalen Prozesse im Nationalsozialismus, in Ex-Jugoslawien (vor allem bezüglich der Rolle Serbiens) und in Ruanda unter die Lupe nimmt. Indem er sich zuallererst auf die Vorstellungswelten einer breit verankerten Zerstörungs- und Vernichtungswut konzentriert, legt er die Basis für die folgenden Kapitel – eine Basis, die nicht nur für das Buch von großer Wichtigkeit ist, sondern grundlegende Bedeutung für das gesamte Feld der Genozidforschung haben kann. Die Dichte an Ideen und die meisterhafte Darstellung von komplexen Gedankengebäuden im einführenden Kapitel ist mit Sicherheit eine herausragende Leistung der Publikation. Von der Substanz des ersten Kapitels lebt das ganze Buch, von hier bezieht es seine Inspiration. Minutiös identifiziert und entwickelt Sémelin das sogenannte imaginäre Moment (er nennt es auch die ‚Phantasiewelt des Imaginären’) der Vernichtung.3 Sémelin lässt von Beginn weg keine Zweifel aufkommen, dass er überzeugt ist, dass Massaker und Genozide letztlich das schreckliche Ende eines mentalen Prozesses sind. Holzschnittartige Vereinfachungen ablehnend, konzentriert sich der Autor auf die Wirkungsmacht imaginärer Konstrukte (Ideologien) – in meinen Augen ein angemessenes und sinnvolles Vorgehen.

Das kulturelle Medium – in zweifacher Hinsicht – ist Angst. Kollektive Angst einer Gesellschaft, die sich in einer Krise befindet, oder sich einbildet in ernsthafter Bedrängnis zu sein. Wenn Politiker oder andere Führungspersönlichkeiten, die versprechen die Gruppe aus der Krise zu führen, diese kollektiven Emotionen ausnutzen und negative Erfahrungen, die sich im öffentlichen Leben zeigen, auf das angebliche böswillig-überzeichnete Fremde innerhalb der eigenen Gesellschaft (Sémelin nennt diese Figur den ,überflüssigen Anderen’) projizieren, dann wird es gefährlich (S. 45). Zentral in Sémelins Buch ist die Betonung der Rolle der Ideologien. Er identifiziert dabei drei ideologisch eingefärbte Hauptthemen, welche als Leitmotive in den Fällen der Nationalsozialisten, in Ex-Jugoslawien und in Ruanda von großer Wichtigkeit waren: Identität, Reinheit und Sicherheit. Das eigentliche Ziel von Sémelin ist es, aufzuzeigen wie wesentlich diese Themen die Vernichtungsmacht bestimmen.

Nach dem unkonventionellen und aufschlussreichen einleitenden Kapitel dienen die folgenden fünf der detaillierten Untersuchung der intellektuellen Ursprünge besagter Ideologien (Kapitel 2), der Darstellung des internationalen Kontextes in welchem sich die Genozide ereigneten (Kapitel 3), der Übersetzung der mörderischen Absichten in Taten (Kapitel 4), dem Versuch einer Annäherung an die psychischen Verfassungen der Täter (Kapitel 5) und schlussendlich dem Aufzeigen der politischen Instrumentalisierung der Massaker und Genozide in den drei besprochenen Fällen.

Sémelin zeichnet ein Bild des Aufstieges der nationalsozialistischen Ideologie unter Berücksichtigung des Einflusses der wohlbekannten Propheten des arischen Rassenwahns, streicht aber auch die Bedeutung der Medien und der staatlichen Propagandamaschinerie des Dritten Reiches heraus. Interessant ist hierbei die Untersuchung der bewussten Politisierung des Krieges als solcher und der kriegerischen Metaphern, die großen Einfluss auf die damalige öffentliche Diskussion genommen haben. Krieg ist in diesem Umfeld nicht mehr bloß ein Instrument der Politik, um dem Gegner seinen politischen Willen aufzuzwingen, sondern er wird zu einer rassisch legitimierten Kampagne der totalen Vernichtung, geleitet von ideologischen Kriegern (S. 150).

Bei der Betrachtung der Ursachen und der Ausführung des ruandischen Genozides zeigt sich Sémelin verblüfft über die öffentliche Ankündigung der Aktionen durch die Täter und über die Durchführung der Massaker im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Weder versuchten die Täter den Genozid unter Verschluss zu halten, noch wurden sie in ihrem schrecklichen Tun durch die Internationale Gemeinschaft wesentlich behindert. Das ist keine neue Einsicht, aber was diesen Teil erwähnenswert macht, ist die Tatsache, dass Sémelin hier den Zusammenhang zwischen einer kollektiven (internationalen) Indifferenz und der populären Teilnahme der lokalen Bevölkerung an den Massakern deutlich macht (S. 220).

