N. Frei (Hrsg.): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte?

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Titel
Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?.


Herausgeber
Frei, Norbert
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
240 S., 45 Abb.
Preis
€ 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Redaktion Zeitgeschichte-online, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, fragte Friedrich Schiller in seiner Antrittsvorlesung vom Mai 1789 an der Universität Jena. Heutige Historikerinnen und Historiker sind etwas bescheidener: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?“, lautete die Leitfrage bei der Eröffnungstagung des „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“ im Januar 2006.1 Angesichts einer Vielzahl differenzierter Spezialforschungen zum 20. Jahrhundert ist auch dies eine voraussetzungsreiche und anspruchsvolle Frage. Ute Daniel weist in einem Kommentar darauf hin, „dass im zeitgeschichtlichen Kontext noch ein bisschen zu viele Selbstverständlichkeiten darüber bestehen, was das Gegebene der Zeitgeschichte ist, während bei der Geschichtsschreibung der anderen Epochen mittlerweile stärker darüber diskutiert wird, infolge von was etwas zum Gegebenen […] wird“ (S. 123). Der nach der Tagung rasch erschienene Sammelband dient einer solchen Grundlagenreflexion.

Fritz Stern, einer der ersten Gastprofessoren des Jena Center, eröffnet den Band mit Überlegungen zu „Politik und Zeitgenossenschaft im 20. Jahrhundert“. Er betont eine nicht zuletzt durch seine Biographie beglaubigte Ambivalenz: „Das 20. Jahrhundert lastet auf uns allen, wir leben in seinem Schatten und in seinem Schutt. Es hat uns aber auch großartige neue Möglichkeiten eröffnet.“ (S. 14) In fünf Abschnitten finden sich sodann je vier bis fünf Referate und einige Diskussionsbeiträge. Da die einzelnen Referate nur fünf bis maximal neun Druckseiten umfassen, kann es sich lediglich um pointierte Statements für bestimmte Perspektiven auf das 20. Jahrhundert handeln. Beteiligt sind insgesamt 30 Autoren und Kommentatoren (darunter lediglich drei Autorinnen) aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, den USA und Israel. Einfühlsam ergänzt werden die Texte durch Fotos von Naomi Tereza Salmon, die die Tagungsteilnehmer beim Denken, Vortragen und im Gespräch zeigen.

Der erste Abschnitt betrachtet „Gedächtnisgeschichte im Rückblick. Zeitgebundene Reaktion oder gültiges Paradigma?“. Dirk van Laak warnt hier vor „sakrale[n] und banale[n] Gedenkkulturen“: „Eine sich als kritisch verstehende Geschichtswissenschaft droht […] als ‚Spielverderber’ vermeintlich authentischer Erinnerungen marginalisiert zu werden, wenn sie es nicht versteht, sich als eine Metawissenschaft der Erinnerung zu profilieren.“ (S. 39) Auch Volkhard Knigge spricht sich in einem sehr dichten Beitrag für ein Verständnis von Geschichte als „kritische[r] Erinnerung der Erinnerung“ aus (S. 70). Christoph Cornelißen regt an, statt vorschneller Thesen zur „Europäisierung“ oder „Universalisierung“ des historischen Erinnerns erst einmal die zerklüftete „Gedächtnislandkarte“ Europas genauer zu erforschen (S. 42-49). Ebenfalls lesenswert ist Sigrid Weigels Plädoyer, „die Sprache des Unbewussten als Gegenstand einer psychoanalytisch informierten Gedächtnisgeschichte“ stärker zu untersuchen, etwa anhand zu historisierender „Pathosformeln“ wie „Schuld und Scham“ (S. 66).

