C. Unger: Ostforschung in Westdeutschland

Cover
Titel
Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945-1975


Autor(en)
Unger, Corinna R.
Reihe
Zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Studien 1
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
497 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Guth, Historisches Institut, Universität Bern

Wie wissenschaftliche Forschung mit politischen Interessen korrespondiert, lässt sich am Beispiel der deutschen Ostforschung anschaulich nachvollziehen. Aus der Ablehnung der Versailler Grenzen hervorgegangen, bemühte sich diese multidisziplinäre Forschungsrichtung zunächst um wissenschaftliche Legitimation revisionistischer Forderungen gegenüber Polen, um sich später in verhängnisvolle Nähe zum nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Osten zu begeben. Nach 1945 verwerteten die Ostforscher ihre Interpretamente in der „geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus“, während sie die methodischen Innovationen der Ostforschung oftmals in ihre angestammten Fachgebieten zurücktransferierten. Letzteres gilt insbesondere für die Historikerzunft, wo einstige Ostforscher neuen Ansätzen wie der Sozial- und der Zeitgeschichte zum Durchbruch verhalfen und dabei zu führenden Fachvertretern aufstiegen.

Es waren diese Verbindungen ins akademische Leben der Bundesrepublik, die der wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung der Ostforschung lange im Wege standen. Zwar verwiesen ostdeutsche und polnische Stimmen schon früh auf entsprechende Kontinuitäten, doch ließ sich solche Kritik meist als Propaganda abtun.1 Erst in den späten 1980er-Jahren weckte Burleighs Studie das Interesse der westlichen Forschung am faustischen Pakt der Ostforscher mit dem Nationalsozialismus.2 Zwar hat sich die im Anschluss daran formulierte Vorstellung, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im Osten akademischer Vordenker zwingend bedurft habe, als überspitzt herausgestellt3; als unbestreitbar erwiesen sich jedoch die nationalsozialistischen Belastungen der beteiligten Disziplinen.4 Einige Jahre absorbierte die völkische Vergangenheit von Fachgrößen wie Theodor Schieder, Werner Conze und Hans Rothfels die investigativen Energien der Historiographiegeschichtler, ohne dass die Epochengrenze von 1945 überschritten worden wäre. Erst anschließend wandte sich das Interesse der Frage zu, wie die Prägung aus Zeiten der „kämpfenden Wissenschaft“ in den intellektuellen Nachkriegsbiographien dieser Forscher fortwirkte. Inzwischen liegen entsprechende Studien zu Werner Conze, Hans Rothfels und Hermann Aubin vor.5 Während so die personellen und methodischen Verbindungslinien der Ostforschung in die deutsche Sozial- und Zeitgeschichte mittlerweile als weitgehend erforscht gelten dürfen, hat ihr disziplinäres und konzeptionelles Erbe in der bundesdeutschen Osteuropaforschung bisher vergleichsweise wenig Beachtung gefunden.6 In diese Forschungslücke stößt nun Corinna Ungers Studie zur Ostforschung in Westdeutschland vor.

Ins Zentrum ihrer Untersuchung stellt Unger die Frage, wie sich der Systemwechsel von der nationalsozialistischen Diktatur zur bundesdeutschen Demokratie und der Kalte Krieg auf die Entwicklung der Ostforschung auswirkten (S. 20). Dabei stützt sie sich auf umfangreiches Quellenmaterial aus nicht weniger als 25 deutschen und nordamerikanischen Archiven. Zum Angelpunkt ihrer Untersuchung macht sie die Förderungspolitik der Deutschen Forschungsgemeinschaft gegenüber der Ostforschung, wodurch das Thema eine gewisse Begrenzung erfährt, über die die Autorin allerdings wiederholt hinausgreift.

Ungers Arbeit ist chronologisch angelegt. Einleitend resümiert sie die Entwicklung der Ostforschung bis 1945 und wiederholt dabei bekannte Urteile: Das Fach habe deutsche Suprematsthesen durch „diskursive Konstruktion eines minderwertigen Gegenüber“ gestützt, Szenarien „existentieller Bedrohung und völkischer Selbstverteidigung“ entworfen und auf dieser Grundlage seine wissenschaftliche Aktivität eng mit nationalpolitischen Zielsetzungen verbunden. Im Nationalsozialismus sei die Ostforschung endgültig zur „praktischen Wissenschaft“ geworden, „welche die Vernichtungspolitik in Ostmittel- und Osteuropa unterstützte und mitermöglichte“ (S. 78-81). Die Neuauflage der Ostmitteleuropaforschung in der frühen Bundesrepublik beschreibt Unger als „Entradikalisierung und Repolitisierung“ im Zeichen der Blockkonfrontation (S. 425). Dabei konnten die Ostforscher auf tradierte Grenzvorstellungen zurückgreifen: Erneut erschien Zentraleuropa als Kulturscheide zwischen westlicher Gesittung und östlicher Barbarei. Dieser Gegensatz wurde allerdings seiner nationalistisch-rassistischen Färbung entkleidet und präsentierte sich nunmehr ausschließlich als Gegensatz von Demokratie und Bolschewismus. Im Zuge dessen wich auch der feindselige Blick auf Polen einem vereinnahmenden Habitus, der die kulturelle Zugehörigkeit des Nachbarn zum Abendland betonte und dabei Gelegenheit bot, einstige deutsche Kultureinflüsse vorteilhaft gegen sowjetische Gewaltherrschaft abzusetzen.

