H. Schnabel-Schüle u.a. (Hrsg.): Herrschaftswechsel

Titel
Fremde Herrscher - fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa


Herausgeber
Schnabel-Schüle, Helga; Gestrich, Andreas
Reihe
Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 1
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackmann, Historisches Institut für osteuropäische Geschichte, Universität Greifswald / University of Chicago

Herrschaftswechsel sind in der europäischen Geschichte zweifelsohne keine Besonderheit. Seit der Sattelzeit, so ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes, der aus einem Teilprojekt des Trierer SFB zu „Armut und Fremdheit“ hervorgegangen ist, wechseln sie jedoch ihre Qualität und verbinden sich mit Legitimitäts- und Illegitimitätsdiskursen, die um den Begriff der Fremdherrschaft zentriert sind. Was aus dem in der Regel nationalgeschichtlich geprägten Rückblick auf die Herrschaftswechsel um 1800 eindeutig erscheint, wird bei näherem Hinsehen jedoch vielschichtiger: Zuschreibungen von Fremdheit waren hier noch keineswegs national verfestigt und wurden überlagert von Anpassungsstrategien sowohl der sozialen Eliten wie der Bevölkerung insgesamt an die neue, „fremde“ Herrschaft als auch umgekehrt. Fragen nach dem konkreten Vollzug von Herrschaftswechseln und nach Bestrebungen, Akzeptanz für die neuen Verhältnisse zu erzielen, sowie nach dem Verhältnis von neuen zu alten Eliten, so betonen die Herausgeber, bieten sich an, um zentrale Entwicklungslinien der modernen europäischen Geschichte zu analysieren.

Der Band enthält neben zwei einleitenden Beiträgen Studien vor allem zu zwei Problemkreisen: zu Herrschaftswechseln in Deutschland nach dem Ende des Alten Reichs sowie in Polen von den Teilungen bis zur Situation im Königreich Polen als Teil des Zarenreichs bis 1830. Hinzu kommen zwei weitere Aufsätze zu Böhmen und Neapel-Sizilien.

In ihrem einführenden Beitrag skizziert Helga Schnabel-Schüle den Stellenwert des Herrschaftswechsels als Forschungskategorie. Weder für das Alte Reich noch für den größeren europäischen Kontext sei dieser bislang systematisch betrachtet worden. Zur Analyse von Herrschaftswechseln greift sie die Herrschaftslehre Max Webers auf, die in unterschiedlichen Ausprägungen viele der Beiträge durchzieht. In den Herrscherwechseln wird Legitimität zu einem zentralen Problem, und im Umfeld der napoleonischen Umwälzungen lassen sich alle drei Typen legitimer Herrschaft antreffen. Wenn sich in der Folgezeit die rationale Legitimierung durchsetzte, so wird in den einzelnen Beiträgen jedoch auch deutlich, dass selbst unter napoleonischer Herrschaft traditionale Begründungsdiskurse anzutreffen waren. Der Diskurscharakter der rationalen Legitimation zeichnet sich plastisch in der preußischen Polenpolitik ab, die nach 1772 auf historische Herrschaftsbegründungen verzichtete und stattdessen auf den Fortschritt preußischer Herrschaft abhob. Als weiteren Aspekt schneidet Schnabel-Schüle zudem das Verhältnis zwischen neuer Herrschaft und fortbestehenden Institutionen wie Kirche und Militär an. Christian Koller analysiert die Begriffsgeschichte von „Fremdherrschaft“ und hält fest, dass sich der Begriff nach der napoleonischen Ära in Deutschland verfestigt hat. Zusammen mit den allgegenwärtigen Gegenbegriffen von Freiheit und Nationalehre wurde der Begriff der Fremdherrschaft zum Indikator nationalstaatlicher Denkkategorien. Fremdherrschaft wurde allerdings nur auf den europäischen Raum und folglich nicht auf Kolonialherrschaft bezogen.

Von den beiden Schwerpunkten des Buchs bilden die Beiträge zu Herrschaftswechseln in Polen zweifelsohne ein kohärenteres Bild. Boris Olschewski untersucht die preußischen Besitzergreifungspatente von 1772 bis 1795 und stellt zum einen eine semantische Verschiebung von einem Treue- und Schutzverhältnis hin zur vernunftgebotenen Fügung in die neuen Verhältnisse sowie zum anderen seit 1793 den Verzicht auf historische Legitimationskonstruktionen auf preußischer Seite fest. Allerdings lässt Olschewskis Quellenanalyse noch nicht genau erkennen, wo die postulierten neuen Erkenntnisse seines Ansatzes liegen. Jan Kusber bezieht die Frage der Fremdherrschaft auf das polnisch-russische Verhältnis und beleuchtet nicht nur die Rolle Alexanders I. als König von Polen, sondern auch die Rückwirkungen dieser Konstellation auf das Zarenreich. Sinnvoll sind auch seine vergleichenden Hinweise auf die „Finnlandisierung“ als positiv gedeuteten Fall von „Fremdherrschaft“: der Wechsel von der schwedischen zur zarischen Herrschaft wurde als Entwicklungschance für eine eigene politische Identität genutzt. Bernhart Schmitt beleuchtet die Integrationsangebote und -bemühungen des polnischen Adels im Prisma der militärischen Bildungsanstalten Preußens und Habsburgs. Beide Staaten sahen in ihnen ein Instrument zur Förderung von Loyalität unter den politischen Eliten der neuen Untertanen, wobei in Preußen allerdings die multiethnische Struktur anders als in Habsburg nur partiell zur Kenntnis genommen wurde. Claudia Kraft untersucht die Anpassungs- und Abgrenzungsstrategien der militärischen Elite Polens im mehrfachen Herrscherwechsel zu den teilautonomen Gebieten des Herzogtums Warschau und dem zarischen Königreich Polen. Sie arbeitet heraus, dass es weniger allgemeine Sympathien für das revolutionäre Frankreich bzw. eine Abneigung gegen die Teilungsmacht Russland, sondern vielmehr konkrete Karriereplanungen waren, die das Verhalten der polnischen militärischen Eliten prägten. Unter der napoleonischen Herrschaft waren diese Karrieren allerdings berechenbarer als im Königreich Polen. Diese Anpassungsleistungen waren freilich von der außenpolitischen Lage nicht zu trennen. Jürgen Heyde schließlich beleuchtet die polnischen Juden als neue Untertanengruppe im preußischen Staat und stellt die Bestrebungen Friedrichs II. heraus, sie aus den annektierten Gebieten zu vertreiben. Neben der behördlichen Perspektive skizziert Heyde auch die jüdischen Reaktionen auf die preußische Politik in Petitionen und autobiographischen Zeugnissen.

