B. Faulenbach u.a. (Hrsg.): "Transformationen" der Erinnerungskulturen

Cover
Titel
"Transformationen" der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989.


Herausgeber
Faulenbach, Bernd; Jelich, Franz-Josef
Reihe
Geschichte und Erwachsenenbildung 21
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schölzel, Culture and more, München

Der vorliegende Sammelband basiert auf den Referaten einer 2005 in Recklinghausen abgehaltenen internationalen Tagung, die sich der Veränderung von Erinnerungskulturen besonders in Ost- und Ostmitteleuropa, aber auch in Westeuropa, seit den Umbrüchen von 1989/90 annahm. Historikerinnen und Historiker aus sechs Ländern lieferten Beiträge zu der Konferenz.1 Der Band, der von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wurde, verbindet in acht Abschnitten mit insgesamt 24 Artikeln komparatistische und nationalgeschichtlich fokussierte Blickweisen.

In einer einleitenden Sektion befasst sich Bernd Faulenbach mit der Fragestellung des Gesamtprojekts. Problematisch erscheint hierbei die arbeitsökonomisch begründete Ausklammerung Südosteuropas (S. 12). Kann man einerseits mit guten Argumenten, wie dies etwa Holm Sundhaussen getan hat, von einer relativen Eigenständigkeit des (erinnerungs-)geschichtlichen Betrachtungsraumes Südosteuropa ausgehen2, so sollte man andererseits das heuristische Potenzial nutzen, welches beispielsweise in einer vergleichenden Sicht auf die sich fragmentierenden multiethnischen Gesellschaften von UdSSR und Jugoslawien und deren Erinnerungslandschaften liegen könnte.

Faulenbach bietet typologisierende Sichtweisen auf Formen des Wandels oder der Beharrung von Erinnerungsmustern, der Kontinuität respektive Diskontinuität ihrer Träger, des Wandels oder Fortwirkens von Repräsentationen hinsichtlich der Täter und Opfer in ihnen sowie der „clashes of memories“. Beim letztgenannten Punkt verweist Faulenbach (S. 19ff.) auf die umstrittene Frage, ob hinsichtlich der Erinnerung an den Holocaust Dan Diners Unterscheidung zwischen „Regime-Verbrechen“ und „nationalen Verbrechen“ greife oder eher Charles Maiers Gegensatzpaar von „heißer“ und „kalter“ Erinnerung. Dabei gibt Faulenbach zu bedenken, ob sich die Erinnerung an stalinistische Verbrechen gegenüber dem Gedächtnis an NS-Massenmorde nicht eher im Prozess einer nachholenden Entwicklung befinde.

Stefan Troebst3 bietet in seinem ausgezeichneten, auf eine umfassende Betrachtung Europas angelegten Text eine weiterführende Typologisierung europäischer Erinnerungskulturen, die einerseits der These eines homogenen europäischen Erinnerns (oder einer stringenten Entwicklung in dieser Richtung) entgegentritt, andererseits jedoch Vergleiche am Maßstab des Wandels und damit konstatierbare Übereinstimmungen ermöglicht.

In einer weiteren Sektion befassen sich Christoph Kleßmann, Hans-Jürgen Bömelburg, Krzysztof Ruchniewicz sowie Claudia Kraft mit Transformationen der polnischen Erinnerungskultur. Es folgen Aufsätze zu Tschechien von Miroslav Kunštát, Hans Lemberg, Jiři Pešek und Michal Kopeček, zu Ungarn von Gerhard Seewann, Éva Kovács und Krisztián Ungváry sowie zum postsowjetischen Russland von Bernd Bonwetsch, Isabelle de Keghel, Andreas Langenohl und Heinz Timmermann. Mit Entwicklungslinien in Westeuropa beschäftigen sich Ulrich Pfeil und Kerstin von Lingen, die Beobachtungen und Thesen zur französischen sowie zur italienischen Erinnerungskultur beisteuern.

Hierauf folgen Texte von Franz-Josef Jelich und Peter Reichel zum deutschen Fall. Die Artikel von Anne Kaminsky und Annette Leo analysieren die deutsche Erinnerungslandschaft vor dem Hintergrund zweier Diktaturen. Kaminsky weist dabei zu Recht auf das im europäischen Vergleich auffällige deutsche Spezifikum hin, dass die Erinnerung an Untaten des Stalinismus und an seine Opfer stets eng mit dem Gedenken an NS-Unrecht verklammert werde (S. 395ff.). Während Faulenbach einen Nachholbedarf bei der Auseinandersetzung mit stalinistischem Unrecht sieht, konstatiert Annette Leo (S. 409) eine Art ostdeutschen Nachholbedarf im kritischen Umgang mit NS-Verbrechen. Hier lässt sich fragen, ob der (zweifelsohne näher zu konturierende) Nachholbedarf nicht als ein gesamtdeutsches Phänomen zu begreifen wäre, berücksichtigt man beispielsweise, dass nicht nur in der DDR, sondern auch in der alten Bundesrepublik – teils bewusst, teils unbewusst – Fixierungen auf bestimmte Opfergruppen bestanden und partiell noch fortwirken.4

Insgesamt bietet der vorliegende Band nicht nur informative Beiträge über nationale Erinnerungskulturen, vor allem in Osteuropa; er verknüpft die Transformationsprozesse zum Ende des Kalten Krieges auch mit Fragen nach Wandlungen in den jeweiligen gesellschaftlichen Erinnerungsdiskursen. Weiterführende Erkenntnisse und Fragestellungen ergeben sich vor allem dort, wo eine komparatistische Perspektive eingenommen wird. Die Ergebnisse der Tagung ergänzen so die Erkenntnisse zum Thema Erinnerung und Gedenken an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in internationaler Perspektive.5 Zugleich ventilieren die Resultate der Konferenz Fragen wie etwa nach europäischen Ost-West-Vergleichen nationaler Erinnerungslandschaften, der Internationalisierung von Erinnerung und einer möglichen historischen Entkontextualisierung im Zuge der Herausbildung vereinheitlichender internationaler Erinnerungsmuster.6

Anmerkungen:
1 Vgl. auch den ausführlichen Tagungsbericht von Christoph Thonfeld: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=741>.
2 Sundhaussen, Holm, Was ist Südosteuropa und warum beschäftigen wir uns (nicht) damit?, in: Südosteuropa-Mitteilungen 42 (2002), 5-6, S. 93-105.
3 Vgl. zum 2006 bis 2008 laufenden DFG-Projekt „Zwischen religiöser Tradition, kommunistischer Prägung und kultureller Umwertung: Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas seit 1989“, das Troebst am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig leitet, seinen Beitrag: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/projekte/id=154>.
4 Niethammer, Lutz, Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen, in: Pehle, Walter H. (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt am Main 1990, S. 114-134.
5 Vgl. etwa Levy, Daniel; Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001; Frei, Norbert; Knigge, Volkhard (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002; Diner, Dan, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003; Knigge, Volkhard; Mählert, Ulrich (Hrsg.), Der Kommunismus im Museum. Formen der Auseinandersetzung in Deutschland und Ostmitteleuropa, Köln 2005; Zimmermann, Moshe, Die transnationale Holocaust-Erinnerung, in: Budde, Gunilla; Conrad, Sebastian; Janz, Oliver (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 202-216; Sachse, Carola; Wolfrum, Edgar; Fritz, Regina (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008.
6 Siehe dazu auch: Cornelißen, Christoph, Europas Gedächtnislandkarte. Gibt es eine Universalisierung des Erinnerns?, in: Frei, Norbert (Hrsg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?, Göttingen 2006, S. 42-49.

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