S. Nikolow u.a. (Hrsg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen

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Titel
Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Nikolow, Sybilla; Schirrmacher, Arne
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
370 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Igor Polianski, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Potsdam

Die proteusartige Figur des „Populären“ bildet seit einigen Jahren einen gemeinsamen Fluchtpunkt mehrerer wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteter Forschungsagenden. Diese rege Betriebsamkeit an den „Rändern“ des eigenen Kompetenzbereiches hat mit den Bestrebungen der Wissenschaftsgeschichte zu tun, sich selbst des Odiums einer Randdisziplin zu entledigen. Dafür wären umfassende Entwürfe dringend erforderlich und damit eine theoretische Erfassung von Grenzen, Kanten und Außenseiten der Wissenschaft. Denn „was Wissenschaft ist, wird nicht allein an den Orten der wissenschaftlichen Praxis entschieden, sondern auch in der Öffentlichkeit“ (S. 11). Dies ist der Ansatz des von Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher herausgegebenen Bandes.

Die Herausgeber nennen drei mögliche Beschreibungsinstrumente: erstens die von Peter Weingart vorgeschlagene Differenzierung zwischen „Öffentlichkeit der Wissenschaft“ und „Wissenschaft der Öffentlichkeit“ (S. 24); zweitens die von Mitchell G. Ash angeregte wissenschaftsökonomische Konzeptualisierung der Beziehungsgeschichte zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit als eines Austauschs von Ressourcen (S. 26); drittens ein in Anlehnung an Ludwik Fleck entwickeltes Modell der gestuften Öffentlichkeit für die Wissenschaft (S. 27ff.). Damit werden durchaus operationalisierungsfähige Instrumente geboten. Ob diese aber auch dem Innovationsanspruch des Unternehmens angemessen sind, ist zweifelhaft – wird damit doch ein älteres eindimensionales Schichtenschema appliziert, während differenziertere und mitunter mehrdimensional-enthierarchisierte Modelle, wie sie etwa im Bereich der Fachtextlinguistik und Stilkunde bereits vorliegen, nicht diskutiert werden.1

Der Sammelband gliedert sich nach Dimensionen der gegenseitigen Inanspruchnahme von Wissenschaft und Öffentlichkeit. In fünf Rubriken werden jeweils zwei kontrastierende Fälle und ein gemeinsamer Kommentar eines Autorentandems präsentiert; am Ende steht ein „Ausblick“ von Mitchell G. Ash. Etwas zu kurz kommen hingegen die herkömmlichen historiographischen Ordnungskategorien: Regionale Auswahlkriterien und zeitliche Schwerpunktfestlegungen sind nirgendwo erläutert, wechselnde Gesellschaftsordnungen bei der Themenverteilung nicht berücksichtigt und mit Euphemismen wie „Zwischenkriegszeit“ kaschiert.

Im ersten Abschnitt zeichnet Arne Schirrmacher das „Vermittlungssystem der Naturwissenschaften zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik“ am Beispiel der ikonographischen Rekonfigurationen des Atommodells nach. Ob sich damit aber seine These exemplarisch bekräftigen lässt, dass wissenschaftliche Bilder und Begriffe sich erst über eine fachexterne Wissenskommunikation und deren Rückwirkungen auf die Wissenschaft formieren und verfestigen (S. 42), bleibt fraglich. Denn in der überzeugend erzählten Geschichte, wie „die Wissenschaftsvermittlung des Atoms behindert wurde“ (S. 41), kommt eben diese Rückwirkungsdimension zu kurz. Auch im Beitrag von Ulrike Thoms, die sich der Etablierung des Kollektivsymbols „Vitamine“ in Deutschland widmet, zeigt sich eine gewisse Aporie zwischen der theoretisch proklamierten Ablehnung des „linearen Modells“ und dem empirischen Befund: „Wissenschaftler machten ihre Forschungen publik. […] durch die Bedingungen der öffentlichen Kommunikation gelangten diese Informationen jedoch vereinfacht, verkürzt, verstümmelt und verdreht an die Öffentlichkeit.“ (S. 90) Rückwirkungen seien dabei als eine „Spirale“ zu verstehen: Die „Verstümmelungen“ hätten die Experten dazu animiert, durch verstärkte Forschung dagegen einzuschreiten. Das ist zwar sehr dialektisch gedacht, aber definitiv nicht im Sinne des in der Einleitung angekündigten Konzepts.

Der zweite Themenblock rückt die „Medien der Wissenschaftskommunikation“ in den Mittelpunkt. In ihrem Aufsatz „Künstlerische und technische Propaganda in der Weimarer Republik. Das Atelier der Brüder Botho und Hans von Römer“ analysiert Anja Casser die komplexen Bild-Text-Beziehungen in populären Zukunfts- und Technikdarstellungen. Die Autorin arbeitet einen für populärwissenschaftliche Visualisierungsstrategien idealtypischen doppelten Darstellungsmodus heraus: Visionäre Forschung wurde in vertraute und alltagsnahe Wahrnehmungsmuster eingebunden, ohne dass sie ihres Imaginationspotentials des Unbekannten beraubt worden wäre. Christina Brandt geht am Beispiel der „Bedeutung der Science-Fiction in den 1970er Jahren für die öffentliche Debatte zum Klonen“ der Frage nach, wie sich Literatur als Ressource in ihrem Doppelbezug zu Öffentlichkeit und Wissenschaft über ein bloßes Reflexionsverhältnis hinaus denken ließe. Ihr besonderes Interesse gilt der Intertextualität und Eigenreferentialität von Literatur.

Im dritten Teil tritt die „Öffentlichkeit als Objekt und Adressat der Wissenschaft“ am Sonderbeispiel der Volkskunde auf. Die Rubrik enthält den einzigen Beitrag des Bandes, in dem die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit für eine realsozialistische Gesellschaft untersucht werden. Cornelia Kühn betrachtet diese Konstellation am Beispiel der DDR als gezielte Mobilisierung einer „politischen Öffentlichkeit“ (S. 198) durch die Wissenschaftler, die zum Preis einer thematischen Einengung und ideologischen Überformung erkauft werden musste. Gerade für die DDR lässt sich die Leitthese des Bandes veranschaulichen, dass an der „Zuschreibung wissenschaftlicher Wahrheit“ nicht nur die Wissenschaftler beteiligt seien, sondern letztlich „die gesamte Gesellschaft“ (Schirrmacher/Thoms, S. 109). Den spezifischen Ort des Populären in einer Weltanschauungsdiktatur problematisiert Kühn allerdings nicht.

Der vierte Abschnitt nimmt epistemische Dissidenten und Alternativentwürfe abseits des akademischen Mainstreams ins Visier. Christine Wessely wirft mit Blick auf den schillernden Fall der „Welteislehre“ die Frage auf, wie das Erfolgsgeheimnis der in der astronomischen Fachöffentlichkeit einhellig als „Phantasterei“ abgewiesenen Theorie eines unbekannten Ingenieurs zu erklären sei. Die Antwort darauf sieht sie erstens im hohen Sinnstiftungspotential der Welteislehre, zweitens in effizienter Mediennutzung und institutioneller Vernetzung der Welteisbewegten und drittens in den seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewandelten Autoritäts- und Vertrauensbeziehungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, die es möglich machten, die Öffentlichkeit „als Koalitionspartner in einem Pakt gegen die Wissenschaft zu gewinnen“ (S. 229). Sybilla Nikolow richtet in ihrem Aufsatz über „Otto Neuraths Bildstatistik als Vehikel zur Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises“ ihr Hauptaugenmerk auf mediale Besonderheiten, die das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und die Visualisierungsmethode der Bildstatistik Neuraths zu „besonders geeigneten Resonanz- und Repräsentationsräumen“ machten (S. 246).

Eine Klammer für die Beiträge im fünften Abschnitt „Werte der Öffentlichkeit, Deutungsangebote der Wissenschaft“ bildet das Paradigma der Eugenik. Sabine Freitag zeichnet am Beispiel der Eugenics Education Society die graduelle Transformation der prinzipiell offenen Wissensbestände hin zu einer mit religiöser Emphase verinnerlichten Wirklichkeit nach. Anders als in Großbritannien, wo sich laut Freitag unter anderem die katholische Teilöffentlichkeit gegen die Eugenik auflehnte, formierten sich im Österreich der 1930er-Jahre katholische Netzwerke, die zu Multiplikatoren des eugenischen Wissens avancierten, da sie so eine Chance für die „Rekatholisierung“ sahen. Monika Löscher beschreibt dieses katholisch-eugenische Programm als eine Art Rassenhygiene „light“, die angeblich „im scharfen Gegensatz zur nationalsozialistischen Erb- und Rassenpflege gesehen wurde“ (S. 325). In der gemeinsamen Abschlussdiskussion wird die Bedeutung der Vereine erörtert, aber leider weder die im Fall der Eugenik herausragende Rolle der politischen Öffentlichkeit eigens diskutiert noch der augenfällige Unterschied zwischen katholischer Eugenikrezeption in Großbritannien und Österreich.

