C. Hoffmann u.a. (Hrsg.): Integration in den modernen Staat

Titel
Die Integration in den modernen Staat. Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert


Herausgeber
Hoffmann, Carl A.; Kießling, Rolf
Reihe
Forum Suevicum 7
Erschienen
Konstanz 2007: UVK Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Furtwängler, Komission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg

Die Integration von Menschen in neue staatliche und gesellschaftliche Verhältnisse und die Neuausrichtung von Identitäten sind Problemstellungen, welche die heutige politisch-gesellschaftliche Diskussion in Deutschland stark prägen. Wie komplex derartige Vorgänge sind, wird an dem vorliegenden Band „Integration in den modernen Staat“ deutlich, mit dem die Ergebnisse einer Memminger Tagung im Jahr 2005 publiziert werden. Im Zentrum des Interesses stehen hier jedoch nicht die gegenwärtigen Integrationsprobleme von Migranten in die deutsche Gesellschaft. Vielmehr ist der Fokus auf die langfristige Vor- und Nachgeschichte der politisch-territorialen Revolution gerichtet, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Untergang des Alten Reiches und vieler seiner Territorien sowie der Etablierung neuer souveräner Staaten in Deutschland ereignete. Ziel von Tagung und Band war es, so die beiden Herausgeber, auszuloten, wie sich tradierte Zugehörigkeiten und die daraus resultierenden Handlungsweisen mit den Erwartungen an den modernen Staat bei den Menschen rieben (S. 14/15). Es galt herauszuarbeiten ob, wie und warum sich die Integration in die neu entstandenen Staaten vollzog, aber auch, was sie hemmte, verzögerte und erschwerte. Dahinter verbirgt sich letztlich dann auch die Frage nach der Ausbildung einer gesamtstaatlichen Identität in diesen neuen Staatsgebilden.

Gegenstand der Betrachtung sind die Regionen Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg, wobei die Mehrzahl der Beiträge den an Bayern gelangten Teil von Schwaben behandelt. Ausblicke nach Vorarlberg und Oberschwaben, bis hin zum Konstanzer Raum runden das Bild ab. Neben Bayern werden also auch die Integrationsbemühungen und -ergebnisse in Österreich, Württemberg und Baden beleuchtet. Mag diese Ausweitung des Blickwinkels auf die Großregion um den Bodensee zunächst verwundern, so erweist sie sich doch als eine der großen Stärken des Buches. Denn dadurch wird eine verengende Betrachtungsweise auf das Binnenverhältnis eines Staates zu seinen neuen Untertanen vermieden, Vergleiche lassen sich herstellen, wenngleich dies leider nicht explizit in einem eigenen Artikel im Band selbst geleistet wird. Dennoch ergibt sich durch die Lektüre ein vielschichtiges Bild sich zum Teil überlappender regionaler Bezüge und Zugehörigkeiten.

Richtungsweisend für die gesamte Fragestellung des Bandes ist bereits der erste Beitrag von Marita Kraus über Herrschaftspraxis und Integrationspolitik am Beispiel Bayerns. Präzise legt sie dar, dass hier für die Integration der neuen Territorien fünf Aspekte von großer Bedeutung waren: die symbolische Herrschaftspraxis der bayerischen Monarchen, die mit der Wiedererfindung der bayerischen Stämme eine wichtige Grundlage für das bayerische Modell schuf; die 1818 erlassene Verfassung, in die der König eingebunden war und die Sicherheit vor Fürstenwillkür bot; die Wandlung der Beamtenschaft von Fürstendienern zu Staatsdienern, wodurch diese mehr und mehr Vorbildfunktion übernahm und zum Träger der kulturellen Entwicklung avancierte; die Belassung des Regionalen, da man in Bayern auf viele Sonderentwicklungen einging. Einzig die wirtschaftlichen Interessen und Hoffnungen der Neubürger konnten erst verspätet befriedigt werden.

Neben diesen allgemeinen Faktoren untersuchen mehrere Beiträge die Mittel und Wege, mit denen die einzelstaatlichen Regierungen und Monarchen versuchten, den Integrationsprozess zu beschleunigen und abzusichern. So analysiert Marianne Sammer die integrative Funktion der Historiographie im bayerischen Königreich. Von Seiten der Monarchie gab es starke Bestrebungen, die Geschichte der neu erworbenen Regionen in eine bayerische Nationalgeschichte einzubetten, die sich an einer altbayerisch geprägten Leitkultur orientierte. Doch dieses vordergründig glatte Geschichtsbild hatte Untiefen, wie Sammer am Beispiel der Region Schwaben zeigen kann. Hier blieb in der Geschichtsschreibung in Bezug auf die größeren Städte im 19. Jahrhundert eine signifikante Differenz zum bayerischen Geschichtsbild bestehen. Ein regionales Eigengewicht förderte in ähnlicher Weise in Vorarlberg die Beschäftigung mit der römischen Vergangenheit der Region, wie Brigitte Truschnegg herausarbeitet. Elisabeth Plössl wiederum geht der integrativen Funktion der wittelsbachischen Trachtenpolitik nach. Stand unter Ludwig I. 1842 vor allem die emblematische Bedeutsamkeit der Tracht und ihre Verwendung als Schaustück bei historischen Aufzügen im Vordergrund, versuchte sein Nachfolger Maximilian II. mittels einer Initiative zur Bewahrung der Trachten in den 1850er-Jahren nicht zuletzt den Staat nach der Revolution von 1848/49 zu stabilisieren. Beide Versuche blieben jedoch ohne nachhaltigen Erfolg – die Trachten verschwanden zusehends. Erst unter den neuen Bedingungen einer mehr und mehr industrialisierten Welt in den 1880er-Jahren begann sich die Tracht auch in Bayerisch-Schwaben als Bekenntniskleid für national-konservative Werte und als Signum einer regionalen Identität neu zu etablieren.

Neben den Mitteln und Wegen einer Integration in die neuen Staaten werden in verschiedenen Beiträgen aber auch die Fallstricke und Schwierigkeiten eines solchen Prozesses untersucht. So skizziert Peter Eitel die Probleme, die sich für Oberschwaben bei der Integration in den württembergischen Staat ergaben. Konfessionelle Unterschiede zu Altwürttemberg, ein Anerbenrecht, das die Zersplitterung des Besitzes der Bauern verhinderte und prosperierende Höfe hervorbrachte, und eine dem württembergischen Pietismus fremde, den Sinnesfreuden offene Lebensart erschwerten die Integration in das neue Staatsgebilde und sorgten für gegenseitige Irritationen. Hinzu kam unter König Friedrich eine rigorose, vor allem den oberschwäbischen Adel hart treffende Unterwerfungspolitik, die viele Wunden hinterließ. Erst unter Wilhelm I. wuchs Oberschwaben in ähnlicher Weise wie Ostschwaben in Bayern in den württembergischen Staat hinein. Wie schwierig die Integration in die neuen Verhältnisse vielen Menschen fiel, veranschaulicht Edith Seidel am Beispiel des Augsburger Arztes Joseph von Ahorner. Für diesen brachte der Übergang seiner Heimatstadt an Bayern vornehmlich den Verlust von Karrierechancen und Verdienstmöglichkeiten, was bei ihm eine nachhaltige Fremdheit gegenüber den neuen Verhältnissen zumindest mitbedingte. Eine Distanz, die sich für Ahorner letztlich nie mehr völlig auflösen ließ.

Integration konnte sich aber auch durch eine Ablehnung des Bestehenden vollziehen, wie Gerd Zang am Beispiel des Konstanzer Raumes deutlich macht. Er kennzeichnet dessen Eingliederung in das Großherzogtum Baden als einen Prozess, der von einer nur verwaltungsmäßig durchgeführten Einbindung und einer gleichzeitigen wirtschaftlichen Desintegrierung der Stadt im Bodenseeraum in den Jahren nach 1806 ausging. Die mentale Integration der Bevölkerung ging letztlich von der Schicht des neuen Bürgertums aus, die sich im Vormärz im Kampf gegen die omnipotente Verwaltung des Großherzogtums und für liberale Veränderungen gewissermaßen negativ integrierte, in dem sie sich zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele mit Gleichgesinnten im Land solidarisierte: Die „Bürger machten Baden zu ihrem Projekt“, so Zang (S. 77). Ein intensives Zugehörigkeitsgefühl habe sich dadurch ausgebildet, wenngleich noch kein Identitätsgefühl. Dieses setzte erst während der liberalen Ära in Baden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und vollzog sich vor allem im Wirtschaftsaufschwung nach 1890. Zang konstatiert dem Großherzogtum abschließend, dass es vor dem Ersten Weltkrieg eine im Kaiserreich einzig dastehende Integrationskraft bewiesen habe, die im Ergebnis sogar über die Existenz des badischen Staates hinausgehen konnte und selbst noch heute Wirksamkeit entfaltet.

Wenngleich in allen untersuchten Regionen die Integration der Menschen in die neuen Verhältnisse letztendlich gelang, selbst eine scheinbar gelungene Integration konnte zeitweise an Kraft verlieren, was Martina Steber in ihrem Beitrag über die so genannte „Mental Map“ bezüglich bayerisch Schwaben konstatiert. Zwar war im Laufe des 19. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zu Bayern immer mehr zur Selbstverständlichkeit geworden. Anhand der Erinnerungskultur (Jubiläen, Monarchengeburtstage, offizielle Feste etc.) stellt sie jedoch heraus, dass dieser Bezug nicht vollkommen war. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 rief Konkurrenz in der Identitätswelt der Bevölkerung Schwabens hervor, ohne jedoch dadurch schon die Zugehörigkeit zu Bayern in Frage zu stellen. Dies geschah in größerem Ausmaß erst nach dem Ersten Weltkrieg als die Monarchie als integrative Klammer wegfiel und gleichzeitig das ethnische Denken, die ethnisch-romantische Vorstellung von der Zugehörigkeit zum Stamm der Schwaben Zulauf erhielt. So konnten 1919 Vorstellungen von einem Großschwaben eine recht große Anhängerschaft gewinnen – wenngleich sich diese Vorstellungen politisch letztlich nicht durchsetzen ließen.

Alles in allem ermöglicht dieser Tagungsband mit seinen 13 Beiträgen einen umfassenden Blick in die Schwierigkeiten und Erfolgsstrategien eines langen historischen Prozesses. Er zeigt Facetten historischen Handelns auf und ermöglicht ein tieferes Verständnis für die Vielschichtigkeit politisch-gesellschaftlicher Identitäten. Dem selbst gestellten Anspruch werden die Beiträge somit durchaus gerecht. Kritisch anzumerken ist, dass einige Beiträge das Tagungsthema etwas zu weit fassten. So ist z.B. der Aufsatz von Paul Hoser über die Rolle der Presse Bayerisch-Schwabens im Integrationsprozess mehr zu einer allgemeinen Pressegeschichte der Region geraten und hätte deutlich kürzer und prägnanter ausfallen können. Doch insgesamt tariert die Fülle gelungener Beiträge diese Unebenheiten aus.