„Zeitgeschichte als Kulturwissenschaft? Relevanzprobleme und Erkenntnischancen“ heißt das Thema der zweiten Sektion. Hans Günter Hockerts steuert hier eine kleine Polemik gegen eine kulturalistische „Deutung der Deutung von Deutung“ bei (S. 92-98). Die Zeitgeschichtsforschung müsse „gerade auch die schroffen Härten in der Erwerbs- und Sozialstruktur und die ganze Wucht von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Blick behalten“ (S. 95). Andererseits verschließt sich Hockerts kulturgeschichtlichen Impulsen keineswegs, sondern nennt etwa die „Erfahrungsgeschichte des Wohlfahrtsstaats“ als mögliches Bindeglied (S. 97). Eine andere Stoßrichtung verfolgt Lutz Niethammer – aus seiner Sicht war die Disziplin Zeitgeschichte nach 1945 und 1989/90 „eine methodologische Fluchtburg der konservativsten Elemente des deutschen Historismus“ (S. 109). Statt der nach dem Fall der Mauer zunächst vorherrschenden „Aktenguckerei“ sei es nötig, „die DDR-Geschichte stärker mit kulturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, um sie […] ambivalenzfähig zu machen“, also auch die Ebene der Alltagserfahrungen zu integrieren (S. 113f.). Martin Sabrow sieht den Nutzen der kulturgeschichtlichen Perspektive unter anderem darin, dass sie den Blick schärfe für die „großen Pathosformeln, die die Gesellschaften in diesen 100 Jahren [des 20. Jahrhunderts] bewegt haben“ (S. 105). Während Weigel nach den „Pathosformeln der Gedächtnisgeschichte“ fragt (S. 58-66), will Sabrow ‚Gedächtnis’ selbst als Pathosformel historisieren. Ein Mangel dieses Abschnitts ist allerdings, dass – im Gegensatz zum Titel – das Fach Kulturwissenschaft nicht näher einbezogen wird.2

Im dritten Schwerpunkt beschäftigen sich die Autoren mit der so genannten „Neuen Politikgeschichte“. Etwas verdutzt stellt Eckart Conze fest: „Sich als Politikhistoriker zu verstehen, Politikgeschichte zu betreiben, ist kein Stigma mehr.“ (S. 140) Gewinnbringend ist hier vor allem der Beitrag von Ian Kershaw, der voreilige Innovationsbehauptungen in erfrischender Weise aushebelt: „Die ‚Neue Politikgeschichte’ sieht vielfach wie die alte aus. Und das ist auch gut so.“ (S. 148) Der deutschen Neigung zu elaborierten Begriffen kann Kershaw nicht viel abgewinnen: „Eine ‚Neue Politikgeschichte’ kann meinetwegen national, international, übernational, transnational, quernational, re-national, infranational, subnational oder supranational sein. Entscheidend ist nur, ob die Fragestellung trägt, ob sie erfolgversprechend ist.“ (S. 150f.) Als thematische Schneisen schlägt Kershaw vier Dimensionen vor: Utopien, Gewalt, Wohlstand, Technologie (S. 152ff.). Unabhängig davon, ob diese Dimensionen zum Verständnis des 20. Jahrhunderts tatsächlich hinreichend sind, ließe sich daraus ein vielschichtiges Forschungsprogramm ableiten.

Unter der Überschrift „Rückkehr der Geschichte?“ beschäftigen sich die Autoren des vierten Teils mit „Geschichtsdeutungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“. Zu Recht mahnt Norbert Frei gegenüber Formeln wie ‚Ende der Geschichte’ oder aber ‚Rückkehr der Geschichte’ „ein wenig semantische Abrüstung“ an (S. 173). Während Joachim von Puttkamer für Osteuropa die „Vielfalt der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts“ betont (S. 189), exemplifiziert Dan Diner dies für Gesamteuropa anhand der „Gedächtnisikone“ 8. Mai 1945. Die unterschiedlichen historischen Inhalte, die das Datum beispielsweise aus deutscher, baltischer und französischer Sicht symbolisiere, seien „von epistemischer Tragweite“ für die „Reibung der verschiedenen Gedächtniskulturen“ (S. 195). Jeffrey Herf verfolgt sodann die „Hypothese, dass der radikale Islam Elemente des europäischen Faschismus und Nationalsozialismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts fortführt“ (S. 200). Dies muss notgedrungen kursorisch bleiben, doch gibt Herf als einer von wenigen Autoren des Bandes immerhin einen Impuls, der über die europäische und US-amerikanische Geschichte hinausreicht.