Bei der Analyse des gewaltsamen Auseinanderbrechens von Jugoslawien beschäftigt sich „Säubern und Vernichten“ in erster Linie mit Serbien bzw. dem Aufstieg des großserbischen Traumes von Slobodan Miloševic. Im selben Kapitel widmet sich das Buch einem Thema, das bis dahin ein Schattendasein gefristet hat – und dies sicherlich zu Unrecht. Es beschäftigt sich mit der Frage: Was bringt letztendlich die Täter dazu, den ‚Anderen’ umzubringen? Und was geht während des Mordens im Täter vor? Eine Frage, die mit der Übersetzung des literarischen Werkes „Les Bienveillantes“ von Jonathan Littell auch im deutschsprachigen Raume aktueller denn je ist. Die Ereignisse in Ex-Jugoslawien sind dabei nur die chronologisch präsentesten, die Schlussfolgerungen mögen aber auch Geltung für andere genozidale Massaker beanspruchen. Während es bis dahin in der Forschungsliteratur ab und an Werke gab, die sich mit den Geisteswelten des innersten Führungszirkels der Täter beschäftigten, werden die gewöhnlichen Täter von der Forschung immer noch vernachlässigt.

In Kapitel 6 kommt der Autor auf den Untertitel seines Buches zurück und untersucht die politischen Dimensionen von Massakern und Genoziden. Regierungen spielen dabei genauso eine Rolle wie nicht-staatliche Akteure. Er lokalisiert drei fundamentale Beweggründe: 1) Vernichtung mit dem Ziel der Unterwerfung 2) Vernichtung bis zur Ausrottung und 3) Vernichtung mit dem Ziel der Revolte. Es ist dieses Triumvirat, das eine direkte Verbindung zum einleitenden Kapitel herstellt und das Buch zu einer kohärenten Einheit werden lässt.

„Säubern und Vernichten“ überzeugt durch die gründliche Analyse eines typischen und zentralen Aspektes von Massakern und Genoziden. Sémelins Buch kann ein wichtiger Beitrag zur Schaffung eines methodologischen Idealtypus von Genozid werden. Diese Diskussion, die erst kürzlich und zögerlich in Kreisen der Sozial- und Geisteswissenschaften in Gang gekommen ist, braucht solche Impulse dringend. Daneben ist „Säubern und Vernichten“ ein brillant geschriebenes Werk mit einer beeindruckenden intellektuellen Bandbreite. Es zeichnet sich durch einen unkonventionellen Ansatz aus: Das Buch will keinen Zweifel offen lassen, dass Genozide einerseits immer Teil des internationalen Umfeldes sind und nie isoliert stattfinden. Andererseits bemüht es sich um die Identifizierung der treibenden Kräfte bei genozidalen Prozessen. Das Hauptaugenmerk gilt Sémelin dabei – meiner Meinung nach völlig zu Recht – dem absoluten Willen zur Vernichtung des Andern. Säubern und Vernichten ist ein entscheidender Beitrag zur Genozidforschung im Allgemeinen und zur Erforschung von Tätern und deren Motivation im Speziellen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Sémelin, Jacques, Extreme violence: can we understand it?, in: International Social Science Journal 54 (2002), S. 429-431; vgl. auch ders., From massacre to genocidal process, in: International Social Science Journal 54 (2002), S. 433-442; und vor allem ders., What is genocide?, in: European Review of History 12 (2005), 1, S. 81-89.
2 Siehe beispielsweise: Förster, Stig, Total War and Genocide: Reflections on the Second World War, in: Australian Journal of Politics and History, 53 (2007), 1, S. 68-83, hier S. 72. Wenn ich hier von Vernichtungsmacht spreche, meine ich nicht die Denkfigur der Vernichtung, welche unter anderem von militärischen Denkern im Deutschen Reich vor 1914 entwickelt worden ist um die totale (militärische) Vernichtung des Feindes zu beschreiben. Vielmehr handelt es sich hier um die Idee der vollständigen physischen Eliminierung einer bestimmten Gruppe, ungeachtet dessen, ob es sich um militärische Einheiten oder Zivilisten handelt.
3 Dabei handelt es sich um einen Ausdruck, den Sémelin in der französischen Originalausgabe als auch in der englischen Übersetzung mit dem Begriff ,imaginaire’ wiedergibt. Das ‚Imaginäre’ wird dazu benutzt Gedankenwelten oder Denkfiguren zu beschreiben. Aber es muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Leser an keiner Stelle die Realität und die spezifischen Interaktionen zwischen diesem ‚Imaginären’ und der Realität aus den Augen verlieren soll. Dem Autor ist dies ein Anliegen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem International Network of Genocide Scholars (INOGS). http://www.inogs.com/
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