Die Beiträge zum Reich befassen sich mit den linksrheinischen Gebieten, dem Königreich Westfalen sowie Sachsen und Bayern. Im Fall des Königreichs Westfalen sowie des Rheinlands stellt sich zunächst die Frage, ob denn die napoleonische oder die preußische Herrschaft als fremde Herrschaft nach dem Ende des Alten Reichs wahrgenommen wurde. Armin Owzar weist zu Westfalen darauf hin, dass in katholischen Gebieten des neuen Königreichs die französische Herrschaft ab 1807 positiver gesehen wurde als die preußische. Dazu trugen auch Versuche einer bewussten Legitimationsstiftung bei, wie etwa durch die Konstruktion einer neuen nationalen Identität, die letztlich aber an der nicht zu übersehenden Instrumentalisierung durch Napoleon scheiterten. Eine ähnliche Mischform von rationaler und traditionaler Legitimität in der napoleonischen Herrschaft konstatiert Gabriele Clemens für die linksrheinischen Gebiete. Sie betont, dass für die Beamten jener Gebiete die Anpassung an die Herrscherwechsel kein prinzipielles Problem darstellte. Jürgen Herres schließlich hebt in seinem Beitrag zur Etablierung preußischer Herrschaft im Rheinland nach 1815 hervor, dass die preußische Verwaltung einerseits eher als fremd wahrgenommen wurde und dass andererseits von Seiten der preußischen Verwaltung die örtliche Bevölkerung in starkem Maße mit Misstrauen behandelt wurde. Integrationsbemühungen und eine Exklusionspolitik, wie sie im Mischehenstreit seit 1837 deutlich wurde, führten zu einem lange wirkenden Spannungsverhältnis.

Gunda Ulbricht befasst sich detailliert mit der russischen und preußischen Regierung in Sachsen von 1813 bis 1815. Werner Blessing geht in seinem Beitrag, der durch den Verzicht auf Anmerkungen aus dem Rahmen fällt, auf die „innere Staatsbildung“ Bayern zwischen 1815 und 1871 ein und arbeitet heraus, dass sich die zunächst fremde Herrschaft sowohl durch die Einführung einer Verfassung als auch eine bewusst volkstümliche Politik zu legitimieren versuchte.

Werner Daum legt für Neapel-Sizilien dar, dass es durch die napoleonische Herrschaft in Neapel bis 1815 zu gegensätzlichen Entwicklungen kam: Modernisierungsprozesse in Neapel wurden kontrastiert von einer Stabilisierung traditioneller Eliten auf Sizilien. Nach der Vereinigung zum Königreich beider Sizilien entwickelte sich auf Sizilien eine antibourbonische Haltung, die bis zur Nationalstaatsbildung von 1860 tragend war. Miloš Řezník befasst sich zu Böhmen mit den Herrscherwechseln vom 16. bis 18. Jahrhundert und betont, dass der Aspekt der Fremdheit dort erst durch die nationalen Umdeutungen des 19. Jahrhunderts ins Spiel gebracht wurde. Daneben weist er zu Recht darauf hin, dass Fremdheit auch als Exklusionsfigur ständischer Politik zu analysieren wäre, allerdings sieht Řezník dafür in Böhmen keine Anhaltspunkte, denn die neuen Adelsfamilien nach 1618 hätten sich binnen kurzer Zeit bereits in das Land integriert.

Als Fazit bleibt ein zweifellos sinnvoller Forschungsansatz festzuhalten, der auch in breiterer Perspektive, etwa zu Nordost- und Südosteuropa, interessante Ergebnisse verspricht. Denkbar wäre auch eine Einbeziehung des ebenfalls mit einem Herrscherwechsel verbundenen Dekabristenaufstandes gewesen. Insgesamt stehen nicht alle Beiträge auf demselben Qualitätsniveau, aber das ist bei Sammelbänden naturgemäß nicht zu vermeiden. Kritisch anzumerken bleibt, dass die Anordnung der Beiträge etwas unmotiviert wirkt. Eine stärker synthetisierende Klammer um die einzelnen Forschungsperspektiven und -ergebnisse wäre zu wünschen gewesen, aber vielleicht kommt es dazu ja noch im Fortgang des Projektes.