Am Ende des Buchs steht eine Art Binnenrezension von Mitchell G. Ash. In den Ergebnissen der Einzelstudien sieht er sein Konzept der Beziehungen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeiten als Ressourcen füreinander einmal mehr bestätigt. Vielversprechend bezieht sich Ash auf Ian Hackings umstrittene Schrift „The Social Construction of What?“ (Cambridge 1999). Leider bleibt es bei einer beiläufigen Referenz. Gerade weil das nicht nur im vorliegenden Sammelwerk mit großem Engagement vermittelte Bild eines „Beziehungsgeflechts“ in seiner kollektivsymbolischen Eindringlichkeit kaum zu überbieten ist, erscheint die Erwähnung Hackings aber kennzeichnend. Es ist auffällig, dass Ash ausgerechnet mit denjenigen Aspekten des von ihm so genannten „Beziehungsgeflechts“ aus Wissenschaft und Öffentlichkeit nichts anfangen kann, wo dieses in akuter politischer Brisanz auftritt. Offenbar liegt dies daran, dass eine Kontrastierung der Verhältnisse in Diktatur und Demokratie die „Integrität“ von Wissenschaft als einer historischen, variablen Größe problematisieren würde, während es sein erklärtes Anliegen ist, diese Integrität und Autonomie grundsätzlich in Frage zu stellen (S. 351).

Eine solche Enthistorisierung prägt auch einige Einzelbeiträge. Während andere Gesellschaftssysteme wie etwa Literatur oder Religion auch in ihrer Eigendynamik und Selbstreferentialität analysiert werden, wird diese Perspektive gerade auf die Wissenschaft zumeist nur implizit eingenommen. So zeigen sich Schwächen des Bandes vor allem dort, wo die Fallstudien sich zu eng an den theoretischen Rahmen der Herausgeber binden und sich elaborierteren Theorieangeboten verschließen.

Für den deutschen Sprachraum sei etwa auf den 2005 erschienenen Band „Popularisierung und Popularität“ verwiesen, der den Autorinnen und Autoren von „Wissenschaft und Öffentlichkeit…“ entgangen zu sein scheint, obwohl er auf einer bereits 2003 veranstalteten Tagung des Forschungskollegs „Medien und kulturelle Kommunikation“ basiert.2 Die meisten Beiträge jenes Buches gehen von system-, modernisierungs- oder medientheoretischen Positionen aus, die sich gerade für den „Ort der Differenz Populärwissenschaft“ als produktiv erweisen. Diese Perspektiven rücken unter anderem die Semantik des Populären in den Mittelpunkt, die im vorliegenden Sammelwerk kein Thema ist, und sie erlauben es, den gänzlich ausgeschlossenen Wissenschaftsjournalismus als eine neuartige Beobachterposition im öffentlichen Raum des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten.3

Trotz dieses Plädoyers für etwas mehr theoretische Pluralität sei die bedeutende Gesamtleistung des Sammelbands hervorgehoben, anhand einer Vielzahl mitunter hervorragender Einzelbeiträge die moderne Beziehungsgeschichte von Wissenschaft und Öffentlichkeit für den deutschsprachigen Raum ausgebreitet und analysiert zu haben. Punktuell werden zentrale Sinnbezirke an der Grenze zwischen den beiden Sphären erschlossen und naturwissenschaftlich fundierte Kollektivsymbole wie „Klon“ oder „Vitamin“ in ihrer Genese erfasst. Zu den besonderen Stärken des Bandes gehört auch, dass dessen breite empirische Basis neben populären Diskursen die oft vernachlässigten Sehschulen und literarischen Aneignungen von Wissenschaft einschließt.

Anmerkungen:
1 Einen Überblick dazu bietet zum Beispiel Niederhauser, Jürg, Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung, Tübingen 1999.
2 Blaseio, Gereon; Pompe, Hedwig; Ruchatz, Jens (Hrsg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005.
3 Vgl. Kohring, Matthias, Die Funktion des Wissenschaftsjournalismus. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1997.

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