„Das 20. Jahrhundert verstehen, erklären und deuten“ wollen die Autoren des abschließenden fünften Teils. Das Saeculum erscheint hier als „amerikanisches Jahrhundert“ (Jörg Nagler), „Zeitalter der Medialisierung“ (Frank Bösch), „jüdisches Jahrhundert?“ (Michael Brenner, bewusst mit Fragezeichen) und „Jahrhundert der Gewalt“ (Constantin Goschler). Einen unkonventionelleren Zugang wählt José Brunner, der vorschlägt, „Zeitgeschichte auch als eine Geschichte der Medikalisierung, Psychiatrisierung und Psychologisierung des Unglücklichseins im 20. Jahrhundert zu betreiben“ (S. 221). Schon in seiner kurzen Skizze entsteht eine anregende Verbindung von Gewalt-, Wissenschafts-, Diskurs-, Körper- und Emotionsgeschichte. Damit schließt sich der Kreis zum Eröffnungsvortrag von Fritz Stern, der nach der Bedeutung von Angst im 20. Jahrhundert gefragt hatte (S. 28f.).

Insgesamt erfüllt der Band sein Ziel, die meist „eher punktuelle Behandlung historisch-politischer Problemfelder“ (Hans Mommsen, S. 121) durch Perspektiven größerer Reichweite zu ergänzen. Im Vergleich zu früheren Versuchen dieser Art ist es auffällig und nützlich, dass nicht mehr primär die Gegensätze der politischen Systeme die zeitgeschichtliche Forschung strukturieren – so wichtig diese Gegensätze weiterhin sind –, sondern systemübergreifende Fragen nach Ordnungsmodellen, Erinnerungsformen, Utopien, massenmedialen und anderen prägenden Konstellationen. Natürlich kann ein solcher Sammelband dabei nicht alle relevanten Aspekte gleichermaßen abdecken; unterbelichtet erscheinen mir etwa Fragen der Ökonomie und der sozialen Ungleichheit. Hockerts’ Plädoyer für „eine gewisse Robustheit der politik-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Methodologie“ bleibt bedenkenswert (S. 94f.).

Noch wichtiger ist vielleicht ein anderer Aspekt: Innovationen der zeitgeschichtlichen wie auch der gesamten historischen Forschung haben sich oftmals an den Rändern des Etablierten vollzogen, zum Beispiel in der Umwelt-, Geschlechter-, Migrations-, Medizin- oder Fotogeschichte. Am Anfang der Untersuchung standen hier keine festen Begriffe oder Paradigmen, sondern die wissenschaftliche Neugier, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben. Eine solche Lust am Experimentellen, auch mit dem Risiko von Sackgassen und Misserfolgen, scheint in dem Sammelband nur punktuell auf und ist im heutigen Wissenschaftsbetrieb schwer zu verwirklichen, wäre dem Jena Center, das in den gut zwei Jahren seines Bestehens schon einige wichtige Impulse geben konnte, aber noch verstärkt zu wünschen. Dies wäre auch ganz im Sinne Schillers, der in seiner Antrittsvorlesung die „edle Ungeduld“ als einen wesentlichen Charakterzug des „philosophischen Kopfes“ rühmte – während es dem „Brotgelehrten“ bloß um „Ehrenstellen“ und „fremde Anerkennung“ gehe.3

Anmerkungen:
1 Während die Schiller-Adaption hier ihren guten Sinn hat, findet man in anderen Zusammenhängen Variationen der Frage „Was heißt und zu welchem Ende studiert man…?“, die teils beliebig, teils ironisch anmuten. Wie eine Google-Suche zeigt, wird „Universalgeschichte“ zum Beispiel ersetzt durch Kirchenrechtsgeschichte, Europastudien, Universalpragmatik, Informatik, Primzahlgeschichte oder Materialwissenschaften.
2 Siehe dazu demnächst: Vowinckel, Annette, Zeitgeschichte und Kulturwissenschaft, erscheint in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007).
3 Vgl. Rüsen, Jörn, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaften? [2000], in: ders., Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln 2006, S. 146-155, hier S. 154.

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