Im rasanten Aufschwung der Russland- und Sowjetstudien, der im Zeichen der politiknahen Gegnerforschung erfolgte und 1961 in der Gründung des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus mündete, macht Unger die offensichtlichsten Kontinuitäten zur Zeit vor 1945 aus – ließ sich doch die „Umwidmung des rassistischen nationalsozialistischen Antibolschewismus zum antitotalitären westlichen Antikommunismus des Kalten Krieges“ mit verhältnismäßig geringem semantischem Aufwand bewerkstelligen (S. 276). Ausführlich geht sie sodann auf den Wandel der westdeutschen Ostforschung seit den späten 1950er-Jahren ein. Hatte der Osten bisher fast ausschließlich als kulturelle, gesellschaftliche und ideologische Antithese zum Westen herhalten müssen, so wuchs nach dem Ende des Stalinismus die Bereitschaft, Mittel- und Osteuropa in seiner kulturellen und politischen Eigenwertigkeit und Eigengesetzlichkeit wahrzunehmen. Begünstigt, bisweilen gar erzwungen wurde diese Entwicklung durch den Wandel des gesellschaftlich-politischen Umfelds, der um 1970 in der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition kulminierte und die bundesgeförderte Osteuropaforschung für die Verständigung mit Polen und der Sowjetunion in die Pflicht nahm.

Eine willkommene Horizonterweiterung stellt das letzte Kapitel dar, in dem Unger einen vergleichenden Blick auf die Russland-, Sowjet- und Kommunismusforschung in den USA wirft. Dort war die Disziplin aus der Gegnerforschung im Zweiten Weltkrieg hervorgegangen und legitimierte sich fortan als politikberatende Instanz mit antitotalitärer Mission. Gemessen daran fällt auf, dass die deutsche Osteuropaforschung nach 1945 fast ausschließlich auf wissenschaftliche Legitimation setzte; politische Zielsetzungen, obschon weiterhin vorhanden, waren nach der Erfahrung im Nationalsozialismus in Verruf geraten.

Mit solchen Einsichten vermittelt Unger eine plausible Interpretation der bundesdeutschen Osteuropaforschung. Eine Reihe von Differenzierungen hätte freilich plastischer ausfallen dürfen: So blickt die Autorin kaum unter das interdisziplinäre Dach der Ostforschung und unterscheidet nur unzulänglich zwischen den beteiligten Fächern. Vage bleibt bisweilen auch die Scheidung zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung, obschon sie für das wissenschaftliche Selbstverständnis der Forscher zweifellos prägende Bedeutung hatte. Zu wenig Aufmerksamkeit schenkt Unger schließlich dem Verhältnis von erklärten Zielen und tatsächlichen Erträgen der Ostforschung – während erstere ausführlich dargestellt werden, finden letztere nur wenig Beachtung. Dass Unger die polnischen, ostdeutschen und sowjetischen Gegenspieler der Ostforschung gänzlich ausspart, erschwert bisweilen die Rekonstruktion der diskursiven Zusammenhänge, in denen ihre Protagonisten argumentierten; forschungspraktisch ist dieser Verzicht freilich nur allzu verständlich. Daher ist das Desiderat, den west-östlichen Wissenschaftlerdiskurs im 20. Jahrhundert endlich auch über die Blockgrenzen hinweg zu verfolgen, denn auch weniger eine Kritik an Unger als vielmehr eine Anregung für die weitere Forschung.

So lässt Ungers Arbeit innerhalb und außerhalb ihrer thematischen Grenzen zweifellos Raum für vertiefende und ergänzende Studien.7 Einstweilen überwiegt indes die Genugtuung darüber, dass die Autorin in ihrer quellenintensiven, sorgfältig urteilenden und gut lesbaren Studie das weite Feld der bundesdeutschen Ostforschung erstmals verlässlich kartographiert hat.

Anmerkungen:
1 Beispiele der ostdeutschen, polnischen und sowjetischen Auseinandersetzung mit der Ostforschung bibliographiert Mühle, Eduard, 'Ostforschung'. Beobachtungen zum Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46 (1997), S. 317-350, hier S. 321f, Anm. 9-12.
2 Burleigh, Michael, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988.
3 Aly, Götz; Heim, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.
4 Oberkrome, Willi, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Fahlbusch, Michael, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die "Volksdeutsche Forschungsgemeinschaft" von 1931-1945, Baden-Baden 1999; Haar, Ingo, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000.
5 Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005; Mühle, Eduard, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005.
6 Dazu ein Kapitel bei Burleigh, Ostforschung, S. 300-321; aktueller die Skizze von Mühle, Ostforschung. Sehr aufschlussreich Hackmann, Jörg, "An einem neuen Anfang der Ostforschung". Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistoriographie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 232-258.
7 Einige entsprechende Dissertationen sind in Vorbereitung: Thekla Kleindienst (Rostock) beschäftigt sich vertieft mit dem Umbau der deutschen Osteuropaforschung um 1970, Eike Eckert (Berlin) verfasst eine wissenschaftliche Biographe des Polenhistorikers Gotthold Rhode, und Stefan Guth (Bern) untersucht die wissenschaftliche Interaktion deutscher und polnischer Historiker im Rahmen gemeinsamer Konferenzen und Kommissionen von den 1930er- bis in die 1970er-Jahre.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension